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Nanga Parbat - Wahrheit und Wahn des Alpinismus

Auf einer Rangliste der Extremregionen dieser Erde würden die Gipfel, die in die sogenannte Todeszone über 8000 Meter ragen, den Platz Eins besetzen: Dorthin, wo es an allem mangelt - an Sauerstoff, an Energie, an Nahrung - kann der Mensch nur aus eigener Kraft gelangen. Fahrzeuge sind in dieser Höhe zwecklos: Kleinflugzeuge finden keinen Landeplatz, Hubschrauber keinen Auftrieb. Und zurück, dorthin, wo es wieder Luft zum Atmen gibt und der Verstand wieder die Schritte lenkt, gelangt der Mensch auch nur aus eigener Kraft. Oder gar nicht.

Tobias Gohlis |
    Mit seiner Reportage über den Tod von zwölf Menschen, die 1996 am Mount Everest umkamen, hat der amerikanische Reiseschriftsteller Jon Krakauer den Begriff der Todeszone populär bis zum Stammtischniveau gemacht und der Endlos-Diskussion über Kommerz und Wahnsinn der extremen Höhenbergsteigerei neue Nahrung gegeben. Als Folge von Krakauers Buch-Erfolg brach eine Lawine von Berg- Bekenntnis- und Berg-Erlebnis- und Berg-Bild-Büchern über das Publikum herein, die jeden vernünftigen Zugang zum Thema auf Jahre zu verschütten schien. Deshalb ist es schon ein kleines Wunder, dass gewissermaßen am Ausläufer dieser Lawine ein Buch erschienen ist, das allen Anforderungen, die man an ein kluges Sachbuch hat, auf überragende Weise gerecht wird. Es heißt Nanga Parbat - Wahrheit und Wahn des Alpinismus. In leicht ironischer, unverschnörkelter Sprache erzählt darin Ralf-Peter Märtin die Geschichte des Himalaya-Bergsteigens am Beispiel des Nanga Parbat, der in den zwanziger bis in die fünfziger Jahre als "Schicksalsberg der Deutschen" galt. Denn jede Nation, die eine Kolonie besaß, hatte auch ihren Schicksalsberg - erst recht die Deutschen, die nach 1918 ihrer Kolonien schon wieder verlustig waren. Was den Franzosen die Annapurna und den Engländern der Mount Everest, war den Deutschen der Nanga Parbat.

    Von 1932 bis 1939 starben zehn Bergsteiger und fünfzehn Sherpas bei dem Versuch, diesen als ersten Achttausender für die Deutschen zu erobern. In einer glänzenden Mischung von historischer Reportage, Personenporträt und analytischer Geschichtsbetrachtung zeichnet Märtin nach, wie sich bei jedem "Angriff" "Front" und "Etappe" neu gruppieren mussten, um aus den zuvor gemachten Fehlern zu lernen. Überaus spannend zeichnet er die ideologischen Linien zwischen den eher sportlich-technisch orientierten Bergsteigern nach und denen, die, besessen vom nationalen Wahn, ihren Bergsieg dem Führer widmen wollten. Die Nazis und viele Bergsteiger mit ihnen machten die Eroberung des Nanga zum nationalen Projekt. Geltungssucht, Rivalität und Intrigen beeinflussten ebenso den Gipfelsturm wie das katastrophale Wetter und die bisher kaum bekannten Bedingungen der extremen Höhe.

    Zu diesen gehören nicht nur Eisstürze und Lawinen, Höhenödeme, Halluzinationen und schwerste Erfrierungen, sondern auch der Unterschied zwischen Oben und Unten. So gelang 1953 Hermann Buhl zwar in einem sensationellen 41 Stunden währenden Alleingang ohne Nahrungsmittel, Wasser und Sauerstoff die Erstbesteigung des "Nackten Berges". Aber er zerbrach psychisch an den Demütigungen und der Nichtanerkennung seiner Leistung, die ihm im Tal durch den Expeditionschef Herrligkoffer widerfuhren. Andererseits war es nur die ans Pathologische grenzende Verehrung, die Herrligkoffer für seinen 1934 am Nanga Parbat verunglückten Bruder Willy Merkl empfand, die ihn immer wieder neue Nanga-Parbat-Expeditionen finanzieren und organisieren ließ. Herrligkoffer Wahn ermöglichte nicht nur Hermann Buhl den Weg nach oben, sondern auch den Brüdern Günter und Reinhold Messner.

    Wie nahe Wahn und Wahrheit beieinander liegen, zeigt ihre Geschichte: Sie waren die Ersten, die 1970 den Nanga Parbat über die höchste Steilwand der Welt, die 4500 Meter hohe Rupalwand, bezwangen. Als Günter am Gipfel höhenkrank wurde, blieb ihnen nur der Weg, zur eigenen Rettung auf der gegenüberliegenden fast gänzlich unbekannten Seite abzusteigen und damit - erstmals in der Geschichte - einen Achttausender zu überschreiten. Günter Messner wurde von einer Lawine verschüttet. Trotz unzureichender Hilfe durch die Expedition überlebte Reinhold mit knapper Not. Statt sich zu entschuldigen warf der dauergekränkte Herrligkoffer Reinhold vor, er habe sogar den Bruder seinem Ehrgeiz geopfert. Nicht zuletzt diese Erfahrung mit den Begrenztheiten von Tross und expeditionsähnlicher Organisation ließen Reinhold Messner zum "letzten Bergsteiger" werden, wie Märtin eindrucksvoll herausarbeitet. Messner gelang es 1978, den Nanga Parbat allein und ohne Sauerstoff, mit nur zwei Personen als persönlichem Rückhalt im Tal, zu besteigen und damit die sportlichen, technischen und mentalen Probleme zu bewältigen, an denen 1895 sein Vorbild, der Brite Mummery, eben dort gescheitert war. Mit dieser Leistung waren Höhepunkt und Ende erreicht: auch in die Todeszone mit fairen Mitteln, im Alpinstil vorzudringen. Danach gibt es nur noch unspektakuläres Spezialistentum - und Kommerz.

    Ralf-Peter Märtins Nanga Parbat - Wahrheit und Wahn des Alpinismus hat alles Zeug zu einen modernen Klassiker der Bergliteratur. Voll Verständnis für die Psyche der Bergsteiger, mit Gespür für das groteske Detail und die Gruppendynamik der Seilschaften ist Märtin auch ein Spiegelbild der Größenphantasien gelungen, die das 20.Jahrhundert so furchtbar machten: verzerrt im Eis der Nordwände.