Die Fähigkeit zum Kompromiss sei auf beiden Seiten offensichtlich nicht gegeben, sagte Dreßler. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu habe sich durch eine Koalition mit der ultranationalistischen Partei von Außenminister Lieberman festgelegt, die einen Friedensvertrag ablehne.
Auch die radikal-islamische Palästinenserorganisation Hamas wolle keinen Friedensvertrag, erklärte Dreßler. Dennoch müsse man auch international immer wieder versuchen, die Verhandlungen für friedliche Lösungen zu unterstützen. Die Erfahrungen im Nahostkonflikt hätten gezeigt, dass sich die Stimmungen schnell ändern könnten. "Was heute unmöglich scheint, kann morgen Realität sein", dies habe man in der Region immer wieder erleben können, sagte Dreßler.
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Die Reflexe haben Bestand. Diesmal war der Auslöser ein anderer: der Mord an den drei entführten Talmud-Schülern nahe Hebron, dann der Mord an dem jungen 16jährigen Palästinenser. Eine wochenlange Suchaktion wurde begleitet mit massiven Raketeneinsätzen von beiden Seiten, von der Hamas, von den israelischen Militärs. Einige Raketenteile haben offenbar das deutsche Kreuzfahrtschiff Aida beschädigt. Gewalt antwortet Gewalt im Nahen Osten – unser Thema nun mit SPD-Politiker Rudolf Dreßler, früher deutscher Botschafter in Israel. Guten Tag.
Rudolf Dreßler: Guten Tag!
Müller: Herr Dreßler, hört das nie auf?
Dreßler: Ja. Das sieht leider so aus, dass es nie aufhört, weil die Fähigkeit zum Kompromiss auf beiden Seiten auch im Entstehen solcher schlimmen Entwicklungen wohl offensichtlich nicht gegeben ist. Der ehemalige Außenminister in Israel, Abba Eban, hat mal den Satz gesagt, sie haben nie eine Gelegenheit versäumt, eine Gelegenheit zu versäumen, und das trifft wohl auf beide Seiten zu, obwohl Abba Eban damit nur die Palästinenser damals gemeint hatte.
Müller: Und es gibt auch viel zu viele Verantwortliche, als dass man sagen könnte, der ist verantwortlich?
Dreßler: So ungefähr ist das, zumal wenn eine Koalition, wie jetzt im Falle Netanjahu und Lieberman, zusammenarbeitet, von der man weiß, definitiv weiß, dass sie in Wahrheit einen Friedensvertrag, eine Einigung mit den Palästinensern gar nicht will.
"Glückssache, dass kein Mensch getötet wurde"
Müller: Und das wissen Sie von der anderen Seite auch?
Dreßler: Die Hamas will auch keine Einigung. Der jetzige Präsident Abbas würde sie wohl wollen, aber solange er mit der Hamas zusammenarbeiten muss, oder arbeitet, wird es keine Einigung geben, weil die Hamas jede Art von Beruhigung in diesem Konflikt durch Eskalierungen versucht, zunichtezumachen, was ja auch jetzt im aktuellen Fall gegeben ist. Wenn ich alleine am Montag, also gestern, davon ausgehe, dass 80 Raketen aus dem Gazabereich auf Israel gezählt worden sind, dann ist es ja faktisch nur eine Glückssache, dass kein Mensch getötet wurde.
Müller: Und wenn man stärker ist, muss man mehrere Hundert zurückfeuern?
Dreßler: Das ist wohl sicherlich nicht der Fall. Nur man muss wissen, dass die Israelis, einer parlamentarischen Demokratienorm folgend natürlich nicht zulassen, dass ihr Land, ihre Bürger existenziell gefährdet werden, und dann werden sie zurückschlagen, und zwar auf eine Art und Weise, die um ein Vielfaches mehr Schaden anrichtet, als bei ihnen angerichtet wurde. Das weiß natürlich auch der palästinensische Bereich. Trotzdem machen sie es, weil sie nur in der Eskalation ihre Daseinsberechtigung finden.
Müller: Sie waren viele Jahre ja Botschafter in Israel, Rudolf Dreßler, und verfolgen seitdem ja auch täglich die aktuelle Entwicklung. Sie haben nach wie vor viele Kontakte. Als Mahmud Abbas, der Palästinenserpräsident, jetzt vor wenigen Monaten gesagt hat, ich arbeite jetzt mit der Hamas zusammen, war das sehr umstritten in vielen politischen Kreisen und Beobachterkreisen - bei Netanjahu allemal, aber selbst in Washington. War das ein großer Fehler?
Dreßler: Ich kann nicht erkennen, dass das zunächst mal ein großer Fehler war, weil die israelische Seite nicht mit zwei Seiten eine Vereinbarung machen kann. Man stelle sich nur einen Augenblick vor, sie würde mit Abbas einen Friedensvertrag verhandeln, ihn zum Erfolg führen und gleichzeitig mit Gaza in eine kriegerische Auseinandersetzung treten müssen. Dieses ist, wenn man das Land, die Region und die Mentalitäten kennt, nicht denkbar.
Tatsache ist, dass ein solcher Versuch von Abbas jedenfalls für die Hamas die Chance gegeben hat, friedensverhandlungsfähig zu werden, das heißt zu wollen, dass es einen Friedensvertrag gibt, mit der Anerkennung Israels als selbstständiger Staat. Und genau das hat die Hamas, jedenfalls der militante Teil der Hamas, nicht gewollt, wie sich jetzt gezeigt hat, und diese Erkenntnis muss natürlich Abbas auch mit auf die Reise nehmen. Das bedeutet aber für den gegenwärtigen Konflikt, dass es keinerlei Perspektive für eine friedliche Verständigung in diesem Bereich gibt.
"Netanjahu will eine Beruhigung der Lage in Wahrheit gar nicht"
Müller: Sie sagen, Herr Dreßler, kein Fehler gewesen, zumindest nicht originär. Benjamin Netanjahu hat seitdem keine Gelegenheit - da sind wir wieder bei den Gelegenheiten - versäumt, zu sagen, mit denen kann ich nicht zusammenarbeiten.
Dreßler: Das war für meine Sicht der Dinge ein gravierender Fehler, weil damit Netanjahu de facto auch mit seinem Außenminister im Gleichklang öffentlich dargestellt hat, dass er einen Vertrag, eine Beruhigung der Lage in Wahrheit gar nicht will. Er weiß, dass dieses Land bedeutet, er muss Land abgeben, und genau das will er in Wahrheit gar nicht. Und das bedeutet, dass der Flickenteppich im Westbank-Bereich, der zu diesen Eskalationen geführt hat, keine Verringerung erfährt, sondern dass die Auseinandersetzung weiter mit dicken Geschwüren anfängt, zu eitern und logischerweise dann auch schmerzhaft auszubrechen.
Müller: Aber vielleicht ist der israelische Regierungschef ja kein Friedensverweigerer, sondern lediglich ein Realist?
Dreßler: Ich glaube, dass der Realismus, bezogen auf seine, ich sage mal, konservative Weltanschauung, sich in eine ganz bestimmte Richtung entwickelt, aber dass es natürlich auch andere Positionen gibt, die nur zurzeit in Israel bei dieser gewalttätigen Auseinandersetzung keine Mehrheit finden. Israel ist eine Demokratie, er hat die Mehrheit bekommen und er hat von seinem Recht Gebrauch gemacht, mit einer Partei in Koalition zu gehen, nämlich mit der Partei von Außenminister Lieberman, von der man weiß, dass sie keine Verständigung will, und damit ist die Position im israelischen Bereich für mich jedenfalls als Außenstehenden ziemlich klar.
Müller: Aber Sie sagen auch, es ist alles rechtens und legitim?
Dreßler: Natürlich ist das rechtens und legitim, nach demokratischen Gepflogenheiten. Aber er könnte ja theoretisch, auch legitim und rechtens, die Koalition mit Lieberman beenden, in eine andere gehen, die zu einer solchen Verständigung sich fähig zeigt. Genau das tut er ja nicht. Er bleibt mit Lieberman, obwohl dieser parteipolitisch die Koalition bereits verlassen hat, aber mit seinen Ministern im Amt bleibt, um weiter Druck auszuüben, und das ist eine, wie ich finde, jedenfalls verheerende Situation in einem solchen Konflikt.
Müller: Ist Siedlungspolitik immer Expansion?
Dreßler: Natürlich ist das Expansion. Wer Siedlungspolitik betreibt, der muss wissen, dass er nicht bereit ist, diese Fläche im Westjordanland aufzugeben für eine autonome palästinensische staatliche Bildung, und solange Netanjahu diese Position vertritt, kann es keinen Erfolg in den Friedensverhandlungen geben.
"Das was heute unmöglich erscheint, kann morgen plötzlich Realität sein"
Müller: Bleiben wir, Rudolf Dreßler, bei der Demokratie. Siedlungspolitik - wäre das innenpolitisch mittelfristig durchsetzbar, auf diesen Siedlungsbau zu verzichten, um zu sagen, wir müssen mit dem auskommen, was wir haben?
Dreßler: Nach meinem Eindruck war die israelische Bevölkerung in ihrer Mehrheit dazu bereit. Aber durch den sich immer weiter verschärfenden Konflikt und neu entzündenden Konflikt ist zurzeit diese Mehrheit auch nicht gegeben. Aber ich habe gelernt in Israel, dass die Veränderung in gesellschaftlichen Prozessen viel schneller vor sich geht als etwa in Bereichen Mitteleuropas, siehe der Bundesrepublik Deutschland.
Müller: Wir werden ja auch hier in den Medien immer nervös, wenn der amerikanische Außenminister beispielsweise in den Nahen Osten reist. Dann gibt es immer Hoffnungen, es gibt immer eine Berichterstattung, viele Details werden auch bekannt und analysiert und kommentiert. Ist das aber inzwischen so, dass selbst Washington sich sämtliche Bemühungen sparen kann?
Dreßler: Ich glaube nicht, dass man sie sich sparen sollte. Das können sich die Amerikaner auch gar nicht leisten, weil sie einen zusätzlichen Konflikt, der eskaliert, auch nicht beherrschen können. Deshalb sind sie natürlich daran interessiert. Aber die Amerikaner wissen, genau wie diejenigen, die sich im Nahen Osten ein wenig auskennen: Das was heute unmöglich erscheint, kann morgen plötzlich Realität sein, und genau unter diesem Gesichtspunkt muss man immer wieder neu versuchen, die Verhandlungen für friedliche Lösungen zu unterstützen.
Müller: Wir reden über den Nahen Osten ja häufig inzwischen etwas verbreitert, was jetzt den Horizont anbetrifft. Da gehört der Irak dazu, da gehört Syrien dazu, da gehört die Isis seit ein paar Wochen, paar Monaten dazu, Libyen gehört dazu. Aber ist der klassische Nahostkonflikt, um das so auszudrücken, Israel/Palästina, immer noch der Schlüssel zu allem?
Dreßler: Ich glaube, dass da ein Schlüssel liegt. Wenn dieser Schlüssel nicht zum Türöffner wird, dann wird es weiter rund herum zu solchen eskalierenden, friedenssprengenden Situationsbereichen führen. Aber wenn das im Nahen Osten einer Lösung zugeführt werden könnte, Konjunktiv, dann besteht die Chance, dass das auch dann auf andere Bereiche übergreift.
Müller: Vielen Dank für das Gespräch - hier im Deutschlandfunk der SPD-Politiker Rudolf Dreßler, viele Jahre lang Botschafter in Israel.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.