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Napoleon wollte "als Sieger vom Acker gehen"

Es sei ein "offensichtlicher Blödsinn" Napoleons gewesen, vor 200 Jahren gegen Russland zu ziehen, sagt dessen Biograf Johannes Willms. Solch große Räume mit Pferd und Soldat zu bewältigen, ging mit katastrophalen Verlusten einher - zudem habe Napoleon den Gegner unterschätzt.

Das Gespräch führte Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Fast auf den Tag genau vor 200 Jahren stand ein kleiner Korse am Ufer der Memel und überlegte, wann und wo er übersetzen sollte. Das wäre jetzt weiter nicht meldepflichtig, hätte es sich bei dem Betrachter des Flusses nicht um Napoleon gehandelt, der auch nicht ganz allein gekommen war, sondern mit der Grande Armée, der größten Streitmacht, die sich bis zu diesem Zeitpunkt je durch Europa gewälzt hatte – etwa 600.000 Mann. Rund 100 Jahre vor Napoleon hatte der schwedische König Karl XII. vergeblich versucht, Russland zu besiegen; das wusste Napoleon natürlich. Und 130 Jahre nach Napoleon hat es dann noch einer versucht. Bei allen Unterschieden und bei allem Unvergleichbaren endete Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wie die Feldzüge seiner Vorgänger.

    Napoleons Stationen: Witebsk, Smolensk, Borodino, Moskau, dann der Rückzug mit dem Übergang über die Beresina, bei Temperaturen teilweise um minus 40 Grad, viele barfuß, ohne Winterausrüstung, ohne Lebensmittel, ohne Futter für Pferde und Zugtiere. Die Bilanz: etwa 800.000 tote Soldaten, Zivilisten nicht mitgerechnet. - Johannes Willms ist Historiker und Journalist, Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", 2005 erschien seine 900 Seiten starke Biografie über Napoleon. Guten Morgen!

    Johannes Willms: Guten Morgen!

    Heinemann: Herr Willms, wieso zog Napoleon nach Russland?

    Willms: Ja das ist eine Frage, über die haben sich die Historiker schon immer den Kopf zerbrochen, weil es war ein offensichtlicher Blödsinn, da hinzuziehen. Es gibt mehrere Erklärungen dafür, die aber nachgereicht sind, dass Napoleon verhindern wollte, dass Russland und England zusammengehen. Das ist im Grunde genommen aus der Hitler-Perspektive argumentiert, der angeblich die Sowjetunion angriff, weil er damit rechnete, dass früher oder später auch die USA in den Krieg eingriffen. Napoleon selbst hat verschiedene Ausreden dafür gegeben. Das eine war, dass die Russen nicht die Kontinentalsperre so lückenlos einhielten, wie sie ihnen aufgetragen waren im Vertrag von Tilsit. Ein anderer war, dass er die Russen zurückdrängen wollte von Europa und so weiter und so weiter. All das zählt nicht. Ich glaube, was ihn umtrieb, war einfach das Motiv, wieder eine Schlacht zu schlagen, einen Kolonialkrieg zu führen und einfach wieder als Sieger vom Acker zu gehen.

    Heinemann: Kurz zur Erklärung: Mit der Kontinentalsperre sollte eben der Kontinent von englischen Lieferungen abgeschnitten werden.

    Willms: Richtig. Er wollte England auf die Weise wirtschaftlich in die Knie zwingen, und das funktionierte natürlich hinten und vorne nicht. Es gab Schmuggel und alles und die Engländer waren ihm da einfach überlegen.

    Heinemann: Selbst nachdem Napoleon Moskau eingenommen hatte – kampflos ja und dann brannte die Stadt -, lenkte der Zar nicht ein, der saß in St. Petersburg. Wie ist zu erklären, dass Napoleon hinsichtlich seiner Kriegsziele sich so verschätzt hat?

    Willms: Er hat sich verschätzt, weil er politisch ziemlich unfähig war. Da der Krieg kein Ziel hatte, hatte er auch kein Friedensziel. Napoleon wusste gar nicht, mit welchem Grund er Frieden schließen sollte, und er dachte einfach, wenn ich dem Zaren seine spirituelle Hauptstadt Russlands genommen habe, dann sieht der sich genötigt, Frieden zu schließen, und als er in Moskau war, musste er feststellen, dass der Zar sich dadurch zu überhaupt nichts genötigt sah, und deshalb hat er drei oder vier Friedensfühler ausgestreckt an den Zaren, die der einfach schlichtweg ignoriert hat.

    Heinemann: Gekämpft haben und gestorben sind nicht die beiden Kaiser, nicht Napoleon, nicht Zar Alexander, sondern Soldaten. Ein Zeitzeuge beschreibt eine Schlacht:

    "Da das größte Gemetzel durch Artilleriefeuer angerichtet worden war, lagen überall verstümmelte Leichen mit heraushängenden Eingeweiden und abgetrennten Gliedmaßen. Verwundete kämpften sich unter der Last toter Kameraden und Pferde hervor, oder schleppten sich dorthin, wo sie Hilfe erhofften. Manche wurden von verletzten Pferden zerquetscht, die ihrerseits versuchten, auf die Beine zu kommen. Man sah, wie einige entsetzlich ausgeweidete Tiere stehend ausharrten, den Kopf hängen ließen, die Erde mit ihrem Blut tränkten, oder auf der Suche nach einer Weide qualvoll dahinhumpelten, wobei sie Fetzen ihres Zaumzeugs, heraushängende Gedärme oder ein gebrochenes Körperteil hinter sich herschleiften."

    Heinemann: Ein Auszug aus dem Buch "1812 – Napoleons Feldzug in Russland" des amerikanisch-polnischen Historikers Adam Zamoyski, der diesen Feldzug den ersten modernen Krieg nennt, weil das russische Volk von seiner Regierung gezwungen wurde, sich aktiv zu beteiligen. – Johannes Willms, war dies tatsächlich eine neue Art, Krieg zu führen?

    Willms: Nein, eigentlich nicht. Das war der Krieg, mit dem man mit einigem Nachdenken in Russland hätte rechnen können. Der Zar war noch kein Stalin, der seine Untertanen sozusagen in die Kriegsmaschine eingespannt hat. Russland ist ein Riesenreich, sehr dünn bevölkert, und die Bauern haben sich einfach gegen die Franzosen gestellt, weil die Franzosen sie vorher ausplünderten und auch drangsaliert haben. Deshalb hatten die die Bevölkerung gegen sich. Ich glaube, das war ein großer Fehler von Napoleon. Wenn er die Bauernbefreiung erklärt hätte, hätte er die Bauern auf seiner Seite gehabt und das wäre was ganz anderes, aber das hat er sich nicht getraut zu machen, weil er sagte, das ist ein Beispiel, das dann bei den Verbündeten schlecht ankommt oder bei seinen anderen Satelliten in Europa, wo ja immer noch teilweise Leibeigenschaft herrschte – denken Sie an Preußen und auch in Teilen der österreichischen Monarchie.

    Heinemann: Riesenreich, haben Sie gesagt. Mit 600.000 Mann bis Moskau – wie wurde die Armee versorgt?

    Willms: Die Armee hatte große Vorräte angesammelt in Polen schon vor Beginn des Krieges und sie führten außer den Pferden für die Kavallerie und für die Bespannung der Artillerie auch riesige Viehherden mit sich. Da waren zum Beispiel Zugochsen dabei, die dann sozusagen geschlachtet wurden, sobald die Wagen, die sie zogen mit Proviant oder Munition, leer waren. Dann wurden die Ochsen, die diese Wagen gezogen hatten, geschlachtet. Aber das alles reichte nicht aus, um dieses 300.000-Mann-Heer auf die Dauer zu versorgen, zumal der Nachschub ja immer nur sehr zögerlich nachkam. Die Infanterie und die Kavallerie zumal rückte schneller voran als dann doch diese gemächlichen Ochsenwagen.

    Heinemann: 300.000, sagen Sie.

    Willms: Es waren insgesamt wohl an die 600.000, wobei die Zahlen - - Wissen Sie, als der Feldzug begann, war die Hauptarmee, die über den Fluss ging, etwa 300.000 Mann stark, und dann gab es noch zwei Flügelarmeen im Norden und im Süden, die auch noch mal so jeweils 30 bis 40.000 waren, und dann kam immer ja wieder Verstärkung hinzu. Also insgesamt werden es vielleicht gut rund 600.000 Mann gewesen sein, die insgesamt an dem Feldzug beteiligt waren.

    Heinemann: Woran ist Napoleon gescheitert?

    Willms: Er ist an Vielem gescheitert, aber nicht an dem, was er als Grund angab, also nicht an dem russischen Winter - der setzte relativ spät in dem Jahr sogar ein -, sondern er ist einfach damit gescheitert, dass das Unternehmen zu groß war an den Räumen. Die damalige Kriegführung konnte solche Räume nicht bewältigen. Die Geschwindigkeit des Vormarschs war ja vom Pferd abhängig. Keine Armee konnte schneller vorrücken, als die Pferde die Kraft hatten, zu laufen. Und dann natürlich die Soldaten, die zu Fuß marschieren mussten. Keiner konnte sich schneller bewegen als das. Zweitens die Versorgungsmängel, die sehr schnell auftraten, dann die klimatischen Schwierigkeiten - das war zunächst mal der Sommer, der zu Seuchen führte -, sodass Napoleon, als er dann schließlich mit der Hauptarmee in Moskau anlangte, da war die schon auf 90.000 Mann geschrumpft, das heißt, er hatte schon zwei Drittel seiner Ausgangsstärke eingebüßt. Im Grunde genommen war für ihn der Krieg in Moskau schon militärisch verloren.

    Heinemann: Der russische Oberbefehlshaber Michail Illarionowitsch Kutusow ist fast jeder direkten Schlacht ausgewichen. Aus welchen Gründen?

    Willms: Darüber gibt es verschiedene Mutmaßungen – einmal, dass der Kutusow natürlich den Nimbus Napoleons gefürchtet hat, gesagt hat, ich kann mich nicht dem Risiko einer Schlacht stellen, der Napoleon schlägt mich auf jeden Fall. Es gibt aber noch einen anderen, sehr interessanten Grund, dass es möglicherweise doch eine russische Strategie war, das Zurückweichen. Das hat der Zar jedenfalls zweimal angedeutet - einmal in einem Brief an den preußischen König hat er gesagt, wenn es zu dem Konflikt kommen sollte, der sich ja lange ankündigte, dann werden wir einfach den Raum als Waffe nutzen und uns zurückziehen, und das Andere hat er auch einem französischen Gesandten gegenüber erklärt: "Was wollen Sie? Wenn Sie Krieg machen, ich werde mich zurückziehen und Sie werden es mit der russischen Weile zu tun bekommen." Also das war eine Überlegung, die schon, bevor die Kampfhandlungen überhaupt begannen, in den Köpfen herumspukte, und ich glaube, das sollte man durchaus ernst nehmen, dass die Russen von Anfang an dieses Kalkül als oberstes Prinzip ihrer Kriegführung verfolgt haben.

    Heinemann: ... , zumal der Winter dann eben doch sein übriges tat.

    Willms: Der tat dann sein übriges. Aber vorher war, schon der Sommer tat schon einiges, und wie gesagt, die Seuchen waren gewaltig, es sind wahrscheinlich mehr Soldaten an Seuchen, Ruhr und dergleichen, zugrunde gegangen als an Kampfhandlungen.

    Heinemann: Adam Zamoyski charakterisiert den Krieg als Auseinandersetzung zwischen dem ideologischen Erbe der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution auf der einen Seite und einem reaktionären Konglomerat aus Christentum, Monarchismus und Traditionalismus auf der anderen Seite, also auf der russischen Seite. Was bedeutete Napoleons Niederlage für Russland für die weitere Entwicklung?

    Willms: Also ich glaube nicht, dass dieser Krieg, den Napoleon gegen Russland führte, irgendwie eine ideologische Komponente hatte. Das war kein Kreuzzug. Das war für mich ein reiner Kolonialkrieg, der entsprechend wie ein solcher ausging. Der Gegner wurde unterschätzt, und das erleben wir ja heute bei Kriegen, die ähnlich gelagert sind – denken Sie an Afghanistan, da ist ja auch kein Sieg in Sicht und der Abzug droht. Also das ist kein ideologischer Krieg gewesen.
    Spätestens mit diesem Sieg in diesem Krieg war Russland eine europäische Macht. Das sehen Sie dann, die Quittung haben Sie gleich auf dem Wiener Kongress, wo Russland eine ganz führende Macht war, und England und Österreich und im Verbund mit Frankreich, vertreten durch Talleyrand, hatten alle Mühe, die russischen Ansprüche auf ein erträgliches Maß zurückzudrücken. Aber seitdem war Russland eine europäische Macht, die in Europa mitredete.

    Heinemann: Herr Willms, Sie haben eben gesagt, hätte Napoleon die Bauernbefreiung verkündet, hätte er sich auf diese Bevölkerungsgruppe stützen können. Hätte ein Erfolg Napoleons den Russen 70 Jahre kommunistische Diktatur ersparen können?

    Willms: Das ist ganz schwer zu sagen. Aber es wäre damals sicherlich in der Tradition der Revolution, die ja Napoleon gewissermaßen noch verkörperte, nur konsequent gewesen, die Bauernbefreiung auszurufen, und es wäre genauso konsequent gewesen und wäre sicherlich für seine Kriegsziele auch folgenreich gewesen, wenn er Polen zu einem unabhängigen Staat gemacht hätte. Das hat er ja auch vermieden. Es blieb beim Großherzogtum Polen, was unter seiner Fuchtel stand, und es wurde kein unabhängiger großer polnischer Königsstaat geschaffen, worauf die Polen alle hofften, und die hätten ihn sicherlich gerne unterstützt dann auch bei dem Krieg gegen Russland. Aber das hat er nicht gemacht und die Zeche hat er dann auch zahlen müssen.

    Heinemann: Zu Napoleons Hinterlassenschaft gehören Leichenberge nicht nur in Russland. Wieso wird er in Frankreich heute immer noch als Held verehrt?

    Willms: Ja, das Verhältnis in Frankreich zu Napoleon ist ziemlich ambivalent. Es gibt natürlich Vereine, die sein Andenken pflegen, es soll jetzt auch ein Napoleon-Park entstehen in einer französischen Gemeinde, die sich davon große Einnahmen verspricht, also so eine Art Disney World mit napoleonischem Themenbezug. Andererseits ist Napoleon natürlich bei allen republikanisch oder links gesinnten Bürgern in Frankreich – und die haben ja im Augenblick die Mehrheit, wie wir gesehen haben – ein Nonvaleurs, also wird er nicht sehr geschätzt. Napoleon war lange ein Held der Rechten, die in ihm ihren Abgott sahen, aber das hat sich auch mittlerweile gelegt. Wir haben jetzt in der Rolle de Gaulle, der ist natürlich immer noch für die rechten Parteien der Strahlemann in Frankreich, und Napoleon ist dann doch in der Geschichte verschwunden.

    Heinemann: Johannes Willms, Autor des 2005 erschienenen Buchs "Napoleon: Eine Biografie". Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Willms: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.