Die palästinensische Hamas stecke zurzeit in einer tiefen Krise. Sie habe "die Beziehungen zu Ägypten verloren". Und der Iran sei damit beschäftigt, in Richtung Westen "ein freundliches Gesicht zu machen". Deshalb glaube er persönlich, dass es nicht im Interesse beider Seiten sei, eine "Eskalation im Gazastreifen zu haben", sagte der Journalist und TV-Moderator David Witzthum im Deutschlandfunk.
Auch die aufgeheizte Stimmung aufseiten der Israelis, geschürt vor allem von den rechten Parteien in der Regierung, sei eher rhetorischer Natur. Denn Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst "bewegt sich ganz, ganz vorsichtig". Letztlich werde der Ruf nach Waffenruhe, der aus der Armee komme, auch die israelische Politik bestimmen, so die Einschätzung Witzthums.
Auslöser der jüngsten Eskalation war die Entführung und Tötung dreier israelischer Jugendlicher und der mutmaßliche Racheakt an dem palästinensischen Teenager, der gestern beerdigt wurde. Dazu sagte Witzthum, er glaube, es sei fast eindeutig, "dass es ein Racheakt war. Wer diese Leute waren, weiß man noch nicht." Aber die Polizei werte Aufnahmen aus Kameras aus. "Und natürlich hoffen wir alle, dass diese Leute vor Gericht gebracht werden."
Ob und wie es zu einer friedlichen Lösung im Nahost-Konflikt kommen könnte, sei "sehr, sehr schwer zu prognostizieren, gerade in dieser Zeit", sagte Witzthum.
Das Interview in voller Länge:
Martin Zagatta: Begleitet von Tausenden Palästinensern ist gestern in Ostjerusalem ein vermutlich aus Rache getöteter Jugendlicher beigesetzt worden. Dabei ist es erneut zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften gekommen. Mitgehört in Tel Aviv hat David Witzthum, israelischer Journalist, vor allem Fernsehmoderator. Herr Witzthum, wie ist das heute Morgen einzuschätzen? Die Agenturen melden, die Situation sei nach wie vor sehr angespannt. Andererseits könnte man ja auch sagen, angesichts der aufgeheizten Stimmung, die da bis gestern da war oder vielleicht auch noch da ist, ist das Ganze vielleicht auch relativ glimpflich abgelaufen gestern?
David Witzthum: Ja, es stimmt. Ich glaube, beide Seiten sind überhaupt nicht interessiert an Eskalation. Ramadan ist jetzt in der islamischen Welt, und wir glauben, die Israelis glauben, dass es heutzutage nicht im Interesse von Hamas liegt, weitere sozusagen Eskalation anzurichten, weil Hamas zurzeit in einer ganz tiefen Krise steckt. Zurzeit hat sie die Beziehungen mit Ägypten verloren, zurzeit ist Iran beschäftigt damit, ein freundliches Gesicht zu machen an den Westen. Und zurzeit macht Abu Mazen (Mahmud Abbas) weiter mit der Sicherheitskooperation mit Israel und nennt es sogar heilig. Deswegen glaube ich, dass es nicht im Interesse von beiden Seiten ist, eine Eskalation im Gazastreifen zu haben.
Die Stimme der Armee wird die Politik bestimmen
Zagatta: Auf der anderen Seite haben wir in den letzten Tagen doch auch ganz eindeutige Töne der israelischen Regierung gehört, auch von Netanjahu, der der Hamas mit Vernichtung gedroht hat. Und in Israel selbst ist die Stimmung ja auch noch ziemlich aufgeheizt wegen der Ermordung von drei jüdisch-israelischen Jugendlichen. Kann er da jetzt so wieder zur Tagesordnung übergehen? Ist das möglich in dieser Situation?
Witzthum: Gleich zur Tagesordnung nicht, aber ich glaube, diese Stimmen waren eher politische Stimmen. Die Armee ist der Meinung, dass zurzeit eher Feuerstillstand durch die Vermittlung von Ägypten zu erreichen ist. Und ich glaube, diese Stimmen von Liebermann, von Bennett, das sind die eher die radikalen rechten Parteien in der Regierung, sind nur rhetorische Dinge, aber nicht die israelische Politik. Netanjahu, glaube ich, bewegt sich ganz, ganz vorsichtig. Ich glaube, die Stimme der Armee wird die Stimme sein - wird auch die israelische Politik bestimmen.
Zagatta: Herr Witzthum, was mich etwas überrascht hat: Wir haben in den letzten Wochen und Monaten aus Israel immer wieder gehört Anschuldigungen an den Westen, weil man doch auf die Hamas zugeht, weil man mit der Hamas reden will. Israel, die Regierung hat gesagt, das kommt für uns nicht in Frage, das ist eine terroristische Organisation, mit der wird nicht gesprochen. Die kann auch nicht in einer Einheitsregierung sein, wie das jetzt passiert ist. Und jetzt hören wir, es gibt da über Ägypten eben doch Verhandlungen mit der Hamas. Wie kommt das in Israel an?
Die Palästinenser haben zurzeit eine technokratische Regierung
Witzthum: Es stimmt, die Hamas ist so eine Organisation, die sozusagen zwei oder drei Beine hat. Ein Bein steckt noch in der revolutionären, der bewaffneten Bewegung, die gegen die Besatzung kämpft und für einen islamischen Staat. Aber das andere Bein ist ein politisches Bein, und dieses Bein versucht zum Beispiel, eine gute Regierung für den Gazastreifen zu haben und auch eine Koalition, gerade weil die Hamas sozusagen in dieser Krise steckt. Und die Frage ist, mit welcher Hamas handeln wir? Noch mit dieser bewaffneten Bewegung, terroristischen Bewegung, oder dem anderen, politischen Teil? Diese Dynamik hatten sehr viele Bewegungen in ihrer Geschichte, aber Israel muss natürlich dringend eine Politik finden, und deswegen ist es noch alles in Bewegung. Die Palästinenser haben zurzeit keine Hamas-Regierung oder Hamas-Fatah-Regierung, sondern eine eher technokratische Regierung. Die Frage ist natürlich, wie es nach der Wahl kommen wird. Das ist eine Frage natürlich für die Zukunft.
Zagatta: Nun ist die Stimmung auf beiden Seiten aufgeheizt nach der Ermordung dieser drei jüdisch-israelischen Jugendlichen und nach dem wahrscheinlichen, sagen wir, Racheakt - darauf deutet ja alles hin -, dass da jetzt auch ein palästinensischer Jugendlicher ermordet wurde. Also auf beiden Seiten Trauer und Wut. Gibt es denn - Israel hat das ja angekündigt, die israelische Führung, gibt es denn mittlerweile eindeutige Beweise, hat man die mittlerweile vorgelegt, dass Hamas hinter der Ermordung dieser drei israelischen Jugendlichen stecken soll?
Witzthum: Wir wissen natürlich noch keine Beweise aus den Ermittlungen, aber ich habe gestern auch mit Korrespondenten gesprochen, die ganz nahe an den Ermittlungen sind. Und ich glaube, es ist fast eindeutig, dass es ein Racheakt war. Wer diese Leute waren, weiß man noch nicht, aber die Polizei hat auch Aufnahmen, Sicherheitsaufnahmen von Kameras, die in der Gegend waren, und natürlich hoffen wir alle, dass diese Leute zum Gericht gebracht werden.
Es wird immer wieder zu Gewaltakten kommen
Zagatta: Wenn Sie heute eine Prognose wagen müssten: Wie wird das jetzt weitergehen in Israel?
Witzthum: Also wissen Sie, bis wir eine Aussicht, eine politische Aussicht haben, einen Horizont für Verhandlungen, für echte politische Verhandlungen zwischen Israel und Palästina, wird es immer wieder zu diesen Gewaltakten und Rache und noch mal Vergeltung kommen. Ich glaube, die Israelis wollen eine bestimmte Lösung, und diese Lösung ist bestimmt eine Lösung von sozusagen Trennung, Trennung zwischen Israel und Palästina. Aber wie wir dahin kommen in diesem, wissen Sie, ganz, ganz unruhigen Nahost - nicht nur in Israel und Palästina, sondern auch zum Beispiel die Stabilität von Jordanien, Syrien ist im Krieg, Libanon in einem Krieg, in Ägypten sind Unruhen und so weiter und so fort - es ist sehr, sehr schwer zu prognostizieren, gerade in dieser Zeit.
Zagatta: David Witzthum war das, israelischer Journalist und Fernsehmoderator in Tel Aviv. Herr Witzthum, ganz herzlichen Dank für diese Einschätzungen, für diese Informationen!
Witzthum: Danke sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.