EM 2024
Der Einfluss von Fußball auf Nationalstolz und Nationalismus

Fußball-Länderspiele sind zwar in der Regel emotional weniger aufgeheizt als Vereinsspiele, aber es gibt Ausnahmen. Besonders bei den großen Turnieren wie jetzt bei der Europameisterschaft messen Forschende oft einen Anstieg von Nationalstolz.

Von Patric Seibel |
Deutsche Fußballfans mit Deutschlandfahnen in der Innenstadt
Abhängig von Erfolg und Turnierverlauf sind bei Fußballturnieren sehr starke Emotionalisierungen bei den Fans möglich. (picture alliance / Wolfgang Maria Weber / R7172)
Fußballspiele sind grundsätzlich geeignet, Gruppenrivalitäten anzuheizen; und Stadien sind die Orte, an denen das besonders gilt. Sozialwissenschaftler wie Martin Winands sprechen von einem fußballspezifischen Setting:
„Wir haben es mit einem hochverdichteten Raum zu tun, mit einer Atmosphäre, die grundsätzlich konfliktorientiert getrimmt ist. In einer solch hochverdichteten Atmosphäre sind Aufschaukelungsprozesse wesentlich leichter möglich - es ist ein abwertungsempfindliches Setting.“
Martin Winands ist Professor für Sozialwesen an der katholischen Hochschule NRW. Aktive Vereinsfans wie etwa die Ultras, so sagt er, stehen großen Nationenturnieren eher skeptisch gegenüber: „Sodass man schon sagen kann, dass das Publikum bei Länderspielen durchaus etwas anders strukturiert ist, als bei Bundesligaspielen. Trotzdem entwickeln sich auch bei Länderspielen entsprechende Emotionen und Gefühle.“
Und abhängig von Spielereignissen und Turnierverlauf sind auch hier sehr starke Emotionalisierungen möglich. Martin Winands nennt als Beispiel die WM 2006 in Deutschland – als viele Menschen auf großen Fußballpartys mit schwarz-rot-goldenen Flaggen und Farben öffentlichen Patriotismus gezeigt haben.

Länderspiele als letzte Lagerfeuer der Nation

Michael Mutz, Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Uni Gießen, erkläutert: „Im Kontext von Fußball-Länderspielen kann es auch die Nation sein, die auf diese Weise auch erlebbar wird und das führt häufig dazu, dass auch die Identifikation mit dieser Gruppe ansteigt. Das kann auch so was sein wie eine Grundlage für Zusammenhalt. Jemand hat Fußball-Länderspiele auch als das letzte Lagerfeuer der Nation bezeichnet.“

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Für die Zeit von großen Turnieren rückt das pluralistische Gesellschaftsgefühl in den Hintergrund und ein kollektives „Wir“ steht im Vordergrund, so Michael Mutz. Das wichtigste Medium dabei sei das Fernsehen.
„Die Art und Weise, wie wichtige Fußballspiele inszeniert werden, ist sehr darauf angelegt, die Stimmung nach Hause zu transportieren. Es wird sehr emotional kommentiert und auch ein bisschen patriotisch, damit die Leute am Fernseher auch mitgenommen werden.“
Die Bildmedien, allen voran das Fernsehen als Multiplikator, erzeugen die Stimmung einer ganzen Nation im Fußballfieber. Studien zeigen, dass im Kontext von erfolgreichen Grußturnieren wie WM oder EM der Nationalstolz messbar ansteigt, erklärt Michael Mutz:
„Aber was genau da für ein Stolz entsteht, ist eine spannende Frage. Wir haben das versucht 2016 bei EM in Frankreich zu untersuchen. Und wir sehen da: Mit jedem gewonnenen Spiel steigt der Anteil der Menschen in Deutschland, die sagen: "Ich bin stolz auf die Erfolge im Sport" oder auch allgemeiner: "Ich bin stolz Deutscher zu sein."

Schmaler Grat zum Nationalismus

Gleichzeitig stiegen auch nationalistische Einstellungen, wie die Ansicht, Deutschland sei anderen Ländern überlegen oder müsse viel mehr Einfluss in der Welt haben.
„Also der manchmal eher harmlos, vielleicht auch karnevalesk wirkende Fußballpatriotismus mit feiernden geschminkten und in schwarz-rot-gold gekleideten Leuten, der hat durchaus auch die Tendenz, nationalistische Einstellungen zu fördern. Das ist im Grunde ein ganz schmaler Grat.“
So zeigte eine Studie der Universität Marburg nach der WM 2006: Der sogenannte deutsche Party-Patriotismus ging einher mit einem Anstieg nationalistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen in der deutschen Bevölkerung.
Dass es auch mit Bezug auf die Nationalmannschaft solche Einstellungen gibt, hat eine aktuelle Umfrage von Infratest Dimap gezeigt. Demnach wünschen sich rund 20 Prozent der Befragten mehr weiße Spieler in der Nationalelf. Zwar wurde die Erhebung wegen suggestiver Fragestellung auch kritisch gesehen. Das Ergebnis  überrascht die Forschung aber nicht.

Rassismus und Online-Hass

Daniel Nölleke, Junior-Professor am Institut für Sport- und Medienforschung der Sporthochschule Köln startet demnächst ein Forschungsprojekt zum Online-Hass gegen Leistungssportler. Dazu gehört auch das Phänomen, dass bevorzugt dunkelhäutige Sportler bei sportlichem Misserfolg zur Zielscheibe von Rassismus werden:
„Personen werden angegriffen, weil sie Elfmeter verschossen haben. Sportliche Exzellenz wird abgesprochen zum Beispiel im Fall der rassistischen Angriffe gegen englische Fußballer nach einem verschossenen Elfmeter.“
Nölleke betont: Auch ohne sportliche Ursache werden als fremd markierte Spieler rassistisch abgewertet – wie zuletzt dunkelhäutige Spieler der deutschen U17-Nationalelf nach einem Jubelfoto.

Der Özil-Effekt

Aber auch gegenläufige Entwicklungen sind möglich. Das zeigt eine Studie der Uni Bielefeld zur WM 2010, berichtet Martin Winands: „Und da kam eben nicht raus, dass während WM in irgendeiner Form die Feindlichkeit gegenüber anderen ethnischen Gruppen angestiegen ist, sondern dass im Gegenteil ein stärkeres Diversitätsbewusstsein auch zu spüren war.“
"Özil-Effekt" wurde das genannt. In einer divers aufgestellten Nationalmannschaft wurde Mesut Özil, der Sohn türkischer Einwanderer zu einer Inklusionsfigur. „Das heißt, dass es auch durchaus positive Entwicklungen bei solchen Nationenturnieren geben kann – aber nichtsdestotrotz bieten sich Turniere an, dass sie ideologisch überfrachtet werden von Mobilisierungsexperten, die es genau darauf anlegen.“