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Nahost-Konflikt
Versöhnung durch Respekt

Sie haben einen Sohn oder eine Tochter verloren. Doch statt sich in Hass und Trauer zu vergraben, engagieren sich Israelis und Palästinenser gemeinsam in der Initiative Parents Circle für mehr Verständigung. Ihre Überzeugung: Dialog ist der einzige Weg zu einem dauerhaften Frieden.

Von Silke Fries |
    Frauen an der Klagemauer in Jerusalem
    "Alles, was ich tun kann, ist sensibel dafür zu machen, dass jeder von uns nur ein Mensch ist" (dpa / picture alliance / Robert Findeis)
    Immer, wenn der Schmerz besonders groß wird, dann sieht sich Rami Elhanan den Film an. Seine Tochter Smadar ist zu sehen, sie spielt Klavier. Rami Elchanan sagt, er denke jede Minute an Smadar – er wacht auf mit dem Gedanken an sie, er schläft damit ein. Smadar ist tot, sie starb mit 14 Jahren, am ersten Tag nach den Sommerferien, am 1. September 1997.
    "Ich war unterwegs zum Flughafen, als meine Frau anrief und sagte, im Zentrum Jerusalems habe es einen Selbstmordanschlag gegeben. Niemand könne unsere Tochter finden. Wir fingen an, sie zu suchen, aber sie war wie ausgelöscht. Du fühlst dich, als ob nach und nach dein Blut gefriert. Du rennst kopflos durch die Straßen, versuchst sie zu finden, rennst von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Polizeistation zu Polizeistation. Erst spät abends sahen wir den Anschlagsort, wir hatten keine Tränen mehr – dieses Bild werde ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen."
    Eine Art Erdbeben in der israelischen Gesellschaft
    Rami Elhanan sagt, der Tod seiner Tochter habe nicht nur seine Familie erschüttert, der Selbstmordanschlag habe auch sein Vertrauen in die Politik zerstört.
    "Der Mord an meiner Tochter war eine Art Erdbeben in der israelischen Gesellschaft. Denn sie war die Enkelin von Matti Pelet, einem der Helden des Unabhängigkeitskrieges von 1948; später wurde er Mitbegründer einer arabisch-jüdischen Partei. Und er war einer der ersten Israelis, der verstanden hat, dass die Existenz Israels nicht abhängt von Panzern und Kampfflugzeugen, sondern von der Fähigkeit, den arabischen Nachbarn die Hand zu reichen.
    Das erste Gefühl nach dem Tod meiner Tochter war Wut, dass die israelische Regierung nicht genug getan hatte, um Frieden zu schaffen. Und dass meine Tochter und ihre Mörder Opfer dieser Politik geworden sind."
    Appell an die Menschlichkeit
    Ein Platz in Tel Aviv. Hier treffen sich die Mitglieder des Parents Circle, jeder hat einen Angehörigen verloren – sei es durch einen Anschlag oder in einem Krieg. Die Stimmung ist derzeit nicht immer gut, wenn sie für eine Zweistaatenlösung und Frieden werben. Ein Absperrgitter trennt die Gruppe von Gegendemonstranten. Robi Demelin kennt das: Sie wurde in Südafrika geboren und ging schon dort für ihre Meinung auf die Straße.
    "Als ich 1967 nach Israel kam, gab es erste zaghafte Annäherungsversuche zwischen Schwarzen und Weißen in Südafrika. Ich hätte aber jeden für verrückt erklärt, der gesagt hätte, die Rassentrennung würde dort eines Tages aufgehoben. Aber ich hab aus der Anti-Apartheidbewegung gelernt: Es gibt Hoffnung.
    Deswegen gehe ich auf die Straße, sonst könnte ich genauso zuhause sitzen und stricken. Ich tu das alles für meinen toten Sohn, aber auch für meine anderen Kinder. Alles, was ich tun kann, ist sensibel dafür zu machen, dass jeder von uns nur ein Mensch ist."
    Ein Mensch wie ihr Sohn David, der Philosophie studierte und 2002 als Offizier zum Reservedienst einberufen wurde. Er starb durch einen palästinensischen Heckenschützen. Hat sie jemals Hass empfunden?
    "Warum? Nein! Mir war schnell bewusst, dass dieser Palästinenser meinen Sohn nicht umgebracht hatte, weil er David war. Wenn er David gekannt hätte, hätte er ihn sicher nicht umgebracht, denn David war Teil der Friedensbewegung.
    Er wurde umgebracht, weil er Repräsentant einer Besatzungsarmee war. Das ist hart für mich zu sagen, aber es ist die Wahrheit. Und wenn man die Aussöhnung mit den Palästinensern will, dann kann diese Wahrheit ganz schön hässlich sein."
    Ihre Wahrheit sucht Robi Demelin seitdem in der Begegnung mit palästinensischen Familien, Familien, die ebenfalls Angehörige verloren haben.
    "Als ich eine palästinensische Mutter traf und in ihre Augen sah, wurde mir klar: Wir empfinden den gleichen Schmerz. Dieser Schmerz macht es möglich, dass wir ein kraftvoller Katalysator sind; Menschen hören uns zu, wenn wir mit der gleichen Stimme sprechen. Ich gebe meine ganze Energie, damit wir ein Gerüst bauen können für einen Versöhnungsprozess."
    Der Wunsch nach Versöhnung
    Versöhnung ist auch der Wunsch von Anat Marnin – die Tanztherapeutin verlor ihre zwei Brüder, beide fielen am selben Tag im Krieg von 1973, einer an der syrischen, einer an der ägyptischen Grenze.
    "Bis ich selbst Mutter wurde, habe ich mich mit meinem Schmerz abgekapselt und war allein mit meiner Trauer. Erst als ich selbst Kinder hatte, begann ich, nach Lösungen zu suchen. Nach dem Tod meiner Brüder aber protestierte meine Familie gegen den Krieg. Schon meiner Mutter war es sehr wichtig zu sagen, dass das Opfer, das sie gebracht hat – ihre zwei Söhne, nicht umsonst gebracht worden sein soll. Bis zum Schluss hat sie gehofft, dass auch die Regierung mehr am Frieden als am Krieg interessiert ist."
    Bis heute, sagt Anat Marnin, fühle sie sich als kleine Schwester ihrer zwei toten Brüder, auch wenn sie mittlerweile 53 Jahre alt ist. Und auch wenn sie derzeit das Gefühl hat, die Zeiten seien schlecht für Friedensaktivisten, will sie weitermachen.
    "Dialog ist der einzige Weg, der hier im Nahen Osten gegangen werden kann. Ohne miteinander zu sprechen, werden wir hier gar nichts lösen. Und ich bin mir sicher: Auch im Gazastreifen gibt es genug Menschen, die in Freiheit und unter guten Bedingungen leben wollen. Und ich glaube, auch sie werden bereit sein zu einem Dialog."
    Auch Rami Elhanan führt seit dem Tod seiner Tochter jeden Tag Gespräche – in Schulen, auf Demonstrationen, im Radio. Er diskutiert mit früheren Attentätern im Westjordanland und mit Israelis – auch, wenn viele seine Sicht nicht teilen. Elhanans bester Freund ist mittlerweile ein Palästinenser.
    "Bassam Aramin war ein PLO-Terrorist, er war sieben Jahre in israelischen Gefängnissen und ich nenne ihn meinen Bruder. Wir wurden beste Freunde, und am 16. Januar 2007 wurde Bassams zehn Jahre alte Tochter von einem israelischen Grenzpolizisten in den Kopf geschossen. Und wir saßen gemeinsam drei Tage lang an ihrem Krankenhausbett. Als sie starb, war es, als würde ich erneut meine Tochter verlieren."
    Es seien zu viele Menschen gestorben in den letzten Jahrzehnten. Man müsse Kritik an der israelischen Politik äußern dürfen – auch in Deutschland. Und das dürfe nicht als Antisemitismus missverstanden werden.
    "Gib Respekt und du wirst auch respektiert werden. Das ist das Schlüsselwort. Und das andere Wort ist Gleichberechtigung. So lange ein Volk ein anderes dominiert, so lange ein Volk ein anderes regiert und demütigt, so lange wird es Widerstand geben. Und der Widerstand wird Blutvergießen nach sich ziehen. Ein Volk von vier Millionen Menschen zu unterdrückt und seiner demokratischen Rechte zu beschneiden, ist ein Verbrechen. Und gegen dieses Verbrechen zu sein, ist kein Antisemitismus."