Karasek: Guten Morgen.
Heuer: Sie haben den Film bereits gesehen, wie hat er Ihnen gefallen?
Karasek: Also ich habe den Film natürlich vor allem gesehen als Aufweckung meiner Jugenderinnerungen, ich habe ja gerade meine Autobiografie geschrieben, und fand die Atmosphäre sehr ähnlich wie sie meine Erinnerung gespeichert hat. Allerdings setzt der Film das um in eine Entscheidungsdramaturgie. Ein Boxer muss sich dreimal entscheiden, hat er Mitleid mit dem am Boden Liegenden, wenn er es hat, passt er in die Napola und am Schluss hat er wieder Mitleid und wird dadurch selber niedergeschlagen. Diese Dramaturgie braucht der Film wohl, aber auf dem Weg dahin zeigt er eigentlich doch sehr schön diese Atmosphäre aus Schliff und Austreibung der Menschlichkeit durch eine Schule, die darauf aus war, den Sozialdarwinismus des Stärkeren anzuerziehen.
Heuer: Sie waren auf der Napola Loben, wollten Sie als Kind dahin?
Karasek: Ja, als Kind ist das immer so eine Mischung, auch das zeigt der Film, ich wollte eigentlich nicht hin, aber nicht etwa aus politischen Gründen als Zehnjähriger, sondern weil ich ein Muttersöhnchen war und diese sportlich hartkantige Ausbildung mit einem Schliff von fünf Uhr dreißig am Morgen bis tief in die Nacht bei Nachtgeländespielen und Umziehaktionen, wo man immer in neuer Uniform antreten musste, sehr quälend empfand. Auf der anderen Seite hat man mir damals und ich habe mir auch selber beigebracht, dass es gilt, einen so genannten inneren Schweinehund zu überwinden. Und diese Abrichtung hätte fast geklappt. Ich muss nachträglich sagen, ich war doch sehr froh, dass diese Prüfungszeit nur sehr kurz dauerte, weil man sich doch Gedanken darüber macht, was sonst aus einem geworden wäre.
Heuer: Hat sie die Erziehung in der Napola trotzdem nachhaltig geprägt?
Karasek: Das glaube ich nicht, dazu war sie zu kurz. Dazu gab es anschließend mindestens ebenso nachhaltige Prägungen. Ich war ein Jahr danach überhaupt gar nicht in der Schule, sondern in einem rechtlosen Raum, entweder auf der Flucht oder in Niederschlesien kurz vor der polnischen, vor der Zeit, als die polnische Verwaltung dieses Gebiet übernommen hat. Und das war sozusagen anarchisches Niemandsland, Rechtlosigkeit und das hat mich sicher auch geprägt. Ich habe anschließend in der stalinistischen Zeit am Bernburger Gymnasium, Karl-Marx-Oberschule, das Abitur gemacht und auch das hat mich sicher geprägt. Nur, es ist so, dass man eigentlich an einem solchen Schulweg, der allen Bildungsidealen Hohn spricht und ins Gesicht schlägt, sagen muss, es offenbar doch gelungen, dass ich mir selbst eine Art humanistische Erziehung beigebracht habe.
Heuer: Sie sich selbst. Sie haben gesagt, Sie wollten nicht auf diese Schule, aber Ihre Eltern haben das ja offensichtlich sehr stark gewollt.
Karasek: Naja, man wurde erst mal gezogen, wie man zum Militär gezogen wurde. Warum ich da gezogen wurde, ich hatte ein Schuljahr übersprungen, ich war etwas jünger, ich war weder körperlich noch geistig unwert, diese Schule zu besuchen, ich war arisch und meine Elter waren in der Partei, also das waren viele Voraussetzungen. Aber meine Mutter hat sich danach offensichtlich getraut, meinen Bittbriefen zu entsprechen und ich mich von der Schule zu nehmen.
Heuer: Unmenschlichkeit, Herr Karasek, gibt es mitunter ja auch auf normalen Internaten.
Karasek: Natürlich es gibt Foltergeschichten auch aus deutschen Schulen, wo sich ein Schüler vornehmen und es geht auf englischen public schools sehr, sehr hart zu, von Westpoint, der Kadettenanstalt in Amerika, der Elitekadettenanstalt wird man sicher ähnliches berichten können. Es gilt ja immer in einer solchen Schule, Leute daraufhin abzurichten, dass sie über den blinden Gehorsam das Befehlen lernen und das Problem ist, militärische Ausbildungen, paramilitärische Ausbildungen, Internatsausbildungen dienen immer auch dazu, den Leuten die Todesangst zu nehmen, wie könnte man sonst einen Menschen dahin treiben, sein Leben einzusetzen.
Heuer: Können Sie mal ein Beispiel nennen, wenn Sie davon sprechen, es ging darum die Schüler abzurichten, wie genau ist das geschehen?
Karasek: Also es ist zum Beispiel geschehen, dass wir mitten im Unterricht, wenn der Lehrer mit unseren Leistungen nicht zufrieden war, hat er nicht etwa gesagt, das machen wir noch einmal, sondern hat uns auf den Hof hinaus aus der Unterrichtsstunde getrieben und hat uns über den Sportplatz robben lassen, hat uns durch die Turnhalle gejagt, hat uns von den Leitern mit abgespreizten Beinen hängen lassen, mit dem Schlagholz drunter gefahren. Oder bei Geländespielen hatten wir unsere Leben als rote oder blaue Fäden um den Arm und wenn wir diese Fäden abgerissen bekamen waren wir im Spiel tot von der gegnerischen Gruppe und um diesen Fäden haben wir uns derart verprügelt, dass es einer groben Keilerei gleich kam. Mir hat besonders nachträglich imponiert, wie man eigentlich zum Sadismus erzogen werden sollte. Ich war ein sehr unordentlicher Mensch, am Abend hatte ich meinen Spind nicht richtig gebaut, die Wäsche nicht auf Kante und nicht geordnet und dann kam der Zugführer, so hieß der Klassenlehrer, bei der Inspektion durch das Zimmer, da waren sechs, sieben Jungs, Jungmannen wie das hieß und hat mit einem Stiefel alle Fächer hochgehoben, so dass die Sachen durcheinander fielen, dann musste ich sie wieder aufbauen und während dieser ganze Zeit mussten die sechs anderen, die ihren Spind gut gebaut hatten, da stehen und mir zusehen. Und Schlaf war etwas sehr Wertvolles. Wir mussten, wie gesagt, fünf Uhr dreißig aufstehen. Und natürlich erzieht man die anderen dadurch, dass sie einem sozusagen, wenn man versagt, etwas androhen, was in der normalen Schule Klassenkeile heißt, weil man ihnen den Schlaf raubt.
Heuer: Herr Karasek, ich würde Sie zum Schluss gern etwas allgemeiner fragen, es gibt im deutschen Film und in der deutschen Literatur immer mehr persönliche, biografische Geschichten auch über die Täter im Dritten Reich, "Den Untergang" zum Beispiel, ein anderer Film. Ist das eine angemessene Form der Aufarbeitung?
Karasek: Ich mache mir keine Gedanken darüber, ob Aufarbeitungsformen angemessen oder nicht angemessen sind. Bin ja kein Weltenrichter darüber. Es steht jedem frei mit seiner Entscheidung an die Öffentlichkeit zu gehen, ob er das so oder so zeigen will, eine Zensur findet nicht statt. Es gibt anständigere und unanständigere Lösungen für den Betrachter, der das auswählen kann. Ich kann die ganze Aufregung um den Untergang gar nicht so recht verstehen. Natürlich ist es ein konventioneller Film wie auch Napola und natürlich gibt es künstlerisch ergiebigere Formen. Schlöndorff hat sie in neun Tagen dargestellt in seinem Film. Aber auch die anderen Filme befördern Geschichtsbewusstsein, sei es durch Einverständnis, sei es durch Widerspruch der Zuschauer.
Heuer: Hellmuth Karasek, der Publizist und Literaturkritiker und ehemalige Napolaschüler. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Heuer: Sie haben den Film bereits gesehen, wie hat er Ihnen gefallen?
Karasek: Also ich habe den Film natürlich vor allem gesehen als Aufweckung meiner Jugenderinnerungen, ich habe ja gerade meine Autobiografie geschrieben, und fand die Atmosphäre sehr ähnlich wie sie meine Erinnerung gespeichert hat. Allerdings setzt der Film das um in eine Entscheidungsdramaturgie. Ein Boxer muss sich dreimal entscheiden, hat er Mitleid mit dem am Boden Liegenden, wenn er es hat, passt er in die Napola und am Schluss hat er wieder Mitleid und wird dadurch selber niedergeschlagen. Diese Dramaturgie braucht der Film wohl, aber auf dem Weg dahin zeigt er eigentlich doch sehr schön diese Atmosphäre aus Schliff und Austreibung der Menschlichkeit durch eine Schule, die darauf aus war, den Sozialdarwinismus des Stärkeren anzuerziehen.
Heuer: Sie waren auf der Napola Loben, wollten Sie als Kind dahin?
Karasek: Ja, als Kind ist das immer so eine Mischung, auch das zeigt der Film, ich wollte eigentlich nicht hin, aber nicht etwa aus politischen Gründen als Zehnjähriger, sondern weil ich ein Muttersöhnchen war und diese sportlich hartkantige Ausbildung mit einem Schliff von fünf Uhr dreißig am Morgen bis tief in die Nacht bei Nachtgeländespielen und Umziehaktionen, wo man immer in neuer Uniform antreten musste, sehr quälend empfand. Auf der anderen Seite hat man mir damals und ich habe mir auch selber beigebracht, dass es gilt, einen so genannten inneren Schweinehund zu überwinden. Und diese Abrichtung hätte fast geklappt. Ich muss nachträglich sagen, ich war doch sehr froh, dass diese Prüfungszeit nur sehr kurz dauerte, weil man sich doch Gedanken darüber macht, was sonst aus einem geworden wäre.
Heuer: Hat sie die Erziehung in der Napola trotzdem nachhaltig geprägt?
Karasek: Das glaube ich nicht, dazu war sie zu kurz. Dazu gab es anschließend mindestens ebenso nachhaltige Prägungen. Ich war ein Jahr danach überhaupt gar nicht in der Schule, sondern in einem rechtlosen Raum, entweder auf der Flucht oder in Niederschlesien kurz vor der polnischen, vor der Zeit, als die polnische Verwaltung dieses Gebiet übernommen hat. Und das war sozusagen anarchisches Niemandsland, Rechtlosigkeit und das hat mich sicher auch geprägt. Ich habe anschließend in der stalinistischen Zeit am Bernburger Gymnasium, Karl-Marx-Oberschule, das Abitur gemacht und auch das hat mich sicher geprägt. Nur, es ist so, dass man eigentlich an einem solchen Schulweg, der allen Bildungsidealen Hohn spricht und ins Gesicht schlägt, sagen muss, es offenbar doch gelungen, dass ich mir selbst eine Art humanistische Erziehung beigebracht habe.
Heuer: Sie sich selbst. Sie haben gesagt, Sie wollten nicht auf diese Schule, aber Ihre Eltern haben das ja offensichtlich sehr stark gewollt.
Karasek: Naja, man wurde erst mal gezogen, wie man zum Militär gezogen wurde. Warum ich da gezogen wurde, ich hatte ein Schuljahr übersprungen, ich war etwas jünger, ich war weder körperlich noch geistig unwert, diese Schule zu besuchen, ich war arisch und meine Elter waren in der Partei, also das waren viele Voraussetzungen. Aber meine Mutter hat sich danach offensichtlich getraut, meinen Bittbriefen zu entsprechen und ich mich von der Schule zu nehmen.
Heuer: Unmenschlichkeit, Herr Karasek, gibt es mitunter ja auch auf normalen Internaten.
Karasek: Natürlich es gibt Foltergeschichten auch aus deutschen Schulen, wo sich ein Schüler vornehmen und es geht auf englischen public schools sehr, sehr hart zu, von Westpoint, der Kadettenanstalt in Amerika, der Elitekadettenanstalt wird man sicher ähnliches berichten können. Es gilt ja immer in einer solchen Schule, Leute daraufhin abzurichten, dass sie über den blinden Gehorsam das Befehlen lernen und das Problem ist, militärische Ausbildungen, paramilitärische Ausbildungen, Internatsausbildungen dienen immer auch dazu, den Leuten die Todesangst zu nehmen, wie könnte man sonst einen Menschen dahin treiben, sein Leben einzusetzen.
Heuer: Können Sie mal ein Beispiel nennen, wenn Sie davon sprechen, es ging darum die Schüler abzurichten, wie genau ist das geschehen?
Karasek: Also es ist zum Beispiel geschehen, dass wir mitten im Unterricht, wenn der Lehrer mit unseren Leistungen nicht zufrieden war, hat er nicht etwa gesagt, das machen wir noch einmal, sondern hat uns auf den Hof hinaus aus der Unterrichtsstunde getrieben und hat uns über den Sportplatz robben lassen, hat uns durch die Turnhalle gejagt, hat uns von den Leitern mit abgespreizten Beinen hängen lassen, mit dem Schlagholz drunter gefahren. Oder bei Geländespielen hatten wir unsere Leben als rote oder blaue Fäden um den Arm und wenn wir diese Fäden abgerissen bekamen waren wir im Spiel tot von der gegnerischen Gruppe und um diesen Fäden haben wir uns derart verprügelt, dass es einer groben Keilerei gleich kam. Mir hat besonders nachträglich imponiert, wie man eigentlich zum Sadismus erzogen werden sollte. Ich war ein sehr unordentlicher Mensch, am Abend hatte ich meinen Spind nicht richtig gebaut, die Wäsche nicht auf Kante und nicht geordnet und dann kam der Zugführer, so hieß der Klassenlehrer, bei der Inspektion durch das Zimmer, da waren sechs, sieben Jungs, Jungmannen wie das hieß und hat mit einem Stiefel alle Fächer hochgehoben, so dass die Sachen durcheinander fielen, dann musste ich sie wieder aufbauen und während dieser ganze Zeit mussten die sechs anderen, die ihren Spind gut gebaut hatten, da stehen und mir zusehen. Und Schlaf war etwas sehr Wertvolles. Wir mussten, wie gesagt, fünf Uhr dreißig aufstehen. Und natürlich erzieht man die anderen dadurch, dass sie einem sozusagen, wenn man versagt, etwas androhen, was in der normalen Schule Klassenkeile heißt, weil man ihnen den Schlaf raubt.
Heuer: Herr Karasek, ich würde Sie zum Schluss gern etwas allgemeiner fragen, es gibt im deutschen Film und in der deutschen Literatur immer mehr persönliche, biografische Geschichten auch über die Täter im Dritten Reich, "Den Untergang" zum Beispiel, ein anderer Film. Ist das eine angemessene Form der Aufarbeitung?
Karasek: Ich mache mir keine Gedanken darüber, ob Aufarbeitungsformen angemessen oder nicht angemessen sind. Bin ja kein Weltenrichter darüber. Es steht jedem frei mit seiner Entscheidung an die Öffentlichkeit zu gehen, ob er das so oder so zeigen will, eine Zensur findet nicht statt. Es gibt anständigere und unanständigere Lösungen für den Betrachter, der das auswählen kann. Ich kann die ganze Aufregung um den Untergang gar nicht so recht verstehen. Natürlich ist es ein konventioneller Film wie auch Napola und natürlich gibt es künstlerisch ergiebigere Formen. Schlöndorff hat sie in neun Tagen dargestellt in seinem Film. Aber auch die anderen Filme befördern Geschichtsbewusstsein, sei es durch Einverständnis, sei es durch Widerspruch der Zuschauer.
Heuer: Hellmuth Karasek, der Publizist und Literaturkritiker und ehemalige Napolaschüler. Ich danke Ihnen für das Gespräch.