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Anthropozän
Nathaniel Rich betont Verantwortung für Eingriffe in die Natur

Für den Schutz der Umwelt in ihrer bisherigen Form ist es zu spät, erklärt der amerikanische Autor Nathaniel Rich. Nichts könne in einen ursprünglichen Zustand versetzt werden. Und bei Eingriffen oder Renaturierungen müssten weitere Folgen bedacht werden.

Von Matthias Becker |
Das Buchcover von Nathaniel Rich: "Die zweite Schöpfung" vor einen landwirtschaftlich bearbeiteten Feld mit Mähdreschern
Bestseller-Autor Rich: Natur im eigentlichen Sinn gibt es gar nicht mehr (Buchcover Rowohlt Berlin / Hintergrund pircture alliance/dpa/ Jens Büttner)
„Sie haben PFOA im Blut. Es ist im Blut Ihrer Eltern, im Blut Ihrer Kinder, im Blut Ihrer Liebsten. Wie ist es dort hingelangt? Durch die Luft, durch die Nahrung, durch den Gebrauch von Antihaft-Kochgeschirr, durch die Nabelschnur. Überall, wo Wissenschaftler:innen auf PFOA getestet haben, haben sie es auch gefunden. Es befindet sich in den Organen von Atlantischen Lachsen, Schwertfischen, Rotbarben, Kegelrobben, Kormoranen, Alaska-Eisbären, Meeresschildkröten und Seelöwen, und auch in Albatrossen auf Sand Island, einem Naturschutzgebiet mitten im Nordpazifik.“
PFOA sind Fluorverbindungen, die unter anderem bei der Herstellung von Outdoor-Funktionskleidung eingesetzt werden. Diese Stoffe lassen Flüssigkeiten abperlen, sie sind langlebig und widerstandsfähig – unglaublich praktisch, aber langfristig gesundheitsschädlich. Vor allem aber lassen sie sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Es handelt sich um eine sogenannte Ewigkeitschemikalie: Sie wird nicht abgebaut, sondern reichert sich immer weiter an. Ein drastisches Beispiel, mit dem Nathaniel Rich verdeutlicht, dass wir unsere Umwelt bereits unwiderruflich umgestaltet haben.
„Was wir mit unangebrachter Nostalgie noch immer floskelhaft ‚die Welt der Natur‘ nennen, ist verschwunden, falls sie je existiert hat. Kaum ein Stein, Blatt oder Kubikmeter Luft ist nicht von unserer ungeschickten Hand gezeichnet.“

Kein Weg zurück

Dies ist der Ausgangspunkt für „Die zweite Schöpfung“: Die Menschheit hat die bisherigen Landschaften, Nahrungsketten und auch die Kreisläufe des Klimasystems bereits zu stark verändert, als dass noch ein Weg „zurück zur Natur“ führen würde. Der frühere Zustand der Ökosysteme lässt sich nicht wiederherstellen. Aber natürlich müssen wir das Überleben wenigstens einiger Tiere, Pflanzen und Naturräume gewährleisten, schon um unsere eigene Existenz zu sichern. In dieser Situation wird die ökologische Frage gleichzeitig dringlicher und schwieriger zu beantworten.
Nathaniel Rich führt hierzu als Beispiel die Atlantikküste im US-Bundesstaat Louisiana an. Dort versinkt das Marschland, denn der Meeresspiegel steigt. Dieses Ökosystem lässt sich nicht mehr retten. Umweltschützer können lediglich eine neue Landschaft schaffen, die wenigstens einigen Tier- und Pflanzenarten Zuflucht bietet. Ein Aktivist aus Louisiana, den Nathaniel Rich zitiert, bringt die Lage folgendermaßen auf den Punkt:
„Es gibt keine unberührte Umwelt mehr, die man einfach sich selbst überlassen kann. Über diesen Punkt sind wir hinaus. Wenn du etwas kaputt machst, bist du dafür verantwortlich. Tja, wir haben jetzt die Verantwortung.“
Im englischen Original heißt das Buch „Die zweite Natur“, völlig unbekümmert um die philosophische Tradition von Hegel bis Adorno, die mit diesem Begriff verknüpft ist. Nein, Nathaniel Rich meint damit, ganz praktisch: Das Leben auf der Erde - Tiere, Pflanzen und ihre Habitate sind mittlerweile gesellschaftlichen Entscheidungen ausgeliefert. Wir leben in einer „Zeit schrecklicher Verantwortung“, formuliert der Autor.
„Wenn künftig etwas Wildnisähnliches überleben soll, kann das nur durch eine sehr aufmerksame und bewusste Steuerung geschehen. Ein bedrohtes Ökosystem ist, wie jeder Patient in kritischem Zustand, auf eine ständig eingreifende Pflege angewiesen.“

Das widersprüchliche Verhältnis zur Natur

An welchen Kriterien kann sich die Pflege der Umwelt im Anthropozän orientieren? Welchen Interessen soll sie dienen? Wie wird überhaupt darüber entschieden, was schützenswert ist?
Das sind bedeutsame Fragen. Nathaniel Rich nähert sich ihnen aber nicht systematisch und begrifflich-theoretisch, sondern beschreibend. Tatsächlich handelt es sich bei „Die zweite Schöpfung“ um eine Sammlung von Reportagen, die er für verschiedene Zeitungen und Magazine geschrieben hat. Sie handeln unter anderem von einem rätselhaften Massensterben der Seesterne im Pazifik, von der lokalpolitischen Debatte im noblen Ski-Ort Aspen, dem aufgrund der Erderwärmung der Schnee abhanden kommt, oder dem Versuch, mit Hilfe von gentechnischen Verfahren ausgestorbene Tierarten wieder zum Leben zu erwecken.
Diese Aufzählung zeigt: Nathaniel Rich interessiert das Zwiespältige und Widersprüchliche, auch das Obskure und Groteske. Manche Passagen klingen fast wie eine Satire, obwohl sie auf Fakten beruhen. Den Industriestandort, wo die toxische Ewigkeitschemikalie PFOA hergestellt wurde, charakterisiert der Autor folgendermaßen:
„Die Jugendlichen schlichen sich an Sommerabenden mit ihren Freunden zu einem warmen Teich auf dem Industriegelände, der von zweiköpfigen Fröschen bevölkert war. Die Jungen fingen die kleinen Monster, die Mädchen kreischten, und die Paare knutschten zum Klang der missgebildeten Frösche, die aus beiden Mäulern quakten.“
„Die zweite Schöpfung“ ist ein durch und durch amerikanisches Werk: Fast alle Protagonisten, Beispiele und intellektuellen Einflüsse kommen aus den Vereinigten Staaten; auch die Besonderheiten der dortigen Umweltpolitik spielen eine wichtige Rolle.
Dennoch hat Nathaniel Rich auch deutschen Leser:innen etwas zu sagen, oder besser: etwas zu erzählen. Seine Zitat „Geschichten von Menschen in der Zeit schrecklicher Verantwortung“ machen deutlich, in welchen Widersprüchen sich unser Verhältnis zur Natur verfangen hat. Letztlich kreisen sie alle um die Frage, ob wir unserer Verantwortung für den Planeten überhaupt gerecht werden können. Eine Antwort darauf hat der Autor nicht anzubieten, aber seine Reportagen machen Spaß und regen gleichzeitig zum Nachdenken an.
Nathaniel Rich: „Die zweite Schöpfung. Wie der Mensch die Natur für immer verändert“, Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Rowohlt Verlag, 320 Seiten, 24 Euro.