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Nahost-Konflikt
"Ost-Jerusalem wird immer stärker judaisiert"

Die neue Welle der Gewalt in Israel gehe von einer "verlorenen Generation" junger Palästinenser aus, sagte Tsafrir Cohen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv im DLF. Die Menschen seien frustriert durch alltägliche Erniedrigungen und Perspektivlosigkeit. So werde es Palästinensern etwa immer schwieriger gemacht, nach Ost-Jerusalem einzureisen.

Tsafrir Cohen im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Ausschreitungen in Hebron im Oktober 2015
    Ausschreitungen in Hebron im Oktober 2015 (picture alliance / dpa / Abed Al Hashlamoun)
    In Israel finde eine "Entrechtung der Palästinenser" und eine "fortwährende Besatzung der Palästinensergebiete" statt, sagte Cohen, der die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv leitet. "Es überrascht uns alle nicht, dass jetzt, in einer Zeit, wo es überhaupt keine Visionen gibt, wie dieser Konflikt zu lösen ist; dass die Menschen frustriert sind und durch die alltäglichen Erniedrigungen, die sie erleben, dass es tatsächlich dann zu einer Explosion kommt."
    Solche Erniedrigungen müssten Palästinenser an Checkpoints der israelischen Armee über sich ergehen lassen, sagte Cohen. Es gebe außerdem keine Möglichkeit, eine Wirtschaft zu entwickeln. "Die Stadt Ost-Jerusalem, die die Palästinenser für ihre Hauptstadt erklären wollen, wird immer stärker judaisiert." Für Palästinenser sei es immer schwieriger in dieses Gebiet aus der Westbank einzureisen. Diese Entwicklungen kämen "peu á peu" bei der Bevölkerung an.
    "Präsident Abbas ist einer der einzigen hier in der Region, der versucht zu deeskalisieren", sagte Cohen. "Offensichtlich funktioniert das nicht." Palästinenserpräsident Mahmud Abbas könne nicht noch stärker gegen diesen Aufstand der "verlorenenen Generation" sprechen. Sonst schwäche er seine Position. Der Aufstand sei jedoch keine geplante Intifada. Vielmehr handele es sich um "spontane Attentate", um "Einzelattentäter, die einfach rausgehen und jemanden abstechen".

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Die Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis eskaliert seit fast zwei Wochen und die Zahl der Messerangriffe nimmt stetig zu. Bisher kamen vier Israelis und 25 Palästinenser ums Leben, darunter sieben mutmaßliche Messerangreifer und acht Kinder. Israelis Staatspräsidentin Rivlin warnt davor, den Konflikt zu einem Religionskrieg zu machen, und blickt dabei, so wörtlich in ihrer Mitteilung gestern, in den Abgrund der abgeschlachteten Minderheiten in Syrien und im Irak. - Am Telefon begrüße ich Tsafrir Cohen, Leiter der linksnahen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Guten Morgen, Herr Cohen.
    Tsafrir Cohen: Guten Morgen.
    Dobovisek: Aus den Palästinenser-Gebieten hören wir bereits das Stichwort Intifada. Bahnt sich im Nahen Osten dieser Tage der dritte große Aufstand der Palästinenser an?
    Cohen: Viele sprechen von Intifada unter den sogenannten Experten. Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, wie Volksaufstände stattfinden, wann sie anfangen und ab wann sie eine Intifada sind, und bis wann sind sie einfach ein Aufstieg der Gewalt.
    Dobovisek: Warum häufen sich die Angriffe gerade jetzt?
    Cohen: Wir wissen es nicht genau. Die Zustände in Jerusalem sind seit Langem extrem schwierig und wir haben es eigentlich damit zu tun, mit einer Situation der Entrechtung der Palästinenser auf der einen Seite und eines Versuchs seitens der israelischen Regierung und Israels, eigentlich weiter so zu leben wie gehabt, und das kommt irgendwann mal zusammen. Das Problem, das wir im Hintergrund haben, ist die Entrechtung der Palästinenser und die fortwährende Besatzung der Palästinenser-Gebiete.
    Dobovisek: Das kommt irgendwann mal zusammen, sagen Sie. Ist das eine plötzliche Eruption der Gewalt, oder hat es sich im Grunde schon lange abgezeichnet, nur wir, wir in Deutschland zum Beispiel, haben es vor lauter Flüchtlingen, Syrien und Ukraine schlichtweg übersehen?
    Cohen: Erst einmal überrascht es uns alle. Aber es überrascht uns immer, wenn es zu Gewalttätigkeiten kommt. Die Frage ist, was der tatsächliche Hintergrund ist, und ich denke, das überrascht uns alle nicht, dass jetzt in einer Zeit, wo es überhaupt keine Vision gibt, wie dieser Konflikt zu lösen ist, dass die Menschen frustriert sind durch die alltäglichen Erniedrigungen, die sie erleben, dass es tatsächlich dann zu einer Explosion kommt.
    "Sie können nicht eine Erdbeere exportieren ohne Israels Hilfe"
    Dobovisek: Wie sehen diese Erniedrigungen aus?
    Cohen: Schauen wir uns das einfach an, wie Palästinenser in den besetzten Gebieten leben. Sie können nicht eine Erdbeere exportieren ohne Israels Hilfe. Sie können von einem Ort zum anderen nicht gehen. Die Stadt Ostjerusalem, die die Palästinenser für ihre Hauptstadt erklären wollen, wird immer stärker judaisiert. Es wird immer schwieriger für Menschen aus den besetzten Gebieten, da reinzugehen, das heißt aus der Westbank nach Jerusalem zu kommen, vom Gazastreifen ganz zu schweigen. Das sind ein paar Beispiele der alltäglichen Erniedrigungen an Checkpoints. Die fehlende Möglichkeit, dass eine Wirtschaft sich dort entwickelt in diesen Rahmenbedingungen, das alles kommt peu à peu bei den Leuten an und führt natürlich zu Frustration. Wir sprechen jetzt von einer jungen palästinensischen Generation, die wir die verlorene Generation nennen.
    "Keine geplante Intifada"
    Dobovisek: Wer sind diese palästinensischen Attentäter? Gehören die zu dieser verlorenen Generation?
    Cohen: Ja, sie gehören dazu. Man sieht das. Man sieht auch, dass das keine geplante Intifada oder kein geplanter Aufstand ist. Gestern zum Beispiel gab es fünf Messerattentate im Großraum Jerusalem. Von denen waren drei minderjährig, der eine 13-jährig, ein Mädchen 16-jährig und noch ein Junge 18-jährig.
    Dobovisek: Das bedeutet?
    Cohen: Das bedeutet, dass wir es hier nicht mit einer geplanten Intifada zu tun haben, dass die palästinensische Führung, sprich jemand wie Abbas, nicht in der Lage sind, diese Menschen zu kontrollieren. Das passiert mit Einzelattentätern, die einfach rausgehen und jemand abstechen. Die Tatsache, dass diese Messerstiche auch nicht dazu führen, dass viele Leute ums Leben kommen, Gott sei Dank, hängt damit zusammen, dass das offensichtlich eher spontane Attentate von nicht professionellen Menschen sind, die nicht geübt sind in der Ausführung von Attentaten.
    Dobovisek: Ein Aufstand von unten sozusagen. Wie viel Einfluss hat dann überhaupt noch die palästinensische Führung, um möglicherweise es auch zu stoppen?
    Cohen: Der Präsident Abbas ist einer der einzigen hier in der Region, die versuchen, die Lage zu deeskalieren, und offensichtlich funktioniert das nicht. Er spricht die ganze Zeit davon, dass Gewalt nicht der Weg ist, sondern die Internationalisierung des Konfliktes, sprich, dass die Weltgemeinschaft, die sogenannte, tatsächlich Einfluss nimmt und eine Zwei-Staaten-Lösung und damit eine Zukunft für die Palästinenser ermöglichen soll. Das ist aber bislang nicht passiert. Im Gegenteil: Die Palästinenser haben dieses Jahr nur erlebt, dass die internationale Gemeinschaft sie erst einmal hinten anstellen, weil andere Sachen wichtig sind und weil man nicht bereit ist, den Konflikt zu internationalisieren, weil damit man in einen Konflikt gerät mit der israelischen Regierung.
    Dobovisek: Welches starke Signal müsste Abbas an seine eigenen Leute jetzt aussenden?
    Cohen: Das Problem ist, dass Abbas schon jetzt dagegen spricht, wenn er noch stärker gegen diesen Aufstand spricht und keinen Rückhalt in der Bevölkerung bekommt, dass seine eigene Position natürlich geschwächt wird. Das heißt, er kann eigentlich sehr wenig tun, mehr als das, was er jetzt tut.
    "Starke Hysterisierung durch die Medien und durch die wirklich nicht angemessenen Mitteilungen der Regierung"
    Dobovisek: Schauen wir auf die andere Seite. Es gibt auch durchaus eine Radikalisierung unter jüdischen Siedlern, die wir beobachten müssen. Unser Korrespondent in Tel Aviv hat uns letzte Woche erzählt, es gäbe einen nationalistischen Rassismus, für den auch durchaus die Regierung in Jerusalem mitverantwortlich sei. Sehen Sie das ähnlich?
    Cohen: Ja, unbedingt. Die Rechtsradikalen in Israel sind Teilhaber an der Macht. Die Regierung Netanjahu ist von ihnen abhängig. Und die Likud-Partei selber, sprich die Regierungspartei Netanjahus, ist auch von rechten Kräften durchzogen. Sie hetzen auf und haben gleichzeitig keine Lösung für das Problem. Ich gebe Ihnen nur ein paar Beispiele: Zehntausende von Facebook-Einträgen hetzen gegen Palästinenser, sagen "Tod den Arabern". Das gibt es auch auf der anderen Seite übrigens. Aber die Situation ist hysterisiert und die Menschen werden immer weiter hysterisiert durch Medien, die die ganze Zeit im Wiederholungsloup zeigen, wie irgendjemand abgestochen worden ist, durch verschiedene Arten der sozialen Netzwerke, die einfach weiterhetzen. Die Hetze kommt sowohl von oben als auch von der eigenen Bevölkerung über die sozialen Medien. Gleichzeitig spricht ein Bürgermeister von Jerusalem davon, dass alle Männer, die eine Waffe haben, eigentlich die Waffe bei sich tragen sollen. Die Hysterie wirkt und wir haben es hier eigentlich in Israel mit einer sehr gemischten Situation zu tun, in der einerseits die Menschen das Wohlleben in Israel weiterleben wollen. Die Besatzung existiert hier zum Beispiel in Tel Aviv ja nicht. Wir wissen hier nicht, was 40 Minuten mit dem Auto entfernt passiert in den besetzten Palästinenser-Gebieten. Hier sieht es so aus wie in jeder europäischen Stadt. Es passiert nichts. Auf der anderen Seite gibt es eine starke Hysterisierung durch die Medien und durch die wirklich nicht angemessenen Mitteilungen der Regierung.
    Dobovisek: Die Hysterie auf der einen Seite, den Aufstand von unten auf der anderen Seite, und mittendrin eine fehlende Vision. Ist das das Ende der Zwei-Staaten-Lösung?
    Cohen: Das Ende der Zwei-Staaten-Lösung? Noch mal: Wir wissen nicht, wo dieser Punkt erreicht ist. Das Problem, das wir hier haben, ist, dass es immer schwieriger wird. Was wir hier haben, ist eine weitere, immer weiter fortwährende und sich vertiefende Kolonisierung der Westbank, also des größeren Brockens der Palästinenser-Gebiete. Die andere Seite ist ja der Gazastreifen, der ja komplett abgeriegelt ist seit acht Jahren. Und diese vertiefte Kolonisierung bedeutet, dass eine Teilung dieses kleinen Gebietes - wir sprechen hier von 26.000 Quadratkilometer, Israel plus Palästina zusammen, etwa die Größe von Hessen -, dass die Teilung dieses Landes in ein Israel und in ein Palästina immer weniger möglich erscheint und der politische Kraftakt, der vollzogen werden muss, immer größer sein muss. Wir sprechen heute von über 500.000 jüdischen Siedlern in der Westbank und in Ostjerusalem, und das ist problematisch.
    Dobovisek: Wir müssen langsam zum Ende kommen. Vielen Dank für die Eindrücke, die Sie uns schildern, Tsafrir Cohen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Ich danke Ihnen.
    Cohen: Ich danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.