Zwischen Israel und der Hamas herrscht gegenwärtig (Stand 22.Mai 2021) eine Waffenruhe. Der Blick richtet sich nun nach vorn, und da ergeben sich viele offene Fragen. Einerseits zum politischen Fortgang, aber auch gesellschaftlich, beispielsweise nach den Gewaltszenen in israelischen Städten, die manch einer als bürgerkriegsähnlich bezeichnet hatte. Markus Bickel war viele Jahre Nahost-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", seit 2020 leitet er das Büro der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.
Peter Sawicki: Wir haben es gehört, die zweite Nacht in Folge war es ruhig. Wie stabil ist diese Waffenruhe tatsächlich?
Markus Bickel: Mir scheint, dass sie stabil ist. Dieser kurze Konflikt von elf Tagen zwischen Hamas und Israel hat ja anders als der 2014 zwar auch über 200 Tote gebracht, aber die Eskalation in dem Ausmaß, dass das 50 Tage dauert wie vor sieben Jahren, ist nicht eingesetzt. Ich glaube, beide Seiten hatten ein Interesse, diesen Konflikt zu Ende zu führen vor einer weiteren Eskalation, vor noch mehr Toten und noch mehr Zerstörung. Und natürlich war auch am Schluss der Druck aus den USA von Joe Biden auf Israels Premier Benjamin Netanjahu so groß, dass er auch ein Einlenken signalisiert hat. Jetzt ist erst mal Ruhe, aber die Geschichte von vier Gaza-Kriegen seit 2008 zeigt, dass möglicherweise der nächste schon in zwei, drei Jahren bevorsteht.
Sawicki: Worauf kommt es denn jetzt an, um zumindest die jetzige Waffenruhe zu stabilisieren?
Bickel: Worauf es jetzt ankommt, ist kurzfristig der Wiederaufbau im Gazastreifen, auch da sind wieder Schäden von Hunderten Millionen entstanden – an Wohnungen, aber auch an Krankenhäusern und Schulen. Da wird wieder wie in den Vorjahren von Katar hauptsächlich Geld ins Land gelassen, aber auch andere arabische Staaten haben angekündigt zu helfen. Das ist aber allerdings eigentlich auch nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein, denn um zu vermeiden, dass es langfristig immer wieder zu neuen Konflikten zwischen der Hamas und Israel kommt, ist eine politische Lösung notwendig. Davon sprechen wir leider schon seit über 30 Jahren. Im Vorbericht kam auch die Forderung nach Zweistaatenlösung auf, das ist alles schön und richtig, aber es braucht dazu immensen internationalen Druck, unter anderem auch auf die israelische Seite, endlich eine politische Lösung herbeizuführen, und eine politische Lösung, die solche Konflikte verhindert, wird es ohne ein Ende der israelischen Besatzung nicht geben können.
Biden Interesse an China und Russland größer als an Nahost
Sawicki: Gibt es denn jetzt Aussichten auf eine neue politische Initiative in Richtung dieser Zweistaatenlösung, die ja für viele schon als beerdigt gegolten hat?
Bickel: Von internationaler Seite erscheint mir das nicht so. Joe Biden hat andere Prioritäten gesetzt, er ist jetzt in diesen Konflikt quasi hineingerutscht und hat da auch erst spät Druck ausgeübt. Er interessiert sich mehr für China und Russland und den pazifischen Raum als für den Nahen Osten. Und die Europäer sind, wie auch nun schon seit 20 Jahren, gespalten. Deutschland vertritt da andere Positionen, als Frankreich oder Spanien das tun, das heißt, der Druck von außen ist gering. Einen Druck von innen hin zu einer Lösung verspüre ich stärker als noch in den Vorjahren von palästinensischer Seite und da, um es vielleicht genauer zu sagen, auch von den Palästinensern in Israel selbst. Das vergisst man ja immer ein bisschen, wenn man über diesen Konflikt spricht, dass es nicht nur die fünf Millionen Palästinenser*innen im Westjordanland, zwei Millionen im Gazastreifen gibt, sondern auch noch zwei Millionen in Israel selbst, die dort eine Minderheit unter neun Millionen Israelis insgesamt leben. Und die machen gerade Druck, dass sie nicht vergessen werden, dass ihr Leben als Bürger*innen zweiter Klasse ein Ende nimmt.
Sawicki: Wie genau äußert sich dieser Druck?
Bickel: Am Dienstag kam es hier zu einem Generalstreik, wo Zehntausende Palästinenser*innen sich angeschlossen haben, sei es auf Demonstrationen und Kundgebungen oder einfach wirklich dem Arbeitsplatz aus politischen Gründen wegzubleiben, wohingegen die …
Sawicki: Was für Arbeitsplätze zum Beispiel, welche Bereiche waren betroffen?
Bickel: Das waren unter anderem Ladenbetreiber, also Geschäfte, Lebensmittelläden, aber auch Lehrer*innen sind nicht zur Schule gegangen. Bei mir im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung sind drei palästinensische Kolleg*innen auch in ihren Städten in Haifa, Jaffa zu Demonstrationen gegangen, um aufmerksam zu machen, dass die Palästinenser*innen sich hier institutionell diskriminiert fühlen und eine Lösung suchen, eine politische, indem zum Beispiel auch Arabisch wieder als Amtssprache anerkannt wird – das ist ja etwas, was vor zwei Jahren abgeschafft wurde.
Mehrheitsbevölkerung erschrocken über Konfliktentwicklungen
Sawicki: Werden diese Stimmen denn überhaupt gehört?
Bickel: Ich hab schon den Eindruck, dass sie gehört werden, natürlich unter dem Vorbehalt, dass das, was wir vielleicht 1995 noch sahen als großes Friedenslager in Israel, wo die Osloer Verträge geschlossen wurden, wo man den Eindruck hatte, da gibt es Hunderttausende oder gar Millionen, die diesen Frieden endlich wollen, sind das schon mittlerweile leise Stimmen geworden. Es sind Randgruppen, auch auf den Demonstrationen hier in Tel Aviv in der letzten Woche, auf denen ich war, waren es eigentlich eher 70 oder 100 Leute, die für gleiche Bürgerrechte für alle Bevölkerungsgruppen sich eingesetzt haben. Das wird gehört, aber es ist nicht sehr laut.
Sawicki: Und wie geht die jüdische Mehrheitsgesellschaft damit um?
Bickel: Die jüdische Mehrheitsbevölkerung, wenn ich sie jetzt über einen Kamm scheren darf, was man natürlich nicht kann, ist, glaube ich, erschrocken über das, was letzte Woche in den Städten, in gemischten Städten wie Nazareth, Haifa oder Akko passiert ist, also Städte, wo sowohl arabische wie jüdische Bewohner Seite an Seite leben und das auch sehr gut getan haben die letzten 70 Jahre, in denen dieses Land besteht. Da gab es pogromartige, lynchmobartige Überfälle sowohl von jüdischer Seite auf arabische Seite wie umgekehrt, und dass das so ausgebrochen ist, das hat viele erschreckt. Dieses Land ist ja wirklich an Gewalt nicht arm, von Intifada und immer neuen Kriegen angefangen, aber diese innerisraelische interkonfessionelle Gewalt zwischen den Religions- und Bevölkerungsgruppen, da ist was passiert, was viele so nie erlebt haben. Aber vielleicht ist es auch ein Weckruf hin zu einer politischen Lösung, wo auch der Staat erkennt, dass es auf Dauer nicht funktioniert, Bürger um ihre Rechte zu bringen.
Sawicki: Das ist ja die Frage, was daraus dann folgen kann. Verschärfen sich da die Fronten zwischen den Bevölkerungsgruppen, oder, wie Sie jetzt die Hoffnung äußern, kann das in irgendeiner Form zu einem Zusammenraufen, zu gesellschaftlichen Initiativen und dann eben zu politischen Reformen führen?
Bickel: Ich glaube, es kann dazu führen. Wir hatten ja kurz vor Beginn dieses Konflikts einen historischen Schulterschluss zwischen jüdischen Parteien und einer arabischen Partei, die eigentlich kurz davorstand, eine neue Regierung zu bilden und damit Netanjahu abzulösen. Das wäre zumindest ein Weg gewesen, dass dieses Schmuddel-Image, was arabischen Parteien in Israel selbst, also israelisch-arabischen Parteien noch angeheftet wird, das zu überwinden. Nun ist der heiße Konflikt vorbei, der von dem Präsidenten mit der Regierungsbildung beauftragte Politiker Lapid hat noch zehn Tage Zeit, eine Regierung zu schmieden. Und wenn Sie nach Hoffnung fragen, dann wäre vielleicht die Hoffnung, dass aus diesem Erschrecken über diese innerisraelische Gewalt hinaus doch noch eine Koalition unter Einschluss von arabischen Parteien zustande kommt. Das wäre auf jeden Fall ein Weg in die richtige Richtung, weil da von oben, von der Politik auch das Zeichen gesetzt würde, dass wir ein Land wollen, in dem die Bevölkerungsgruppen friedlich zusammenleben.
"Es gibt das Fünkchen Hoffnung, es gibt aber auch die Gefahr"
Sawicki: Ist das tatsächlich wahrscheinlicher, dass diese sogenannte Anti-Netanjahu-Koalition noch auf den Weg kommt, oder läuft das dann doch auf Netanjahus Verbleib im Amt oder auf eine fünfte Wahl in zweieinhalb Jahren hinaus?
Bickel: Wissen Sie, ich bin da gerne optimistisch, lasse mich aber hier von meinen israelischen Freunden, Gesprächspartnern auch immer eines Besseren belehren. Vor zwei Wochen sah es so aus, dass es keine fünfte Wahl gibt, dieser Konflikt hat das erst mal verschoben. Es gibt das Fünkchen Hoffnung, es gibt aber auch die Gefahr, dass es tatsächlich eine fünfte Wahl gibt. Und ich glaube, was das dann heißt, wissen wir selbst noch nicht genau. Israel wird immer wieder als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet, aber wenn nun fünf Wahlen nötig sind, um eine stabile Regierung zu bilden, und die wieder nicht in Aussicht ist, beginnt das auch langsam zu einer Staatskrise zu werden. In Zeiten von Staatskrise entsteht ein Machtvakuum, und in dieses Machtvakuum sind vergangene Woche viele dieser jungen Männer eingedrungen und haben Gewalt verbreitet. Um das wieder einzudämmen, muss es auch ein Signal von oben geben, von der Politik, dass wir für einen starken Staat kämpfen mit gleichen Rechten für alle Bürgerinnen und Bürger. Das ist die Hoffnung, aber wie stark die liberalen Kräfte, die demokratischen Kräfte sind, das steht ein bisschen in den Sternen heute nach einem Tag Waffenstillstand.
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