Die Regierung soll endlich die Forderungen erfüllen, die der letzte Gewerkschaftskongreß beschlossen hat. Anderenfalls ist ein Generalstreik nicht ausgeschlossen. Die Regierung und der Internationale Währungsfonds setzen sich hochmütig über uns hinweg. Es wird eine Revolution geben und verantwortlich sind der Internationale Währungsfonds und die Weltbank.
Präsident Carlos Mesa, der im Oktober die Nachfolge des aus dem Amt gejagten Gonzálo Sánchez de Losáda übernommen hat, steht zwischen den Fronten: Auf der einen Seite muß er das Land aus dem Bankrott führen und Sparmaßnahmen durchsetzen.
Auf der anderen Seite steht ihm eine Volksbewegung entgegen - angeführt von den Gewerkschaften, von Evo Moráles und seinem MAS, der "Bewegung für den Sozialismus", und von Felipe Quispe, der den indianischen Widerstand organisiert und den bewaffneten Kampf nicht ausschließt.
Morales will die nächsten Wahlen gewinnen. Er unterstützt die derzeitige Regierung "kritisch", wie er sagt, lehnt radikale Vorschläge ab. Bewaffnete Gruppen haben in den letzten Wochen angekündigt, das Parlament in La Paz zu besetzen und aufzulösen. Daraufhin hat der Parlamentspräsident einen Beschluß durchgesetzt, wonach im Krisenfall der Kongreß auch im Landesinneren tagen könne.
Morales warnt vor einer Zuspitzung der Situation. Er fürchtet einen Staatsstreich von rechts und will als Auftraggeber die US-Botschaft ausgemacht haben. Sie wolle mit Gewalt einen linken Wahlsieg und ein neues Gesetz über fossile Brennstoffe
verhindern, um in den Besitz des Erdöls und der Gasvorkommen zu gelangen. Bürgerkriegsähnliche Zustände könnten als Vorwand für eine Invasion aus dem Ausland benutzt werden. Es sei kein Zufall, dass paramilitärische Gruppen in den Koka-Anbaugebieten, im Chapare und in den Yungas, auftreten. Auch hinter ihnen vermutet Morales die US-Botschaft.
Ob seine Warnungen gehört werden, ist zweifelhaft, denn er kontrolliert nicht mehr die soziale Bewegung. Sie hat seit vergangenem Oktober, als sie den amtierenden Präsidenten aus dem Amt jagte, Aufschwung bekommen. Und viele Menschen haben keine Alternative. In Bolivien wird gehungert.
Das Land war schon immer arm, aber seitdem die Kokafelder im Chapare, zwischen Cochabamba und Santa Cruz, auf Druck der US-Botschaft vernichtet worden sind, ist den Bauern ihre letzte Lebensgrundlage genommen worden.
Täglich erleiden wir Repression, sagt Gabriel Carranza. Ein Koka-Bauer, wie sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater.
Eine Kampagne wird gegen uns geführt, im Land und aus dem Ausland, im Auftrag der US-Botschaft. Sie behaupten, dass auf den Feldern in den Yungas (im traditionellen Anbaugebiet im Norden von La Paz) zuviel und illegal Koka produziert wird, angeblich für die Herstellung von Kokain. Dabei dient die dort angebaute Koka dem traditionellen, rituellen, religiösen und medizinischen Konsum.
Jahrelang haben Agrarwissenschaftler und Entwicklungshelfer, auch aus Deutschland, Alternativen zur Koka angeboten. Die Bauern sollten Zitrusfrüchte, Bohnen und Kaffee anpflanzen, rieten sie ihnen.
Die Koka ernten wir drei bis vier mal im Jahr. Jeder Kokabauer besitzt mehrere kleine Felder und erntet jede Woche ein bißchen, was er gerade braucht. Andere Produkte können wir nur einmal im Jahr ernten und erzielen mit ihnen schlechte Preise. Wir müssen sie mit Koka subventionieren.
Seit zwei Jahren werden überall im Land Straßen blockiert, zum Teil sogar zerstört. Jahrelang waren die Organisationen der Koka-Bauern zerstritten. Sie hatten sich auf den Kongressen gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Jetzt hat sie die soziale Not vereint.
Präsident Mesa hat einen Kompromiss angeboten. Eine Volksabstimmung soll über ein neues Gesetz über fossile Brennstoffe entscheiden. Aber er hat keinen finanziellen Spielraum. Die Staatskasse ist leer, die Auslandsschuld so hoch wie nie zuvor. Die letzten Sparmaßnahmen der Regierung haben noch einmal die Proteste verschärft. Subventionen wurden gestrichen, und die Mittelschicht soll eine Sondersteuer von anderthalb Prozent auf ihr Vermögen zahlen. Das bedeutet für die Besitzer einer kleinen Wohnung im Wert von 80.000 Euro, eine Abgabe von zwölfhundert Euro. Ein Vermögen im heutigen Bolivien. Täglich radikalisiert sich die Bewegung.
Überall diskutieren die Gewerkschaften über die nächsten Schritte. Auch in Tarija, im Südosten des Landes, treffen sich die Delegierten. Erschienen sind die Bauarbeiter, die Bauern-Föderation, die Gewerkschaft der Lehrer der Landschulen, die Krankenpfleger, die Handwerker und die pensionierte Lehrer.
Wir stehen vor einem revolutionären Prozess, glaubt Fernando Cavéro, zweiter Mann des Dachverbandes in Tarija.
Die Proteste begannen im September vergangenen Jahres, als in Cochabamba die Preise für Trinkwasser erhöht wurden. Dann stieg in La Paz die Polizei auf die Barrikaden. Und schließlich wehrte sich die Mittelschicht gegen den geplanten Steuerabzug in Höhe von 13 Prozent des Gehaltes. Im Oktober befand sich das Land in einer offenen Rebellion. Fast achtzig Menschen wurden von Sicherheitskräften erschossen. Und in dieser Situation wurde der Plan bekannt, dass ein ausländisches Unternehmen unsere Gasvorkommen über einen chilenischen Hafen nach Kalifornien exportieren will.
Chile gilt für die Bolivianer als "Erbfeind", seit es vor 130 Jahren, im "Pazifischen Krieg", Teile Boliviens annektiert und damit das Land seiner Küste und dem Zugang zu Häfen beraubt hat.
Täglich wird gegen die Regierung in Santiago protestiert, auf den Straßen werden chilenische Fahnen verbrannt. Oft soll damit nur von der Wirtschaftskrise abgelenkt werden, glaubt der Gewerkschafter Cavero:.
Das Haushaltsdefizit beträgt über zwei Milliarden Dollar, wir haben Schulden von fünf Milliarden Dollar. Die Regierung kann nur noch dank der Hilfsgelder aus Europa und der internationalen Organisationen Löhne und Gehälter zahlen. Und die US-Regierung besteht darauf, diese Haushaltslücke jetzt zu schließen.
Ein friedlicher Ausweg scheint unwahrscheinlich und viele fürchten sich vor der Zukunft, so Cavero:
Die Stadt La Paz wirkt von hier aus wie eingekesselt von Streiks und Demonstranten, die unerfüllbare Forderungen stellen. Die Städte im Osten hingegen wollen arbeiten und sich entwickeln.
In Tarija wähnt man sich noch weit weg von der Gewalt im Hochland. Dort lagern riesige Gasvorkommen, das Department gilt als das "südamerikanische Kuwait". Im Oktober platzte das Milliardengeschäft und überall in Bolivien wurden Freudenfeste gefeiert. Nur die Menschen in Tarija fühlten sich verraten.
Zwölf Uhr Mittags. Auf der Plaza in Tarija haben sich Jurastudenten versammelt, in Anzug und Krawatte. Sie demonstrieren nicht, wie ihre Kommilitonen im restlichen Bolivien, gegen Chile und gegen die Ausbeutung. Sie demonstrieren für Autonomie. Für einen eigenen Staat. Weil sie mit dem restlichen Bolivien nichts mehr zu tun haben wollen. Sie fordern eine verfassunggebende Versammlung und wollen sich von der Zentralregierung in La Paz nicht länger bevormunden lassen.
Ich habe beschlossen, nicht mehr Bolivianer zu sein. Ich gebe meine Staatsangehörigkeit ab und will Staatsangehöriger Tarijas werden. Bolivien hat uns immer betrogen und wird uns weiter betrügen.
Edmundo Avila ist Separatist. Er ist Musikredakteur bei Radio Guadalquivir, benannt nach dem Fluß, der Tarija durchzieht. Seinen Paß hat er nicht zurückgeschickt, meint er, aber er will das Department in einen eigenen Staat verwandeln. Er würde einer der reichsten Staaten dieses Planeten werden, ein zweites Kuwait.
Wir haben das Gasgeschäft wegen einem einzigen Indianer verloren. Wegen "Malévolo", wie ich sie nenne: (Fernando Quispe, genannt) Mallku und Evo Morales. Das Gas im Boden bringt uns nichts, wir müssen es fördern. Wir sind die Eigentümer des Gases und niemand hat sich in unsere Geschäfte einzumischen.
Morales und Quispe, die Anführer der Oktoberrevolte, sind beide indianischer Abstammung. Und beide machen Politik in La Paz, Orúro oder Cochabamba, in Städten des Hochlandes. Tarija aber liegt auf einer Höhe von nur 1800 Metern, weit entfernt von der Zentralregierung.
Wenn Sie ein Radio aufmachen wollen, brauchen Sie die Genehmigung von La Paz. Die Rente muß in La Paz beantragt werden. Wer Kieselsteine aus dem Fluß gewinnen will, muß sich dies von Potosí erlauben lassen. Wollen wir eine Straßenlaterne aufstellen, müssen wir den Auftrag landesweit ausschreiben und dann kommen die großen Gangsterfirmen her.
Im Department Tarija leben insgesamt 400.000 Menschen, ein verlorener Winkel, der kaum zu erreichen ist. Auch daran sei La Paz schuld.
Überall sind Landstraßen asphaltiert worden, Tausende von Kilometern! Nur in Tarija haben wir erst 15 Kilometer Asphalt bekommen. Seit 50 Jahren fordern wir eine richtige Straße nach Bermejo, nach Argentinien. Nicht eine einzige Straße führt in unsere Provinz Chaco. Wenn wir eine Straße bauen wollen, müssen wir beim zentralen Verkehrsamt in La Paz eine Genehmigung beantragen. Und die kriegen wir nie.
Mit der Kultur des Hochlandes habe das Department, das "Andalusien Amerikas", nichts gemein. Im Hochland werde Aymara und Quechua gesprochen, Pachamama, Mutter Erde, verehrt. Bei ihnen hingegen, lebten vor der Ankunft der Spanier die Guaraní, Tiefland-Indianer. Ein völlig anderer Menschenschlag, meint Avila.
Wir bekennen uns zu unserem spanischen Erbe. Unsere Musik stammt aus Spanien. Wir sprechen kein Quechua oder Guaraní. Wir sind anders. Trotzdem wird an unserer Universität quechua gelehrt. Wenn eine andere Sprache gelehrt wird, dann sollte es Guarani sein, das sind unsere Wurzeln. Aber das läßt der Zentralismus nicht zu. Deshalb will ich nicht mehr Bolivianer sein.
Viele Tarijéños bedauern, dass der geplante Gasexport nach Kalifornien nicht zustande gekommen ist. Sie glauben, dass ihnen Millionen verloren gehen: Die Konzerne zahlen auf den Umsatz 18 Prozent "regalías", Abgaben. Von diesen achtzehn Prozent entfallen elf Prozent auf das Department Tarija. Doch das Geschäft ist im Oktober geplatzt. Gescheitert an der Volksrebellion im Altipláno, im Hochland, die in den ausländischen Erdölgesellschaften "imperialistische Ausbeuter" sehen.
Die Tarijéños wollen das Gas verkaufen, betont auch der Präsident des lokalen Bürgerkomitees, Roberto Ruiz:
Wir wurden als Vaterlandsverräter, Separatisten und Rassisten beschimpft. Das Ziel dieser Desinformations-Kampagne war der Sturz der demokratisch gewählten Regierung Sanchez de Losada. Dazu brauchen sie eine Forderung, hinter die sich alle stellen konnten: den Gas-Export zu verhindern.
Sie seien keine Separatisten, behauptet Ruiz, wollen aber eine neue Verfassung, die ihnen größere Autonomie zusichert. Nach dem Volksaufstand im Oktober haben die Investoren – British Petroleum und Shell – einen Liefervertrag mit Indonesien und Australien abgeschlossen. Die Märkte in Kalifornien sind damit auf zehn Jahre versorgt, Tarija für Jahre aus dem Spiel, meint Ruiz verbittert.
Welche Bündnispartner wir haben? Vor allem die Regionen, die unsere Ansichten teilen. Wir nennen sie die Departments des "Halbmondes", Pando, Beni, Santa Cruz und Tarija. Die letzte Volksbefragung unterstrich unsere Gemeinsamkeiten. 76 Prozent der Bevölkerung Benis und 83 Prozent von Pando bekennen sich zur westlichen und spanischsprachigen Kultur. In Santa Cruz sind es 72, in Tarija achtzig Prozent. Die Menschen dieser Departments fühlen sich nicht der Aymara- oder Quechua-Kultur zugehörig sondern verteidigen die Werte der westlichen Zivilisation. Die Menschen in La Paz und Oruro hingegen verstehen sich als Aymara und in Cochabamba, Chuquisaca und Potosí als Quechua.
Diese Ansicht entbehre jeglicher historischen und anthropologischen Grundlage, heißt es bei der "Ständigen Versammlung für Menschenrechte". Vor der spanischen Eroberung war diese Gegend von verschiedenen Ethnien bewohnt. In den Tälern lebten Aymara, Guarani und Quechua-Indianer, die dem kulturellen und militärischen Einfluß des Inka-Reiches unterstanden. Erst seit sechs Jahren, mit dem Boom des Gases und des Erdöls, entstand der Mythos vom "amerikanischen Andalusien", so Tamer Medina. Der junge Menschenrechtsanwalt vermutet hinter den Plänen, die Departments des "Halbmondes" von Bolivien abzutrennen, wirtschaftliche Interessen.
Das wäre nicht das erste Mal, dass ausländische Interessen ein Land zerreissen. Dasselbe ist mit Panama und Kolumbien passiert. Panama war eine Provinz Kolumbiens, als die USA den Kanal bauen wollten. Kolumbien stellte sich diesen Plänen in den Weg. Daraufhin betrieben die US-Regierung und ihre Geheimdienste die Abtrennung Panamas von Kolumbien. Und ein Jahr später wurde der Vertrag über den Bau des Kanals unterschrieben. Etwas ähnliches passiert derzeit in Tarija. Die multinationalen Unternehmen wollen ihre Interessen durchsetzen und betreiben, mit chilenischer Hilfe, die Abtrennung Tarijas von Bolivien.
Die Multis haben einen Plan, glaubt Medina. Und zu seiner Durchsetzung werden die Tarijeños als bedrohte Minderheit dargestellt: spanisch-sprechend, mit europäischen Vorfahren und Teil der westlichen Zivilisation. Sie seien in Gefahr, von "indianischen Horden" aus dem Hochland überfallen und an ihrer Entwicklung gehindert zu werden.
In vielen Zeitungsartikeln wird davon geredet, dass im Falle der indianischen Invasion die schutzlosen Tarijeños die Vereinten Nationen und die Nachbarländer um Hilfe bitten werden. Es wird nicht offen ausgesprochen, WER diese "schutzlosen Tarijeños" verteidigen soll. Aber in meinen Augen kommt nur Chile in Frage. So würde eine Annexion des bolivianischen Südens durch Chile nicht als Aggression sondern als Rettungsaktion erscheinen, um die permanent von irrationalen und indianischen Horden angegriffenen Menschen zu schützen. Auch Potosí muß aus dem bolivianischen Staatsgebilde herausgebrochen werden, denn die Gasleitung zum chilenischen Pazifikhafen durchquert das Department.
Es steht viel Geld auf dem Spiel, meint Rechtsanwalt Medina, für die multinationalen Unternehmen und ihre lokalen Verbündeten. In den vergangenen Jahren hat das Department 200 Millionen Dollar an Regalias erhalten. Wo dieses Geld gelandet ist, erscheint unklar, die Bevölkerung hat davon wenig gesehen.
Ab 2005 werden durch den Verkauf von Naturgas an Brasilien jährlich 50 Millionen Dollar in die Kassen Tarijas fließen. Die traditionellen Parteien haben nach zahlreichen Korruptionsskandalen Mitglieder und Macht verloren, ihre Politiker kontrollieren die Situation nicht mehr. Und eine breite Bewegung verlangt politische Veränderungen.
Die letzten nationalen Wahlen haben die regionale Elite erschreckt. Der MAS, die Bewegung für den Sozialismus von Evo Morales, ist landesweit auf den zweiten Platz gelangt und stellt sich als politische Alternative dar. Der MAS ist in ihren Augen radikal, links und von Menschen angeführt, die indigenen Ursprungs sind. Das Wahlergebnis hat in den Departments, die sich als "westlich", "weiss" und "christlich" definieren, Panik ausgelöst. Der MAS fordert die "Nationalisierung der Gas- und Erdölvorkommen", und die regionale Elite fürchtet um ihre Geschäfte. Sie haben Angst, dass die Multis das Land verlassen und sie ihre Privilegien verlieren.
Präsident Carlos Mesa, der im Oktober die Nachfolge des aus dem Amt gejagten Gonzálo Sánchez de Losáda übernommen hat, steht zwischen den Fronten: Auf der einen Seite muß er das Land aus dem Bankrott führen und Sparmaßnahmen durchsetzen.
Auf der anderen Seite steht ihm eine Volksbewegung entgegen - angeführt von den Gewerkschaften, von Evo Moráles und seinem MAS, der "Bewegung für den Sozialismus", und von Felipe Quispe, der den indianischen Widerstand organisiert und den bewaffneten Kampf nicht ausschließt.
Morales will die nächsten Wahlen gewinnen. Er unterstützt die derzeitige Regierung "kritisch", wie er sagt, lehnt radikale Vorschläge ab. Bewaffnete Gruppen haben in den letzten Wochen angekündigt, das Parlament in La Paz zu besetzen und aufzulösen. Daraufhin hat der Parlamentspräsident einen Beschluß durchgesetzt, wonach im Krisenfall der Kongreß auch im Landesinneren tagen könne.
Morales warnt vor einer Zuspitzung der Situation. Er fürchtet einen Staatsstreich von rechts und will als Auftraggeber die US-Botschaft ausgemacht haben. Sie wolle mit Gewalt einen linken Wahlsieg und ein neues Gesetz über fossile Brennstoffe
verhindern, um in den Besitz des Erdöls und der Gasvorkommen zu gelangen. Bürgerkriegsähnliche Zustände könnten als Vorwand für eine Invasion aus dem Ausland benutzt werden. Es sei kein Zufall, dass paramilitärische Gruppen in den Koka-Anbaugebieten, im Chapare und in den Yungas, auftreten. Auch hinter ihnen vermutet Morales die US-Botschaft.
Ob seine Warnungen gehört werden, ist zweifelhaft, denn er kontrolliert nicht mehr die soziale Bewegung. Sie hat seit vergangenem Oktober, als sie den amtierenden Präsidenten aus dem Amt jagte, Aufschwung bekommen. Und viele Menschen haben keine Alternative. In Bolivien wird gehungert.
Das Land war schon immer arm, aber seitdem die Kokafelder im Chapare, zwischen Cochabamba und Santa Cruz, auf Druck der US-Botschaft vernichtet worden sind, ist den Bauern ihre letzte Lebensgrundlage genommen worden.
Täglich erleiden wir Repression, sagt Gabriel Carranza. Ein Koka-Bauer, wie sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater.
Eine Kampagne wird gegen uns geführt, im Land und aus dem Ausland, im Auftrag der US-Botschaft. Sie behaupten, dass auf den Feldern in den Yungas (im traditionellen Anbaugebiet im Norden von La Paz) zuviel und illegal Koka produziert wird, angeblich für die Herstellung von Kokain. Dabei dient die dort angebaute Koka dem traditionellen, rituellen, religiösen und medizinischen Konsum.
Jahrelang haben Agrarwissenschaftler und Entwicklungshelfer, auch aus Deutschland, Alternativen zur Koka angeboten. Die Bauern sollten Zitrusfrüchte, Bohnen und Kaffee anpflanzen, rieten sie ihnen.
Die Koka ernten wir drei bis vier mal im Jahr. Jeder Kokabauer besitzt mehrere kleine Felder und erntet jede Woche ein bißchen, was er gerade braucht. Andere Produkte können wir nur einmal im Jahr ernten und erzielen mit ihnen schlechte Preise. Wir müssen sie mit Koka subventionieren.
Seit zwei Jahren werden überall im Land Straßen blockiert, zum Teil sogar zerstört. Jahrelang waren die Organisationen der Koka-Bauern zerstritten. Sie hatten sich auf den Kongressen gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Jetzt hat sie die soziale Not vereint.
Präsident Mesa hat einen Kompromiss angeboten. Eine Volksabstimmung soll über ein neues Gesetz über fossile Brennstoffe entscheiden. Aber er hat keinen finanziellen Spielraum. Die Staatskasse ist leer, die Auslandsschuld so hoch wie nie zuvor. Die letzten Sparmaßnahmen der Regierung haben noch einmal die Proteste verschärft. Subventionen wurden gestrichen, und die Mittelschicht soll eine Sondersteuer von anderthalb Prozent auf ihr Vermögen zahlen. Das bedeutet für die Besitzer einer kleinen Wohnung im Wert von 80.000 Euro, eine Abgabe von zwölfhundert Euro. Ein Vermögen im heutigen Bolivien. Täglich radikalisiert sich die Bewegung.
Überall diskutieren die Gewerkschaften über die nächsten Schritte. Auch in Tarija, im Südosten des Landes, treffen sich die Delegierten. Erschienen sind die Bauarbeiter, die Bauern-Föderation, die Gewerkschaft der Lehrer der Landschulen, die Krankenpfleger, die Handwerker und die pensionierte Lehrer.
Wir stehen vor einem revolutionären Prozess, glaubt Fernando Cavéro, zweiter Mann des Dachverbandes in Tarija.
Die Proteste begannen im September vergangenen Jahres, als in Cochabamba die Preise für Trinkwasser erhöht wurden. Dann stieg in La Paz die Polizei auf die Barrikaden. Und schließlich wehrte sich die Mittelschicht gegen den geplanten Steuerabzug in Höhe von 13 Prozent des Gehaltes. Im Oktober befand sich das Land in einer offenen Rebellion. Fast achtzig Menschen wurden von Sicherheitskräften erschossen. Und in dieser Situation wurde der Plan bekannt, dass ein ausländisches Unternehmen unsere Gasvorkommen über einen chilenischen Hafen nach Kalifornien exportieren will.
Chile gilt für die Bolivianer als "Erbfeind", seit es vor 130 Jahren, im "Pazifischen Krieg", Teile Boliviens annektiert und damit das Land seiner Küste und dem Zugang zu Häfen beraubt hat.
Täglich wird gegen die Regierung in Santiago protestiert, auf den Straßen werden chilenische Fahnen verbrannt. Oft soll damit nur von der Wirtschaftskrise abgelenkt werden, glaubt der Gewerkschafter Cavero:.
Das Haushaltsdefizit beträgt über zwei Milliarden Dollar, wir haben Schulden von fünf Milliarden Dollar. Die Regierung kann nur noch dank der Hilfsgelder aus Europa und der internationalen Organisationen Löhne und Gehälter zahlen. Und die US-Regierung besteht darauf, diese Haushaltslücke jetzt zu schließen.
Ein friedlicher Ausweg scheint unwahrscheinlich und viele fürchten sich vor der Zukunft, so Cavero:
Die Stadt La Paz wirkt von hier aus wie eingekesselt von Streiks und Demonstranten, die unerfüllbare Forderungen stellen. Die Städte im Osten hingegen wollen arbeiten und sich entwickeln.
In Tarija wähnt man sich noch weit weg von der Gewalt im Hochland. Dort lagern riesige Gasvorkommen, das Department gilt als das "südamerikanische Kuwait". Im Oktober platzte das Milliardengeschäft und überall in Bolivien wurden Freudenfeste gefeiert. Nur die Menschen in Tarija fühlten sich verraten.
Zwölf Uhr Mittags. Auf der Plaza in Tarija haben sich Jurastudenten versammelt, in Anzug und Krawatte. Sie demonstrieren nicht, wie ihre Kommilitonen im restlichen Bolivien, gegen Chile und gegen die Ausbeutung. Sie demonstrieren für Autonomie. Für einen eigenen Staat. Weil sie mit dem restlichen Bolivien nichts mehr zu tun haben wollen. Sie fordern eine verfassunggebende Versammlung und wollen sich von der Zentralregierung in La Paz nicht länger bevormunden lassen.
Ich habe beschlossen, nicht mehr Bolivianer zu sein. Ich gebe meine Staatsangehörigkeit ab und will Staatsangehöriger Tarijas werden. Bolivien hat uns immer betrogen und wird uns weiter betrügen.
Edmundo Avila ist Separatist. Er ist Musikredakteur bei Radio Guadalquivir, benannt nach dem Fluß, der Tarija durchzieht. Seinen Paß hat er nicht zurückgeschickt, meint er, aber er will das Department in einen eigenen Staat verwandeln. Er würde einer der reichsten Staaten dieses Planeten werden, ein zweites Kuwait.
Wir haben das Gasgeschäft wegen einem einzigen Indianer verloren. Wegen "Malévolo", wie ich sie nenne: (Fernando Quispe, genannt) Mallku und Evo Morales. Das Gas im Boden bringt uns nichts, wir müssen es fördern. Wir sind die Eigentümer des Gases und niemand hat sich in unsere Geschäfte einzumischen.
Morales und Quispe, die Anführer der Oktoberrevolte, sind beide indianischer Abstammung. Und beide machen Politik in La Paz, Orúro oder Cochabamba, in Städten des Hochlandes. Tarija aber liegt auf einer Höhe von nur 1800 Metern, weit entfernt von der Zentralregierung.
Wenn Sie ein Radio aufmachen wollen, brauchen Sie die Genehmigung von La Paz. Die Rente muß in La Paz beantragt werden. Wer Kieselsteine aus dem Fluß gewinnen will, muß sich dies von Potosí erlauben lassen. Wollen wir eine Straßenlaterne aufstellen, müssen wir den Auftrag landesweit ausschreiben und dann kommen die großen Gangsterfirmen her.
Im Department Tarija leben insgesamt 400.000 Menschen, ein verlorener Winkel, der kaum zu erreichen ist. Auch daran sei La Paz schuld.
Überall sind Landstraßen asphaltiert worden, Tausende von Kilometern! Nur in Tarija haben wir erst 15 Kilometer Asphalt bekommen. Seit 50 Jahren fordern wir eine richtige Straße nach Bermejo, nach Argentinien. Nicht eine einzige Straße führt in unsere Provinz Chaco. Wenn wir eine Straße bauen wollen, müssen wir beim zentralen Verkehrsamt in La Paz eine Genehmigung beantragen. Und die kriegen wir nie.
Mit der Kultur des Hochlandes habe das Department, das "Andalusien Amerikas", nichts gemein. Im Hochland werde Aymara und Quechua gesprochen, Pachamama, Mutter Erde, verehrt. Bei ihnen hingegen, lebten vor der Ankunft der Spanier die Guaraní, Tiefland-Indianer. Ein völlig anderer Menschenschlag, meint Avila.
Wir bekennen uns zu unserem spanischen Erbe. Unsere Musik stammt aus Spanien. Wir sprechen kein Quechua oder Guaraní. Wir sind anders. Trotzdem wird an unserer Universität quechua gelehrt. Wenn eine andere Sprache gelehrt wird, dann sollte es Guarani sein, das sind unsere Wurzeln. Aber das läßt der Zentralismus nicht zu. Deshalb will ich nicht mehr Bolivianer sein.
Viele Tarijéños bedauern, dass der geplante Gasexport nach Kalifornien nicht zustande gekommen ist. Sie glauben, dass ihnen Millionen verloren gehen: Die Konzerne zahlen auf den Umsatz 18 Prozent "regalías", Abgaben. Von diesen achtzehn Prozent entfallen elf Prozent auf das Department Tarija. Doch das Geschäft ist im Oktober geplatzt. Gescheitert an der Volksrebellion im Altipláno, im Hochland, die in den ausländischen Erdölgesellschaften "imperialistische Ausbeuter" sehen.
Die Tarijéños wollen das Gas verkaufen, betont auch der Präsident des lokalen Bürgerkomitees, Roberto Ruiz:
Wir wurden als Vaterlandsverräter, Separatisten und Rassisten beschimpft. Das Ziel dieser Desinformations-Kampagne war der Sturz der demokratisch gewählten Regierung Sanchez de Losada. Dazu brauchen sie eine Forderung, hinter die sich alle stellen konnten: den Gas-Export zu verhindern.
Sie seien keine Separatisten, behauptet Ruiz, wollen aber eine neue Verfassung, die ihnen größere Autonomie zusichert. Nach dem Volksaufstand im Oktober haben die Investoren – British Petroleum und Shell – einen Liefervertrag mit Indonesien und Australien abgeschlossen. Die Märkte in Kalifornien sind damit auf zehn Jahre versorgt, Tarija für Jahre aus dem Spiel, meint Ruiz verbittert.
Welche Bündnispartner wir haben? Vor allem die Regionen, die unsere Ansichten teilen. Wir nennen sie die Departments des "Halbmondes", Pando, Beni, Santa Cruz und Tarija. Die letzte Volksbefragung unterstrich unsere Gemeinsamkeiten. 76 Prozent der Bevölkerung Benis und 83 Prozent von Pando bekennen sich zur westlichen und spanischsprachigen Kultur. In Santa Cruz sind es 72, in Tarija achtzig Prozent. Die Menschen dieser Departments fühlen sich nicht der Aymara- oder Quechua-Kultur zugehörig sondern verteidigen die Werte der westlichen Zivilisation. Die Menschen in La Paz und Oruro hingegen verstehen sich als Aymara und in Cochabamba, Chuquisaca und Potosí als Quechua.
Diese Ansicht entbehre jeglicher historischen und anthropologischen Grundlage, heißt es bei der "Ständigen Versammlung für Menschenrechte". Vor der spanischen Eroberung war diese Gegend von verschiedenen Ethnien bewohnt. In den Tälern lebten Aymara, Guarani und Quechua-Indianer, die dem kulturellen und militärischen Einfluß des Inka-Reiches unterstanden. Erst seit sechs Jahren, mit dem Boom des Gases und des Erdöls, entstand der Mythos vom "amerikanischen Andalusien", so Tamer Medina. Der junge Menschenrechtsanwalt vermutet hinter den Plänen, die Departments des "Halbmondes" von Bolivien abzutrennen, wirtschaftliche Interessen.
Das wäre nicht das erste Mal, dass ausländische Interessen ein Land zerreissen. Dasselbe ist mit Panama und Kolumbien passiert. Panama war eine Provinz Kolumbiens, als die USA den Kanal bauen wollten. Kolumbien stellte sich diesen Plänen in den Weg. Daraufhin betrieben die US-Regierung und ihre Geheimdienste die Abtrennung Panamas von Kolumbien. Und ein Jahr später wurde der Vertrag über den Bau des Kanals unterschrieben. Etwas ähnliches passiert derzeit in Tarija. Die multinationalen Unternehmen wollen ihre Interessen durchsetzen und betreiben, mit chilenischer Hilfe, die Abtrennung Tarijas von Bolivien.
Die Multis haben einen Plan, glaubt Medina. Und zu seiner Durchsetzung werden die Tarijeños als bedrohte Minderheit dargestellt: spanisch-sprechend, mit europäischen Vorfahren und Teil der westlichen Zivilisation. Sie seien in Gefahr, von "indianischen Horden" aus dem Hochland überfallen und an ihrer Entwicklung gehindert zu werden.
In vielen Zeitungsartikeln wird davon geredet, dass im Falle der indianischen Invasion die schutzlosen Tarijeños die Vereinten Nationen und die Nachbarländer um Hilfe bitten werden. Es wird nicht offen ausgesprochen, WER diese "schutzlosen Tarijeños" verteidigen soll. Aber in meinen Augen kommt nur Chile in Frage. So würde eine Annexion des bolivianischen Südens durch Chile nicht als Aggression sondern als Rettungsaktion erscheinen, um die permanent von irrationalen und indianischen Horden angegriffenen Menschen zu schützen. Auch Potosí muß aus dem bolivianischen Staatsgebilde herausgebrochen werden, denn die Gasleitung zum chilenischen Pazifikhafen durchquert das Department.
Es steht viel Geld auf dem Spiel, meint Rechtsanwalt Medina, für die multinationalen Unternehmen und ihre lokalen Verbündeten. In den vergangenen Jahren hat das Department 200 Millionen Dollar an Regalias erhalten. Wo dieses Geld gelandet ist, erscheint unklar, die Bevölkerung hat davon wenig gesehen.
Ab 2005 werden durch den Verkauf von Naturgas an Brasilien jährlich 50 Millionen Dollar in die Kassen Tarijas fließen. Die traditionellen Parteien haben nach zahlreichen Korruptionsskandalen Mitglieder und Macht verloren, ihre Politiker kontrollieren die Situation nicht mehr. Und eine breite Bewegung verlangt politische Veränderungen.
Die letzten nationalen Wahlen haben die regionale Elite erschreckt. Der MAS, die Bewegung für den Sozialismus von Evo Morales, ist landesweit auf den zweiten Platz gelangt und stellt sich als politische Alternative dar. Der MAS ist in ihren Augen radikal, links und von Menschen angeführt, die indigenen Ursprungs sind. Das Wahlergebnis hat in den Departments, die sich als "westlich", "weiss" und "christlich" definieren, Panik ausgelöst. Der MAS fordert die "Nationalisierung der Gas- und Erdölvorkommen", und die regionale Elite fürchtet um ihre Geschäfte. Sie haben Angst, dass die Multis das Land verlassen und sie ihre Privilegien verlieren.