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Natascha Wodin: „Nastjas Tränen“
Porträt einer illegalen Emigrantin

Die Ukrainerin Nastja ist Bauingenieurin. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion flieht sie Anfang der 1990er-Jahre vor dem wirtschaftlichen Chaos und kommt nach Berlin, um als Putzfrau zu arbeiten. Natascha Wodin schildert im Roman „Nastjas Tränen“ ein Frauenleben im Spiegel der Zeitgeschichte.

Von Christel Wester |
Buchcover von Natascha Wodin: "Nastjas Tränen" und im Hintergrund ein Putzfrau bei der Badreinigung
Als die Ukrainerin Nastja anfängt, bei Natascha Wodins Erzählerin zu putzen, entwickelt diese ein Helfersyndrom (Buchcover Rowohlt Verlag / Hintergrund IMAGO / Steffen Schellhorn)
Eine ukrainische Putzfrau als Hauptfigur eines Romans hat Seltenheitswert in der deutschsprachigen Literatur. Natascha Wodin füllt mit "Nastjas Tränen" eine Lücke, sie schildert ein Frauenleben, das zahlreiche Osteuropäerinnen teilen, die in Deutschland für wenig Geld schuften, um ihre Familien in der Heimat zu ernähren. Die Ukrainerin Nastja ist eigentlich Bauingenieurin, konnte aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in dem wirtschaftlichen Chaos der sich rasant entwickelnden Oligarchie in der ehemaligen Teilrepublik der UdSSR nicht mehr überleben.
Mit einem Touristenvisum kommt Nastja im Sommer 1992 nach Berlin, hastet von Putzstelle zu Putzstelle und rutscht nach dem Ablauf ihres Visums geradewegs in die Illegalität.

Eine der neuen Displaced Persons

"Als Schläferin auf dem Sofa ihrer Schwester war sie eingegangen in die unergründliche Dunkelziffer der Sans-Papiers im Wildwuchs der neuen deutschen Ost-West-Stadt."
Natascha Wodin gibt mit Nastja einer dieser vielen illegalen Existenzen "ohne Papiere" ein Gesicht. Wodin sieht in ihr:
"eine der neuen Displaced Persons, die heute wieder zu Millionen über den Erdball irren."
In ihrem Porträt der Ukrainerin skizziert Natascha Wodin zudem mit wenigen prägnanten Strichen weitere Emigranten aus ihrem Lebensumfeld und erfasst dabei sensibel die Lähmung und die dumpfe Trauer, die soziale Degradierung und die Entwurzelung. Gefühle, die sie selbst kennt, als Tochter ehemaliger Zwangsarbeiter, die in der Nachkriegszeit in einer Barackensiedlung am Stadtrand aufwuchs und hilflos miterleben musste, wie ihre Mutter in einer Depression versank, bis sie sich schließlich 1956 das Leben nahm. Da war Natascha Wodin elf Jahre alt. Wie in allen ihren früheren Büchern bringt sich die Autorin auch in ihrem neuen Roman wieder selbst als Ich-Erzählerin mit ihrer eigenen Biografie in die Geschichte ein. Damit gibt sie deutlich zu verstehen: Nastja ist keine rein fiktive Romanfigur, sondern hat ein reales Vorbild. Kennengelernt hat Natascha Wodin sie, weil sie selbst jemanden suchte, der ihr beim Putzen half.
"Sie stellte sich mir als Nastja aus Kiew vor, überglücklich, dass sie mit mir Russisch sprechen konnte. Am Anfang drang es mir gar nicht ins Bewusstsein, dass sie nach meiner Mutter die erste Ukrainerin war, mit der ich es in Deutschland zu tun hatte."

Autobiografische Nähe, selbstironische Distanz

Die Erinnerung an die Mutter erzeugt bei der Ich-Erzählerin eine Art Helfersyndrom. Unbedingt will diese Ich-Erzählerin Nastja einen Platz in der Gesellschaft verschaffen, der ihrer Mutter verwehrt war. Doch ein Teil ihrer Hilfsaktionen führt zu grotesken Situationen und absurden Wendungen in Nastjas Leben. Zwar bekommt sie die deutsche Staatsangehörigkeit, aber nur über eine üble Heirat und muss dafür auch ihren ukrainischen Pass abgeben. Als sie dann irgendwann doch in die Ukraine zurückkehren will, muss sie feststellen, dass ihr jetzt nur noch ein befristetes Touristenvisum für ihre Heimat zusteht.
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Bei aller autobiografischen Nähe gestaltet Natascha Wodin ihre Ich-Erzählerin durchaus mit selbstironischer Distanz. In sehr knapper, verdichteter Form schildert sie Nastjas gesamten Lebensweg. Sie wurde 1942 im Westen der Ukraine geboren und wuchs in einer Kleinstadt auf, in der viele Juden lebten und die Nationalsozialisten ein Konzentrationslager errichteten. Schlaglichtartig beleuchtet Natascha Wodin somit auch den Holocaust in der Ukraine, Massaker, die nicht im breiten Geschichtsbewusstsein verankert sind und in der Sowjetunion verdrängt und nivelliert wurden.
"Über die unbefestigten, matschigen Straßen fuhren geschlossene Lastwagen, mobile Gaskammern. Unter dem Vorwand der Evakuierung wurden Juden eingesammelt und hinter der Stadt im Inneren des Wagens, in den sie gestiegen waren, mit Auspuffgas erstickt."

Ein kühler Blick auf die Zeitgeschichte

In einer betont kunstlosen, nüchternen Sprache skizziert die Autorin in ihrem neuen Roman eine Reihe individueller Schicksale. Dazu gehört die Geschichte von Nastjas älterer Schwester, die als 16-Jährige wie Natascha Wodins Mutter von den Nationalsozialisten als Zwangsarbeiterin nach Deutschland deportiert wurde. Nach ihrer Rückkehr wurde sie in der Sowjetunion als Nazi-Kollaborateurin geächtet. Im Spiegel der Lebensgeschichten, die Nastjas Biografie kreuzen, blickt Natascha Wodin aber nicht nur auf die nationalsozialistischen Verbrechen. Wie in einem Zeitraffer lässt sie auch den stalinistischen Terror, die sowjetische Diktatur und den Zusammenbruch des Sozialismus Revue passieren. Sie tut das in miniaturhaften Szenen, aber mit einer kühlen drastischen Genauigkeit, die einem den Atem stocken lässt.
Natascha Wodin: "Nastjas Tränen"
Rowohlt Verlag, Hamburg. 189 Seiten, 22 Euro.