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Nathalie Quintane
"Wohin mit den Mittelklassen?"

Ein kleines kluges Buch über die heutige Klassengesellschaft: Die Französin Nathalie Quintane wirft die Klassenfrage wieder auf und fordert die konsumverwöhnte Mittelschicht zur Selbstkritik auf.

Von Barbara Eisenmann |
    Viele Passanten in der Innenstadt von Münster
    Die "kaufende Klasse" - unfähig zur Selbstkritik? (imago stock&people)
    Natalie Quintane, den Namen sollte man sich am besten gleich merken. Denn die Französin, die auf ein beachtliches literarisches Werk einer schwer zu klassifizierenden politisch-poetischen Essayistik, aber auch Dichtung verweisen kann, präsentiert sich mit ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Buch "Wohin mit den Mittelklassen?" mit einem starken, klugen, eigenwilligen Text.
    Ein Text über die Mittelklasse, die man hierzulande seit Langem "Mittelschicht" oder "Mittelstand" nennt, womit der hässliche Klassenbegriff mitsamt seiner Konnotationen vom Antagonismus der Klassen aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist. Nun lässt sich von Mittelklasse aber überhaupt nur im Verhältnis zu anderen Klassen sprechen, konstatiert Quintane gleich zu Beginn ihres Essays. Obzwar man zwischen 1981 und 2000 geglaubt habe, dass es keine Klassen mehr gäbe. Doch: "Diese Theorie hat sich nicht durchgesetzt."
    Und auch die Klassenfrage ist zurück. Quintanes Untersuchung, was die Mittelklasse denn eigentlich ausmacht, kommt auf leichten Füßen daher. Sie ist brillant geschrieben, scharfsinnig und spöttisch, ohne allerdings dabei die eigene Position außen vor zu lassen. Denn die Autorin ist Teil dieser Mittelklasse, die sie so behandeln möchte wie "ein Kartoffelspezialist, der über Kartoffeln spricht, [...] mit ernsthaftem Interesse, aus der Distanz und in aller Freundschaft."
    Die Mittelschicht - eine Klasse
    Zunächst buchstabiert Quintane in kurzen pointenreichen Kapiteln durch, wie unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen die Mittelklasse zu definieren versuchen. Beispielsweise über ein Durchschnittseinkommen oder auch über Paarbildungsstrategien.
    Dass die Paarung eines Klempners mit einer HNO-Ärztin eine ziemlich seltene Angelegenheit sei, vor allem aber, dass Angehörige der Mittelklasse das nicht zugeben würden, führt die Autorin zu einem ganz wesentlichen Merkmal der Zugehörigkeit zur Mittelklasse: "eine strikte Trennung nämlich zwischen dem, was wir leben, und dem, was wir behaupten."
    Was Quintane hier zum Schwingen bringt, ist, dass die Mittelklasse sich nicht als Klasse begreift, dass sie kein Klassenbewusstsein hat. An einer späteren Stelle wird sie die Mittelklasse als "kaufende Klasse" fassen und deren trauriges Festgefahrensein im Kapitalismus konstatieren:
    "Die ganze Woche lang sind wir unkonturiert - früh aufgestanden, in öffentlichen Verkehrsmitteln herumgezuckelt, auf unserem Karussell die herunterhängenden Mickymaus-Schwänze und aufblitzenden Pop-Ups aufschnappend herumgedreht und halbwegs von einem Schluck Kaffee oder einem Hintern oder einem Innehalten auf der Straße oder von der Landschaft aufgeputscht - und es gibt welche, die das als ein Zeichen von Emanzipation ansehen. Etwas kaufen, etwas haben bedeutet, weniger unscharf zu sein - die Gitarre gibt uns Konturen, das Kleid eine Form."
    Radikale Selbstkritik der Mittelklasse
    Quintane beschreibt die Mittelklasse in konzisen, die wunden Punkte haargenau treffenden Passagen, unter anderem als unbeweglich, als folgsam und auch als eine Klasse, die in Folge ihres eigenen Aufstiegs aus der Arbeiterklasse die soziale Frage aus ihrem Bewusstsein gestrichen hat.
    Dennoch hat die Autorin, die offenbar das Projekt einer anderen Gesellschaft noch nicht aufgegeben hat, auch die Mittelklasse nicht aufgegeben. Quintanes Text, selber ein "Mittelklasseprodukt", wie sie an einer Stelle schreibt, läuft letztlich darauf hinaus, die Mittelklasse kollektiv, trotz ihrer Heterogenität, aufzurufen, endlich Farbe zu bekennen, endlich radikal Selbstkritik zu üben und endlich aus all dem, was sie weiß - und sie weiß eine Menge - Konsequenzen zu ziehen.

    Übrigens hat die Autorin an anderer Stelle, mit dem ihr eigentümlichen Sinn für Humor, von sich behauptet: "Die extreme Linke, das bin ich." Und damit die Verhaftung der Linken in akademischen Diskursen kritisiert, der sie, die "Literaturlehrerin", als die sie sich selber bezeichnet, ankreidet, keine Literatur zu lesen.
    Man kann verstehen, was Quintane meint, wenn man ihren Text über die Mittelklasse gelesen hat. Denn es ist diese aus dem Geist der Literatur geborene Subjektivität und Freiheit des Denkens, frei von akademischen und anderen Gemeinplätzen, die ihren Essay so anregend macht.
    Nathalie Quintane: "Wohin mit den Mittelklassen?"
    Matthes & Seitz, 116 Seiten, 12 Euro.