Kathrin Hondl: Ich ich ich! – Von den abertausenden Selfies, die die sozialen Netzwerke jeden Tag überfluten, bis zum Gehabe des amerikanischen Präsidentschaftsbewerbers Donald Trump - Selbstverliebtheit und Narzissmus gelten als Leitmotiv, wenn nicht Leitneurose unserer Zeit. Kein Wunder, dass das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" dem Narzissmus vergangene Woche eine große Titelstory widmen wollte – Aber dann wurden die Druckmaschinen in letzter Minute noch mal angehalten:
Das Brexit-Votum veranlasste den Spiegel zur Änderung des Titelblatts. Wobei ja aber auch der Brexit-Wunsch der Briten von vielen als Folge des allgemein und besonders bei Politikern grassierenden Narzissmus-Problems gesehen wird. Allen voran der seit dem Brexit-Referendum noch breiter grinsende Chef der UKIP-Partei Nigel Farage.
Der Psychoanalytiker Rolf Haubl kennt sich berufsbedingt aus mit Neurosen und narzisstischen Störungen. Herr Haubl, alle reden vom Narzissmus – warum hat der Begriff Hochkonjunktur?
Rolf Haubl: Na ja. Es wäre schön, wenn ich sagen könnte, er hat Hochkonjunktur, weil er die Wirklichkeit richtig aufschließt. Aber da muss man, glaube ich, sehr aufpassen und vor allen Dingen muss man sich von Ferndiagnosen schützen, weil dann sehr schnell die gesamte Gesellschaft und insgesamt die Politiker als Personen dargestellt werden, die einer Psychopathologie anheimfallen. Und das ist ein bisschen kurz gegriffen, denke ich, gerade was Politiker anbelangt.
Hondl: Aber trotz allem, man hat oder insgesamt besteht der Eindruck, dass besonders die Politik von Narzissten dominiert wird. Gerade Politikern wird oft Narzissmus nachgesagt.
Haubl: Ja.
Hondl: Zum Beispiel war das so beim griechischen Ex-Finanzminister Varoufakis oder noch früher bei Gaddafi in Libyen, heute Donald Trump in den USA, oder ganz aktuell Nigel Farage oder Boris Johnson in Großbritannien. Ich habe bei Ihnen jetzt schon ein bisschen Skepsis, was diese Diagnose angeht, rausgehört. Woran, Herr Haubl, erkennt man denn einen Narzissten beziehungsweise woran erkennen Sie als Psychoanalytiker Narzissten?
"Aufmerksamkeit im Moment generieren"
Haubl: Wenn man es auf die Politik bezieht - und das finde ich natürlich das Spannendste an unserem Gespräch erst mal und nicht so sehr die Privatsphäre -, dann tauchen die sogenannten narzisstischen Führer vor allen Dingen in Krisensituationen auf: In Krisensituationen, wo man erst mal denken könnte, da wäre es doch am besten, nachdenklich zu sein. Da sind es gerade Personen, die alle Nachdenklichkeit fahren lassen und nach außen hin darstellen, dass es an ihrer Person liegen könnte, ob etwas gut oder schlecht ausgeht, und es gibt nur entweder oder.
Gerade die Nachdenklichkeit wird ausgeblendet und dieses Ausblenden von Nachdenklichkeit ist in der Politik ein ganz starker Hinweis darauf, dass man es mit einem Narzissten in einer Krisensituation zu tun hat, weil er nämlich sozusagen das Auditorium, das er anspricht, dadurch für sich gewinnt, dass er mit einem extrem hohen überzogenen Selbstbewusstsein für eine bestimmte, relativ simple These eintritt und damit suggeriert, man könnte sich alle Nachdenklichkeit sparen, was natürlich nicht der Fall ist.
Ein zweites Moment, das man auch in der Politik beobachten kann, ist: Narzisstische Politiker verwechseln häufig Person und Amt. Das sieht man beispielsweise bei Erdogan, der vieles, was eigentlich in der internationalen Diskussion sein müsste, als persönliche Kränkung nimmt. Und dieses persönliche gekränkt sein ist auch ein ganz klarer Indikator für diesen spezifischen Typus von Politiker, den man vielleicht mit einem anderen Begriff auch als Spieler bezeichnen könnte, weil es diesem Typus von Politiker nicht um Nachhaltigkeit geht, sondern darum, Aufmerksamkeit im Moment zu generieren, um mit dieser Aufmerksamkeit beispielsweise Protest oder was immer zu lancieren, aber um Aufmerksamkeit zu gewinnen, dafür alles tun und dementsprechend in dem Moment, wo sie zur Verantwortung gezogen werden könnten, auch gehen.
Hondl: Ja, wie zum Beispiel Boris Johnson jetzt.
Haubl: Genau.
"Ihr werdet alles das zurückgewinnen, was ihr verloren habt"
Hondl: Was macht denn diese offensichtlich oder offenbar narzisstisch gestörten Politiker dann so erfolgreich?
Haubl: Ja ob sie gestört sind, wie gesagt, da bin ich immer skeptisch. Aber was sie erfolgreich macht, ist, dass sie mit einem hohen Gespür für die Situation mitbekommen, dass das Auditorium oder zumindest bestimmte Zielgruppen sich in einer Situation befinden, wo die im Grunde genommen als Co-Narzissten fungieren, weil sie sozusagen das Gefühl haben, das wofür sie stehen wird nicht ernst genommen, sie werden dauernd gekränkt, sie werden dauernd gedemütigt. Sie sind sehr nostalgisch, weil sie einer vergangenen Ära anhängen, wo es mal eine Grandiosität gab, die vermeintlich dann verschwunden ist.
Und in dieser psychologisch sehr sensiblen Situation taucht der narzisstische Führer auf und sagt, ihr werdet alles das zurückgewinnen, was ihr verloren habt, wobei dieses "was ihr verloren habt" natürlich immer schon ein Mythos ist, weil es das in dem Sinne gar nicht gegeben hat. Und das beobachten wir im Moment überall, das kann man sozusagen auch bei Putin beobachten, dass in solchen Situationen dann Personen auftreten können, die sagen, wir haben zu Unrecht an Größe verloren und jetzt ist die Situation, wo wir diese ehemalige Größe wiedergewinnen können.
Der Punkt dabei ist aber entscheidend - und das geht über unser aktuelles Thema hinaus -, dass in der Politik (das weiß man seit Langem) nicht nach Parteiprogrammen gewählt wird, sondern zum Teil nach momentanen Stimmungen, die einhergehen vor allen Dingen mit narzisstischen Kränkungen.
Hondl: Stimmt es eigentlich, Herr Haubl, dass Narzissten generell schneller Karriere machen, auch in der Politik? Erich Fromm hat ja mal geschrieben, Narzissmus sei die Berufskrankheit der Chefs.
Haubl: Ja, da ist was dran. Vor allen Dingen es gibt gute Untersuchungen auch über narzisstisches Führungspersonal in der Wirtschaft, und die machen schnell Karriere, aber wie gesagt vor allen Dingen in Krisensituationen. Und es gibt einen relativ zynischen Spruch, der heißt: Wir können am Anfang einer Krise Narzissten gut gebrauchen, weil die im Grunde genommen mit ihrer Art des Auftretens, mit ihrer Selbstsicherheit tatsächlich Einigkeiten schaffen können. Die können sogar im positiven Sinne Visionen in die Welt setzen, hinter denen sich dann viele wiederfinden können. Aber das Problem ist: Man muss den Narzissten relativ schnell wieder loswerden, weil wenn man ihn nicht loswird, dann geht es sozusagen destruktiv gegen die Intentionen, mit denen man ihn eigentlich gefördert hat.
Hondl: Wir sprechen jetzt ganz selbstverständlich immer von Narzissten. Sind es vor allem Männer, die dieses Problem haben, oder machen Frauen da ähnliche Anstalten?
Haubl: Ich würde erst mal sagen, es ist prinzipiell kein Unterschied. Die Wahrnehmung eines Unterschieds besteht natürlich immer darin, dass wir in den Kreisen, über die wir gerade reden, also in der Politik, in der großen Politik vor allen Dingen oder bei Wirtschaftsführern es vor allen Dingen mit Männern zu tun haben. Von daher sind die überproportional häufig und dementsprechend sind auch überproportional häufig Männer dort zu finden.
Wenn man davon ein bisschen Abstand nimmt, dann gibt es einiges, was dafür spricht, weil die Kränkbarkeit von Personen, die sich selbst für Macher halten und denken, dass es einzig und allein an ihnen liegt, ob Erfolg oder Misserfolg entsteht, das ist tendenziell eher etwas, was man bei Männern findet mit einer ausgeprägten Männlichkeit. Aber das biologische Mann sein ist nicht der Faktor, sondern eine bestimmte Art von Männlichkeit als eine bestimmte Art von Imagination für die eigene Person und Größe.
Hondl: Was unterscheidet eigentlich krankhaften Narzissmus von gesundem Selbstbewusstsein? Oder anders gefragt: Muss Narzissmus eigentlich immer schlecht sein?
"Milder Narzissmus ist eine auch für Gemeinschaften positive Eigenschaft"
Haubl: Nein, ganz im Gegenteil! Selbst wenn man sagen würde, ich brauche narzisstische Personen, um Visionen umsetzen zu können, ist das zunächst einmal nichts Negatives. Das wird negativ, wenn es destruktiv wird, wenn es außer Kontrolle gerät, und vor allen Dingen, wenn narzisstische Personen, Persönlichkeiten, Führungspersönlichkeiten es schaffen, um sich herum lauter Jasager zu etablieren, weil ihnen dann sozusagen die Korrektur fehlt, und dann kommt es genau zu dem Moment. Dann kriegt man den Narzissten nicht rechtzeitig los. Aber als jemanden, der für Visionen eintritt, der begeistern kann oder so was, ist ein milder Narzissmus eine durchaus positive, auch für Gemeinschaften positive Eigenschaft.
Hondl: Nun ja, jetzt haben wir es nicht unbedingt mit mildem Narzissmus im Moment zu tun.
Haubl: Nein.
Hondl: Erdogan, den türkischen Staatspräsidenten, haben Sie schon genannt, Donald Trump, Putin, Johnson, Farage …
Haubl: Berlusconi könnte man noch einreihen.
"Narzissten fälschen die Fakten"
Hondl: Gibt es einen Ausweg aus dieser politischen narzisstischen Störung, die wir da erleben?
Haubl: Na ja, das Problem ist, dass der Narzissmus, wenn er nicht kontrolliert wird, sich selbst zerstört und all das zerstört, was ihn groß gemacht hat. Insofern ist es eine relativ gefährliche Geschichte. Man muss darüber nachdenken, wie auch die Öffentlichkeit auf solche Personen reagiert. Das ist ja die alte Frage, ob die Medien dadurch, dass sie ihnen permanent Platz bieten, eigentlich zu ihrer Karriere beitragen. Auf der anderen Seite kann man sie nicht totschweigen. Man ist in einem Dauerdilemma. Aber wichtig ist es, demokratische Gremien zu haben, Institutionen zu haben, die das kontrollieren.
Und - insofern gibt es die angesprochene Verbindung von Krise und Narzissmus: In dem Moment, wo, aus welchen Gründen auch immer die Krise sich legt, in dem Moment gewinnen auch Narzissten, narzisstische Persönlichkeiten nicht mehr die ersten Ränge.
Hondl: Also es geht darum, die Krise zu bewältigen, wie auch immer.
Haubl: Und vor allen Dingen dem gegenüberzutreten, was Narzissten in ihrem Bestreben natürlich dauernd machen: Sie fälschen die Fakten oder im einfachsten Falle sind sie nur undifferenziert, aber in gravierenden Fällen fälschen sie die Fakten und dementsprechend bedarf es einer Öffentlichkeit, die permanent auf die Sachzwänge hinweist, auf die sachlichen Überlegungen hinweist und dafür sorgt, dass nicht die Fehlmeldungen eigentlich die Oberhand gewinnen.
Hondl: Also muss man den Narzissten einen ordentlichen, einen richtig realitätsnahen, krassen Spiegel vorhalten und nicht den, in dem sie sich gerne sehen?
Haubl: Genau.
Hondl: Vielen Dank! - Der Psychoanalytiker Rolf Haubl war das über Narzissmus in der Politik. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Haubl.
Haubl: Gerne!
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