Die Bekämpfung der Corona-Pandemie ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Welche Länder sich dabei am Ende besonders gut schlagen werden, lässt sich heute noch nicht sagen, zumal neue Virusvarianten wie Omikron die Situation immer wieder verändern. Mit der Folge, dass Länder, deren Strategie anfangs erfolgreich schien, plötzlich ins Hintertreffen geraten können.
Wie sich die Corona-Strategien ausgewählter Länder bislang bewährt haben, nimmt Forschung aktuell in dieser Woche exemplarisch in einer fünfteiligen Serie in den Fokus. Wie streng waren die Maßnahmen? Wie effektiv gelang es mit ihnen die Virenverbreitung zu bremsen und die Zahl der Covid-Toten verringern? Im dritten Teil der Reihe blicken wir auf Indien.
Mit welcher Strategie hat Indien versucht, die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen?
Es gab nicht eine, sondern zwei Strategien für die erste und zweite Welle im Land. Das Coronavirus hat Indien im März 2020 erreicht und Premierminister Narendra Modi entschloss sich, stark gegenzuhalten, verhängte eine Ausgangssperre, die praktisch umgehend in Kraft trat. Einerseits konnte er so die erste Welle tatsächlich verzögern, sie stieg vergleichsweise langsam an. Auf der anderen Seite waren die sozialen Folgen dramatisch. Viele Millionen Menschen verloren ihre Arbeitsmöglichkeit in den Städten und versuchten zurück in ihre Heimatdörfer zu gelangen. Weil kaum Buse oder Bahnen fuhren zogen sie in großen Trecks durchs Land und brachten dabei das Coronavirus auch in entlegene Regionen.
Modi entschuldigte sich, die Regierung legte ein Hilfsprogramm auf, das die Not mit Lebensmitteln und Geld lindern sollte, und lockerte die Ausgangssperren ab Mai wieder. Im Grunde ließ das Land das Virus dann langsam durch die Bevölkerung laufen. Am Ende der ersten Welle im September hatten sich in Indien zehn Millionen Menschen angesteckt, 150.000 waren gestorben. Im Januar 2021, also vor einem Jahr, erklärte Premierminister Modi dann, Indien hätte das Coronavirus erfolgreich kontrolliert. Mehr noch: Das Land hätte erst Masken und Beatmungsgeräte importiert, von jetzt ab wäre es aber bereit, die Welt zu retten - mit gleich zwei Impfstoffen „Made in India“.
Kumulative bestätigte COVID-19-Fälle pro Million Menschen
Welche Bedeutung hatte Indien für die weltweite Impfkampagne?
Indien gilt als Apotheke der Welt, weil die Pharmafirmen viele Medikamente und Impfstoffe preisgünstig herstellen. Entsprechend hat das globale Impfprogramm Covax große Impfstoffmengen beim Serum Institut of India bestellt. Dort wird das Vakzin von AstraZeneca in Lizenz hergestellt. Von daher war Modis Ankündigung nicht abwegig. Aber es kam leider anders. Ab April begann eine zweite, deutlich größere Infektionswelle, in der sich in vergleichsweise kurzer Zeit noch einmal doppelt so viele Menschen infizierten und auch doppelt so viele starben wie in der ersten Welle.
Kumulative bestätigte COVID-19-Todesfälle pro Million Menschen
Wieso traf die zweite Welle Indien so hart?
Nach der ersten Welle fühlte sich das Land sicher. Politik und Experten gingen davon aus, dass nach der ersten Welle eine Herdenimmunität erreicht sei. Der Guardian schrieb, dass Indien stolz war auf eine Corona-Sonderstellung. Entsprechend wurden Probleme in der Gesundheitsversorgung nicht angegangen, Nothospitale geschlossen. Im Gegenteil, das Land war in Feierlaune. Es gab wichtige religiöse Feiertage mit riesigen Menschansammlungen, Wahlkampfveranstaltungen, Cricketturniere vor großem Publikum. Alles ideale Bedingungen für das Virus. Schnell waren die Kliniken völlig überlastet, vielleicht erinnern sich noch einige an die Bilder, wie verzweifelte Angehörige versuchten, Sauerstoffflaschen zu ergattern.
In dieser Situation setzte Modi auf eine neue Strategie: Massenimpfungen. Um die zu ermöglichen, gab es einen Exportstopp für Coronaimpfstoffe. Impfstoff war damit in Indien reichlich vorhanden, aber das Impfprogramm lief dennoch nur langsam an, weil nach der ersten Welle kaum Vorbereitungen getroffen wurden. Letztlich trug die Impfkampagne dazu bei, die zweite Welle zu brechen. Infektionen und Impfungen gemeinsam sorgten dafür, dass im Juli 2021 zwei von drei Indern und Inderinnen eine Immunität gegen SARS-CoV-2 aufgebaut hatten.
Anteil der vollständig gegen COVID-19 geimpften Bevölkerung
Wie sieht die Bilanz der Corona-Strategie in Indien aus?
Wenn man nur auf die offiziellen Zahlen schaut, ist Indien gar nicht so schlecht durch die ersten beiden Pandemiejahre gekommen. Es gab zwar absolut gesehen sehr viele Infizierte, mehr als 36 Millionen. Aber Indien hat eben auch eine sehr große Bevölkerung. Unterm Strich hatten deshalb offiziell nur 2,5 Prozent aller Inderinnen und Inder einen positiven Virennachweis. In Deutschland liegt der Anteil fast viermal so hoch. Tatsächlich dürften sich in Indien weit mehr Personen infizierte haben: Es gibt eine hohe Dunkelziffer, weil Coronatests dort Mangelware sind. Ähnlich bei den Todesfällen.
Offiziell wurden in der Pandemie eine halbe Million Corona-Tote gezählt, bezogen auf die Bevölkerung ist das nur ein Viertel des deutschen Wertes. Aber gerade in den vergangenen Wochen sind mehrere Studien zur Übersterblichkeit in Indien erschienen. Da wurden zum Beispiel in Telefonumfragen nach Sterbefällen gefragt oder andere Statistiken ausgewertet
Die unterschiedlichen Ansätze kommen alle zum gleichen Ergebnis: die Todeszahlen wurden massiv unterschätzt, liegen zwischen vier und zehn Mal so hoch, wie die offiziellen Angaben. Also zwischen zwei und fünf Millionen Toten. Das sind so viel mehr, dass wohl auch die globalen Coronastatistiken deutlich nach oben korrigiert werden müssen. Indien nimmt trotz der jungen Bevölkerung keine Sonderstellung ein. Die Maßnahmen, erst Ausgangsperre, dann Impfprogram waren zwar wirksam. Aber weil sie nicht durchgehalten werden konnten, beziehungsweise nicht gut vorbereitet waren, konnten sie die Zahl der Opfer längst nicht so stark reduzieren wie erhofft.