„Alles, was ich hatte, war mein blauer Notizblock. Und die Erinnerung an Annemarie, Annemarie und ihren Schulatlas, und wie wir uns über ihn gebeugt hatten, damals, in ihrer Dachkammer in Graz, wo es nach Mandarinen roch. Wir hatten gesehen, dass Nantes am Meer lag – und das war auch schon alles, was ich, bevor ich in die Stadt kam, über sie wusste.“
Dani merkt schnell, dass Nantes keineswegs am Meer liegt. Und erst auf seinen zahllosen Streifzügen durch die Stadt wird ihm klar, wie sehr ihm Annemarie fehlt.
Der studentischen Welt der Erasmus-Programme entzieht er sich. Lieber verkriecht er sich in Bücher oder denkt an seinen besten Freund in Graz. Dann wieder schreibt er in seinen Notizblock und besucht die Bars der Stadt – wobei es ihm gelingt, von seinen schlechten Französischkenntnissen abzulenken. Mehr noch: Indem er zeittypische Sprachbrocken wie „bizarre“ und „bizarroïde“ in die Gespräche einstreut, schafft er es sogar, dass man ihn für einen Belgier hält.
Der 11. September 2001
Der Schriftsteller Andreas Unterweger lässt seinen Roman im Jahr 2001 spielen. Genauer: Dani steigt just am 11. September 2001 in Nantes aus dem Zug. Nur ist er so erschöpft von der langen Fahrt und so umfangen von seinem Liebeskummer, dass er gleich in einer Fußballkneipe verschwindet und die Ereignisse dieses Tages überhaupt nicht richtig wahrnimmt:
„Hinter den Köpfen und Schultern, an denen ich mich (...) vorbeikämpfte, lief auch in der Pause der Fernseher. Dort sah man durchgeknallte Bilder: ein Flugzeug, dessen Nase, in Zeitlupe, an einem Hochhaus abknickt. Dann: stieg eine Rauchsäule empor. (...) Als ich vom Klo zurückkam, stand um die Bar derselbe aufgeregte, lautstarke Abwehrriegel wie zuvor. Alle redeten, ich verstand keinen. Der Fernseher zeigte keine Filmtrailer mehr, sondern einen Nachrichtensprecher.“
Für Dani fallen beide Ereignisse, 9/11 wie das Ende seiner Beziehung, unter die Kategorie „Dinge, die man sich nie hätte vorstellen können“. Diese Mischung aus Naivität und Selbstbezogenheit ist charakteristisch für ihn. Und sie wird durch die Erzählkonstruktion noch verstärkt. Unterweger dockt seine Hauptfigur nicht einfach an eine Wahrnehmungsgegenwart an, sondern er lässt Dani seine Geschichte aus dem Rückblick erzählen. Wobei es „erzählen“, in einem traditionellen Sinn verstanden, nicht ganz trifft. Vielmehr richten sich Danis Sätze an der Bewegung der Erinnerung aus. So wie das Erinnern nur Bilder und Szenen auswirft, mal auf der Stelle tritt, mal Umwege geht, berichtet Dani in Ausschnitten und Schleifen.
Naivität und Selbstbezogenheit
Als Erzähler seines Jahres in Nantes kann Dani den zeitlichen Abstand und sein gegenwärtiges Wissen nutzen. Er widmet sich etwa den historischen Schichten von Nantes, zeigt, dass die Stadt im 18. Jahrhundert nicht nur ein sehr wichtiger Hafen war, sondern auch ein Zentrum des Sklavenhandels. Zugleich hat er die Möglichkeit, sein früheres Ich zu betrachten, dessen Handlungen zu bewerten und einzuordnen. Doch das gelingt Dani nur halb. Vor lauter Selbstmitleid merkt er in Nantes oft nicht, wie schlecht er Annemarie behandelt hat. Welchen Anteil er selbst an dem Scheitern der Beziehung hatte, scheint sogar der berichtende Dani viele Jahre später noch nicht verstanden zu haben. Aber das ist vielleicht gar nicht das Entscheidende. Was er einmal über eine Romanfigur schreibt, gilt auch für ihn selbst:
„Und wenn er, nicht nur auf den ersten paar Seiten, immer und immer wieder jammerte (...), dann glaubte ich ihm kein Wort. Und doch hätte ich jedes einzelne davon unterschrieben.“
Eine raffinierte Montage
Das Querschneiden von Danis Geschichte mit der gesellschaftlichen Lage nach dem 11. September wirkt bisweilen etwas gewollt. Auch der Versuch, einen Bogen vom historischen Sklavenhandel zur heutigen Situation geflüchteter Menschen zu schlagen, überzeugt nicht immer. Seine große Stärke hat Andreas Unterweger jedoch dort, wo er Danis biographische Suche mit dessen Lektüren kurzschließt und diese Verbindung für die Form des Romans nutzt. Wie schon in seinen Gedichten arbeitet er mit Überschreibungen und Zitaten, die so genau in die Kapitel eingepasst sind, dass man sie manchmal erst beim zweiten oder dritten Lesen bemerkt. Verse von Rimbaud oder Verlaine wandern ein, dazu Sätze von Michel Houellebecq. Aber auch Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ spielt eine Rolle, nicht von ungefähr lautet die Widmung in Bölls Roman „Für Annemarie“. So entsteht eine mal witzig, mal melancholisch eingefärbte Montage. Wenn Dani wieder einmal jammert, glaubt man ihm zwar kein Wort. Aber man würde doch fast jedes davon unterschreiben.
Andreas Unterweger: "So long, Annemarie"
Literaturverlag Droschl, Graz und Wien. 280 Seiten, 24 Euro.
Literaturverlag Droschl, Graz und Wien. 280 Seiten, 24 Euro.