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Nathan Englander: "Dinner am Mittelpunkt der Erde"
Plädoyer für den Frieden

Der jüdisch-amerikanische Schriftsteller Nathan Englander verpackt ein eindringliches Plädoyer für den Frieden in Nahost in einen atemberaubenden Spionagethriller. Zwischen Paris, Long Island, Gaza und dem Berlin der Jahrtausendwende entspinnt der Autor persönliche Verwerfungen und zwischenmenschliche Bande.

Von Michael Watzka |
Buchcover: Nathan Englander: „Dinner am Mittelpunkt der Erde“
Der 1970 in New York geborene Autor Nathan Englander rückt Individualschicksale in den Mittelpunkt seines neuen Romans und zeigt so, dass es nicht einen Konflikt in Nahost gibt, sondern viele kleine (Foto: imago images/ZUMA Press/Nancy Kaszerman, Buchcover: Luchterhand Verlag)
Es mag heute in Vergessenheit geraten sein, aber um die Jahrtausendwende gab es ihn einmal, den Annäherungsprozess zwischen Israelis und Palästinensern. Die US-Präsidenten hießen damals Clinton und Bush, der oberste Palästinenserführer Abbas ersetzte den radikaleren Arafat, und in Israel befahl Ministerpräsident Ariel Scharon den Rückzug seines Militärs aus dem besetzten Gazastreifen. Warum es mit dem Frieden seither nicht geklappt hat – und wohl auch auf absehbare Zeit nicht klappen wird – das ist ein Fall für die Geschichtsbücher und Leitartikel. Dass aber irgendwo unter den Trümmern der heutigen Verwerfungen in Nahost noch die Keime jener einstmaligen Hoffnung auf den dauerhaften Frieden liegen, davon ist der in Brooklyn lebende Autor Nathan Englander überzeugt. In seinem jüngsten Roman "Dinner am Mittelpunkt der Erde" zeigt der jüdisch-amerikanische Schriftsteller, dass jene Friedenskeime dabei nicht so sehr in den Biographien der großen politischen Protagonisten zu finden sind, sondern vielmehr im Alltag derer, die täglich unter den Konflikten leiden. Verpackt in einem kurzweiligen Agenten-Thriller hat sich Englander zu den komplexen geschichtlichen Verhältnissen nämlich eine Vielzahl lebendiger Schicksale erdacht. An ihnen lässt er die abstrakten politischen Probleme der Jüngstvergangenheit konkret werden:
"Alles in diesem Buch ist eine Doublette, das ist ein hebräisches Konzept, 'Hafuch al Hafuch' – niemand ist der, der er zu sein scheint, jeder ist das Gegenteil von ihm selbst. Und wenn ich meinen Job als Autor dabei ordentlich gemacht habe, dann wirken die Figuren in meinem Buch zwar besser real auf Sie, dann laufen und reden Sie besser so, als gäbe es sie wirklich, doch zugleich verkörpern sie auch all diese Konflikte, diesen einen großen Konflikt, in dem wir alle verschiedene Personen zugleich sind und multiple Selbsts haben."
Ein Spion wechselt die Seiten
Am besten verkörpert ist diese komplizierte Gemengelage in der Hauptfigur Joshua, einem wie Englander in Long Island bei New York geborenen Amerikaner. Denn der nicht allzu talentierte Mossad-Spion entwickelt im Lauf seiner Tätigkeit ein differenzierteres Verständnis für die Gründe der Gewalt und ihre mögliche bilaterale Lösung. Doch das wird ihm beim Ausführen seiner heiklen Missionen als moralischer Ballast immer hinderlicher im Verlauf der Handlung. Bei einem Deal, bei dem manipulierte Computerhardware in den Gazastreifen eingeschleust werden soll, werden ihm die möglicherweise tödlichen Konsequenzen seiner Arbeit klar. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er mit seinem palästinensischen Unterhändler Farid beim Segeln auf dem Berliner Wannsee Freundschaft schließt – und so einen Blick auf die andere Seite wirft. Kurzerhand ergreift Joshua Initiative. Er teilt sensible Informationen mit der Gegenseite, verstößt dabei aber gegen das Geheimdienstprotokoll. Fortan ist er auf der Flucht.
"Ich habe über alle möglichen Gründe nachgedacht, warum Spione zu verschiedenen Zeiten übergelaufen sind. Etwa der Spion, der aus Gier überläuft oder aus einer Persönlichkeitsstörung heraus, aufgrund von Erpressung oder Bestechung. Ich dachte mir: Wie wäre es mit einem Spion, der knietief drinsteckt und auf einmal beginnt, mit der anderen Seite zu fühlen? Ich habe mir einfach jemanden vorgestellt, der in ein neues Land zieht, die dortige Ideologie übernimmt, und so tief reingezogen wird, dass er streng verdeckte Undercover-Spionage für den Mossad betreibt. Und dieser Typ wird mit einem Mal zum Verräter. Und ich dachte mir 'Was wenn es Mitleid ist, das ihn überlaufen lässt?"
Zahlreiche Handlungsstränge, packend erzählt
Auf der Flucht vor den einstigen Kollegen versteckt sich der in Ungnade gefallene Spion zunächst in Paris, wo er sich in eine ebenfalls jüdische Italienerin verliebt. In die Ecke gedrängt, beschließt er, mit ihr zu fliehen. Um diesen Anfang der 2000er angelegten, packenden Hauptstrang spinnt Englander drei Nebenhandlungen. Da sind einerseits der im Koma liegende General und seine intimste Vertraute. Als Ministerpräsident Israels hat er den Friedensprozess in Gang gesetzt, als junger General aber einst radikal gegen die Palästinenser gekämpft. In der Romanfigur ist unschwer der nach einem Schlaganfall selbst acht Jahre im Koma liegende ehemalige Ministerpräsident Ariel Scharon zu erkennen. Während seine Vertraute am Krankenbett mit dem sich verwässernden politischen Vermächtnis des Generals hadert, verschlechtert sich dessen Zustand, was wiederum Auswirkungen auf den dritten Handlungsstrang des Romans hat.
Denn am Ende ist da noch der Gefangene Z und sein Wärter. Als politischer Häftling sitzt ersterer bereits seit zwölf Jahren irgendwo in der Negev Wüste und wähnt sich von allen vergessen. Zuviel sei an dieser Stelle nicht verraten, nur das: Über den gesundheitlichen Zustand seines Peinigers – der General im Koma – ist der Häftling im Unklaren. Erst ganz am Ende des Romans sucht der Wärter, zu dem der Häftling über die Jahre eine Stockholm-Syndrom-artige Beziehung aufgebaut hat, das Gespräch:
"Das ist eine Menge auf einmal für Häftling Z. Es klingt so, als sagte der Wärter, dass der General, der ihn hier eingesperrt und ausgelöscht hat, der Einzige, der ihn hier wieder herausbringen kann und befreien könnte, dass dieser Mann nicht mehr existiert."
Komplexes Figurengefüge
Eine große Stärke von Englanders Figurenzeichnung ist, dass uns Charaktere wie Z und deren Schicksal gleich zu Beginn bekannt vorkommen, der Groschen mit Blick auf ihre jeweilige Rolle im Gesamtgefüge der Romanhandlung aber erst spät und mit viel Effekt fällt. Zwischen Kanada, Long Island, Berlin, Paris, Jerusalem, einem Krankenhaus in Tel Aviv und der Ödnis der Wüste Negev entspinnt sich allmählich ein Netz, das enger verwoben ist, als man es zunächst ahnt.
"Dass es so weit gekommen ist, dachte Häftling Z, hat seinen Ursprung so viel früher. Sein Jerusalem, sein Israel, sein Ende. Sein Geburtsrecht. Vor so langer Zeit wurde ihm das eingetrichtert, daheim in der Vorstadt, daheim in Amerika, im Klassenzimmer seiner jüdischen Schule, ihm dem kleinen Jungen mit dem schweren Gebetbuch und der Jarmulke, die ihm wie ein umgedrehter Suppenteller auf dem Kopf saß."
Politische motivierter Roman
Den Plan für einen Roman, so Englander, habe es schon seit der zweiten Intifada im Jahr 2000 gegeben, als der Friedensprozess noch in vollem Gang war. Erst mit Wegfallen des politischen Ballastes jedoch habe sich für ihn die nötige innere Distanz eingestellt, die letztlich zum Schreiben führte:
"Ich weiß nicht, wie oft ich, seitdem dieses Buch erschienen ist, abends eine Bühne betreten und bei einer Lesung gesagt habe 'Und wieder sterben auf beiden Seiten Leute, wieder fliegen Geschütze, Israel greift Gaza an, usw.' Ich kann einfach nicht begreifen, dass das ein akzeptabler Status Quo ist. Die einzig humane und praktikable Option ist der Frieden! Für alle, die meinen, 'das ist doch lächerlich!' – zeigt mir, wie für euch die andere Zukunft aussieht, denn irgendwann wird irgendwer diesen Konflikt einmal gewinnen, und wie immer das dann aussehen mag – es ist ein Alptraum für mich. Wählt eure Seite, wählt eure Politik; aber wenn ihr diesen Konflikt gewinnen wollt, denkt daran: da sind sehr viele Leute auf der anderen Seite, und ich will nicht sehen wie es aussieht, wenn eine der beiden Seiten gewinnt."
Als ein eindringliches Plädoyer für genau jenen Frieden darf man letztlich auch Englanders Roman lesen. Zugleich zeigt er, wo dieser Frieden am besten zu finden ist: Im Dialog nämlich, der das Schwarz-und-Weiß beider Seiten, wie es oft in der politischen Darstellung bemüht wird, aufbricht. Das spiegelt sich wunderbar in den Figuren, die die eigene Position immer wieder überwinden und revidieren – und damit die Endlosspirale von Auge um Auge, Zahn um Zahn durchbrechen. Ganz am Ende des Romans wird so letztlich ein enger, wackliger Tunnel zum Bild, in dem sich zwei der Figuren unter der im Raketenhagel versinkenden Grenze zum Gazastreifen treffen und das Unmögliche des im Titel zitierten Dinners am Mittelpunkt der Erde eben doch möglich machen: Sie kommen zusammen und reden miteinander.
Nathan Englander: "Dinner am Mittelpunkt der Erde"
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand Verlag, München. 288 Seiten, 22 Euro.