Bei weitem nicht jedes Kind und jeder erwachsene Mensch in Deutschland können lesen. Ein Fünftel der Kinder verlässt die vierte Klasse, ohne lange Sätze oder zusammenhängende Texte lesen zu können - mit Folgen für die gesamte weitere Schul- und Berufslaufbahn. Das diagnostiziert das neue Bündnis "Nationaler Lesepakt" und will dagegen etwas unternehmen.
Zu dem breiten Bündnis von rund 150 Akteurinnen und Akteuren gehört auch die Sozialwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Naika Foroutan von der Freien Universität in Berlin. Lesekompetenz sei zentral und vermittle sich nicht von alleine, sagt sie im Dlf. Gleichzeitig spricht sie sich dafür aus, nicht nur das Objekt Buch zu sehen. Das Abtauchen in eine andere Welt, das man beim Lesen erlebe, sei auch über digitale Medien zu erfahren. Und durch Podcasts, Spoken-Word-Kunst und Youtube-Tutorials erfahre auch das Mündliche eine große Aufwertung. Darauf müsse die Erwachsenenwelt reagieren, so Foroutan.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Lesen ermöglicht Teilhabe, ist das richtig?
Naika Foroutan: Ja, selbstverständlich. Lesekompetenz ist tatsächlich zentral, da wir wissen, dass das Lesen im Gegensatz zum Sprechen nicht angeboren ist und erlernt werden muss, ist das natürlich etwas, was man Menschen und besonders Kindern über eine ganz lange Laufzeit immer wieder wiederholend beibringen muss. Das geschieht nicht von alleine.
"Sehr viele Kinder noch weiter zurückgefallen"
Zurheide: Wenn wir dann den Befund hören - drei Millionen junge Menschen, auch sechs Millionen Ältere in Deutschland können nicht oder nicht richtig lesen -, ist das alles durch Corona und die Schulschließungen noch schlimmer geworden?
Foroutan: Ja, tatsächlich erleben wir, dass sehr viele Kinder, besonders aus bildungsfernen Haushalten, in diesem letzten Jahr noch mal weiter zurückgefallen sind. Und wir werden erst in den kommenden Jahren noch mal die Folgen deutlicher spüren. Das liegt natürlich daran, dass es mit der Technik schon anfängt. Viele Familien haben keinen eigenen Laptop oder Computer für die Kinder, sind vollkommen aus dem Schulsystem, das sie immer wieder ab und zu abgeholt hat zu Präsenzelternabenden und so weiter, herausgefallen und haben auch nicht die Lernzusammenhänge, wo sie mit den Kindern permanent im Homeschooling sitzen können. Wir wissen, dass gerade viele migrantische Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten und dementsprechend gar nicht die Zeit aufwenden können, um zu Hause mit den Kindern zu lernen oder lesen zu üben, worüber wir ja jetzt gerade sprechen.
"Die Kinder versinken im Internet"
Zurheide: Dann gibt es ja zwei Aspekte: Es ist einmal die Frage der Schulen und, ich sage es so hart, die Unfähigkeit, den digitalen Unterricht zu organisieren. Der zweite Aspekt ist das Angebot des Lesestoffes. Ich würde das gerne nacheinander abhandeln. Der erste Befund: Sie sind ja auch Mutter von drei Kindern, was beobachten Sie in Ihrem Umfeld, diese Auswirkungen sind ja am Ende so etwas wie sozialer Sprengstoff, weil Desintegration eigentlich gefördert wird... also, gefördert jetzt nicht im positiven Sinne.
Foroutan: Ja, und zwar im weitesten Sinne über jede Altersstufe unterschiedlich. Sie haben es ja gerade erwähnt, ich habe selber drei Schulkinder, die sind von siebter Klasse bis elfter Klasse, also Abiturvorbereitung, und jedes Kind ist unterschiedlich davon betroffen. Und wir können einfach auch nicht von Kindern im Alter der Pubertät erwarten, dass die sich selbst strukturieren. Auch dafür ist Schule da, sie gibt Menschen Struktur. Und wenn man selber berufstätig ist als Mutter, fällt es sehr schwer, permanent hinterher zu sein. Und dann passiert genau das, was ich wahrscheinlich stellvertretend gerade für sehr viele Eltern sage, man merkt, die Kinder versinken im Internet. Acht, zehn Stunden bis spät abends, man verliert die Kontrolle und die Kinder verlieren selber die Kontrolle über sich. Sie verlernen das Lernen. Das ist das, wo wir eben eingestiegen sind. Bestimmte Dinge stellen sich eben nicht automatisch ein, dafür gibt es diese zwölf, 13 Jahre Schule, um Menschen oder speziell Kinder darauf zu konditionieren. Und das ist alles, was weggefallen ist im letzten Jahr, und das hat starke Folgen, und zwar auch für Familien aus akademischem Hintergrund, das ist nicht einfach etwas, was wir auf bildungsferne Eltern abwälzen können als Problem für die Gesellschaft.
"Deutschland ist wahrlich nicht vorne in der Welt"
Zurheide: Das hat aber auch damit zu tun, dass Schulen offensichtlich unfähig sind, so etwas digital zu organisieren. Denn dass es besser gehen könnte, ich glaube, das ist auch selbstredend, oder?
Foroutan: Ja, aber ich will gar nicht den Schulen so sehr die Schuld zuschieben. Wir wissen, dass Deutschland in der Digitalisierungsstrategie sehr weit zurückliegt, wir könnten sehr viel weiter sein. Ich bin nun jetzt auch Iranerin, ich sage Ihnen, jedes Jahr, wenn ich in Teheran bin, wundere ich mich, dass man dort an jeder Ecke freies Internet bekommt. Und hier muss man mit dem Zug nur mal kurz aus Berlin herausfahren und schon gibt es keine Internetverbindung mehr. Da ist Deutschland wahrlich nicht vorne in der Welt, und das ist bei vielen anderen Strategien auch. Wir kennen ja die Zahlen und wissen, dass Deutschland im OECD-Vergleich auf den hinteren 20er-Plätzen liegt, da muss einiges nachgeholt werden, wenn wir unseren Bildungsstand weiter halten wollen. Wir sind nun mal kein Land mit Ressourcen im Sinne von Rohöl oder sonst etwas, sondern bei uns setzen wir lange schon auf Humanressourcen und Bildung, wenn uns das wegfällt, dann ist das politisch sehr kurz gesprungen.
"Kinder lesen zunehmend weniger"
Zurheide: Muss sich möglicherweise auch das Leseangebot ändern, damit es mehr wahrgenommen wird?
Foroutan: Ja, wir erkennen tatsächlich, dass Kinder zunehmend weniger lesen, das liegt natürlich auch an den technischen Angeboten, an den virtuellen Angeboten, alles das, was wir vom Lesen kennen, dass Lesen nicht nur eine Kompetenz, dass man Buchstaben aneinanderreihen kann, sondern auch dafür da ist, einem neue Welten zu eröffnen, man nennt das Immersion, einzutauchen in eine gänzlich andere Weltlichkeit, das ist auch etwas, was man vom Lesen gewinnt. Das verschwindet zunehmend mehr und mehr in digitale Angebote. Kinder können über Spiele oder Filme sehr viel mehr dieses Gefühl von Immersion erleben, aus sich selbst heraustreten, in andere Figuren hinein. Das ist natürlich im Grunde genommen offenbar ein befriedigenderer Moment als das langsame Lesen, was wir noch von früher so wertgeschätzt haben. Die Zeit ist schneller geworden, man kann fast sagen, das ist so, wie wenn wir Fußballspiele aus den 80er-Jahren schauen und uns denken, mein Gott, war das alles damals langsam. Die Welt ist schneller geworden, und wir Älteren in dem Falle, die das langsame Lesen noch kennen, können unseren Kindern diesen Genuss gar nicht mehr glaubhaft vermitteln.
Angebote ändern
Zurheide: Das heißt, Sie sagen, wir müssen die Realität anerkennen, das ist so. Sie beklagen es nicht und sagen eher, wir müssen unsere Angebote anpassen, um die Fähigkeiten zu erlernen, die früher mit Lektüre verbunden waren, habe ich Sie da richtig verstanden?
Foroutan: Ja, richtig. Und wir erkennen es natürlich auch an dem großen Format Schulbücher. Wir wissen, dass früher Kinder sehr stark über Schulbücher im Grunde genommen ins Lesen versetzt wurden. Heutzutage ist aber allen Eltern auch bewusst, dass Kinder regelmäßig, wenn sie Informationen suchen, auf Youtube zugreifen und dort Tutorials sich anschauen. Und sie sagen auch immer wieder selber, sie lernen aus diesen zehnminütigen Clips manchmal mehr als aus 45 Minuten Unterricht. Wir leben in einer Zeit, in der sich fundamentale Ordnungsstrukturen verändern, und wir, die diese Zeit strukturieren können, in dem Falle als Lehrende oder als Eltern oder als Politikerinnen oder Journalistinnen, sind noch nicht so schnell, wie es eigentlich für unsere Kinder sinnvoll wäre im Umstellen unserer angebotenen Strukturen.
"In zehn Jahren wird es kaum noch Bücher geben"
Zurheide: Sie haben etwas gesagt, das fand ich sehr provozierend - dass die Bücher das Vinyl von morgen sind. Da hätte ich jetzt den Einwand, Platten haben gerade ein absolutes Revival...
Foroutan: Ja, ich habe auch sehr viele Schallplatten, die stehen in meinen Regalen als Schmuck, und leider befürchte ich, dass das gleiche mit unseren Büchern passieren wird. Wir sind ein Haushalt, und ich bin ja Sozialwissenschaftlerin, wenn wir etwas über Integrationsfähigkeit von Kindern messen wollen, dann haben wir auch immer wiederkehrend die Frage, wie viele Bücher hat Ihre Familie im Haushalt. Darüber schließen wir dann, ob die Kinder sprachlich kompetenter sind oder in welcher akademisch sozialisierten Welt sie aufwachsen. Ich gebe jetzt einfach mal die provokante Hypothese aus, in zehn Jahren wird es kaum noch Bücher geben, so wie es keine Schallplatten mehr gibt. Das wird alles in ein digitales Konzept ausweichen, und wir, die sie haben, werden sie als Schmuckstück in unsere Regale stellen, immer wieder anschauen und uns freuen, dass wir diese Zeit noch kennengelernt haben.
Mündlichkeit nicht unterschätzen
Zurheide: Dann muss das Digitale aber auch bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dass es abgleitet in Sich-Verlieren im Digitalen, das ist ja die andere Gefahr. Was muss für eine Struktur da sein, damit am Ende wirklich ein Lernerfolg steht? Oder ist meine Frage schon wieder aus der vorvergangenen Zeit?
Foroutan: Ich glaube, dass dieser Aspekt des Mündlichen nicht unterschätzt werden sollte. Wir merken, dass wir gerade eine Hochzeit der Podcasts haben, wir merken dass Spoken Word, Slam Poetry, auch gesprochene Lieder wieder zunehmen, dass Menschen auch ganz starke Dichtkunst haben. Wenn Sie mal reinzoomen in Deutschrap, dann klingt das auf den ersten Blick banal, aber versuchen Sie mal so zu reimen, wie diese Leute das machen. Also in der Popkultur spielt Sprache eine ganz große und starke Rolle. Und ich denke, dass dieses mündlich Tradierte auch dementsprechend etwas ist, was wir wertschätzen werden können und was möglicherweise das Leseverhalten, was schwindet, auf der anderen Seite wieder aufnimmt.
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