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Nationalitätengesetz in Israel
"Dieses Gesetz wird alle Nichtjuden im Lande treffen"

"Dieses Gesetz ist vor allem gegen die palästinensische Minderheit in Israel gerichtet": Der Leiter der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv hat das in Israel verabschiedete Nationalitätengesetz scharf kritisiert. Ziel sei es, vor allem Nichtjuden weiter zu benachteiligen, sagte Tsafrir Cohen im Dlf.

Tsafrir Cohen im Gespräch mit Peter Sawicki |
    Israelische Staatsfahnen wehen am 20.03.2014 in Jerusalem vor der Knesset, dem israelischen Parlamentsgebäude. Foto: Marc Tirl/dpa | Verwendung weltweit
    Tsafrir Cohen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv glaubt, dass sich antipalästinensische Tendenzen in Israel durch das neue Nationalgesetz noch verstärken könnten (dpa-Zentralbild)
    Peter Sawicki: Israel ist ab sofort per Gesetz ein jüdischer Nationalstaat. Die einen feiern das, andere dagegen nehmen sogar das Wort Apartheid in den Mund. Was bedeutet dieses Gesetz aber in der Praxis und wohin führt es politisch und gesellschaftlich? Darüber sprechen wir mit Tsafrir Cohen. Er leitet das Büro der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Schönen guten Abend.
    Tsafrir Cohen: Guten Abend.
    Sawicki: Sind israelische Araber jetzt Bürger zweiter Klasse im eigenen Land?
    Cohen: Das kann man schon so sagen. Sie sind jetzt mehr Bürger zweiter Klasse, als sie es jemals waren. Sie waren eigentlich de facto Bürger zweiter Klasse in vielerlei Hinsicht, aber jetzt wird das alles offiziell.
    Dieses Gesetz fügt sich einerseits nahtlos in eine Welle von antidemokratischen Gesetzgebungen der letzten Jahre in Israel ein, die einhergingen mit sehr aggressiven Kampagnen gegen Linke, Liberale, Besatzungsgegner und die palästinensische Minderheit im Land, die alle zur Fünften Kolonne erklärt wurden, und es wird gewiss zu weiteren Schrumpfungen dieser demokratischen Räume in Israel führen. Andererseits stellt dieses Gesetz eine neue Qualitätsstufe dar, weil es ein Grundgesetz ist mit Verfassungsrang, und damit stünde es über den anderen Gesetzen, die etwa Gleichheit oder Minderheitenrechte postulieren.
    "Gesetz ist vor allem gegen die palästinensische Minderheit in Israel gerichtet"
    Sawicki: Aber ist das gegen Araber gezielt gerichtet?
    Cohen: Es ist vor allem gegen die palästinensische Minderheit in Israel gerichtet. Es hat auch andere Zwecke – mehrere. Einerseits geht es eigentlich auch um andere Minderheiten im Lande. Dieses Gesetz wird russische Einwanderer nach Israel treffen, die nach der orthodoxen Lesart in Israel nicht als Juden erklärt werden, obwohl sie in Russland unter Umständen als solche definiert waren. Es wird auch Geflüchtete aus Subsahara-Afrika treffen. Das wird alle Nichtjuden im Lande treffen müssen.
    Sawicki: Und trotzdem wurden ja einige besonders kontroverse Passagen, die ursprünglich im Gesetz stehen sollten, entfernt. Beispielsweise sollte es ja ursprünglich noch heißen, dass ausschließlich jüdische Wohnorte künftig errichtet werden dürfen. Das ist jetzt nicht mehr im Gesetz drin. Funktioniert die Demokratie dahingehend nicht doch in Israel, dass dann öffentlicher Druck erfolgreich aufgebaut wird?
    Cohen: Na ja. Nehmen wir ein ganz konkretes Beispiel. Ein jüdisches Dorf wird gebaut innerhalb Israels, nicht in den besetzten Gebieten, und alle diese kleinen dörflichen Gemeinden, die von Juden aufgebaut worden sind, haben eine Auswahlkommission, die die künftigen Bewohner auf Tauglichkeit prüft, bevor sie ins Dorf einziehen dürfen.
    Sawicki: Was heißt Tauglichkeit in dem Zusammenhang?
    Cohen: Das ist natürlich die Frage. Das ist offen. Das entscheidet die Kommission per se. Und eine Kommission muss nicht klarmachen, warum sie irgendjemand für unpassend gewählt hat.
    Tatsache ist, dass 99 Prozent der israelischen kleinen Gemeinden, die in den letzten 70 Jahren aufgebaut worden sind, keine Araber oder Palästinenser aufnehmen. Bis jetzt konnte man vor Gericht gehen und sagen, ich bin aus dem und dem Grund benachteiligt worden und so geht das nicht. Mit diesem Gesetz ist es fraglich, ob man vor Gericht gehen kann und sich das einklagen kann, weil jetzt das Recht tatsächlich dennoch als Grundgesetz dasteht, dass Gemeinden ihren Charakter so behalten können und tatsächlich dieser jüdische Charakter über dem Grundsatz der Gleichheit und der Minderheitenrechte stehen wird.
    Sawicki: Das heißt, das Niederlassungsrecht wird aus Ihrer Sicht eingeschränkt?
    Cohen: Das Niederlassungsrecht kann eingeschränkt werden. Es ist natürlich ein Gesetz mit Verfassungsrang und in dem Sinne ist es die Frage der Interpretation der Gerichte. Aber dieses Gesetz wird sehr wohl die Möglichkeit geben, in verschiedenen Bereichen die Minderheiten im Lande und vor allem Nichtjuden zu benachteiligen.
    Ich kann Ihnen mehrere Beispiele dafür geben. Es geht um Landeigentum, um Migration, um die Behausung und um Familienzusammenführung. Das sind die vier Hauptthemen, die ich mir vorstellen kann, wo das wirklich tatsächlich Konsequenzen haben kann.
    Sawicki: Können Sie das noch vertiefen, wie sich das manifestiert, manifestieren kann?
    Cohen: Ja. Nehmen wir das Beispiel der arabischen Sprache. Die ist bis jetzt amtliche Zweitsprache in Israel. Das wurde praktisch nie eingehalten. Aber mit diesem Gesetz wiederum sollte sie ihren Status insgesamt verlieren. Das heißt, die gesamten Kämpfe um die Stärkung der Präsenz des Arabischen im öffentlichen Raum würde jetzt damit einen schweren Schlag erleiden und es wird nicht mehr die Möglichkeit geben, dagegen zu klagen, etwa dass in Zügen auch auf Arabisch was erklärt wird, oder dass die Straßennamen zum Beispiel auf Arabisch stehen. Das ist zum Beispiel eine ganz klare Art und Weise, die palästinensische Minderheit in Israel weiter zu benachteiligen.
    "Mit diesem Gesetz wird diese Benachteiligung legalisiert"
    Sawicki: Was glauben Sie, wie wirkt sich das gesellschaftlich aus?
    Cohen: Ich glaube, dass das gewisse Tendenzen in der israelischen Gesellschaft stärken wird. Bis jetzt war die palästinensische Minderheit in Israel, aber auch andere Minderheiten schon ziemlich außen vor. Es gibt keine Möglichkeit, zum Beispiel nach Israel zu emigrieren, wenn man nicht Jude ist. Es gibt eigentlich keine gesetzliche Möglichkeit dafür. Jetzt wird es auch einen gesetzlichen Hintergrund haben, ein Grundgesetz, was sagt, das ist eigentlich in Ordnung, so vorzugehen. Und in dem Sinne verstärkt es das jüdische Element im Grundgesetz.
    Was bedeutet das eigentlich? – Die Initiatoren des Gesetzes haben ein klares Ziel, glaube ich, vor Augen. Bislang versuchten Gesetzgeber in Israel, das israelische Selbstverständnis als demokratischen und jüdischen Staat auszutarieren. Das ist ja kein leichtes Unterfangen, das gebe ich zu. Schließlich widersprechen sich jüdische Gruppeninteressen und der Anspruch auf Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger. Mit diesem Gesetz sollen die jüdischen Gruppeninteressen über dem Gleichheitsgebot der Demokratie stehen.
    Und noch mal: Ich gehe zurück auf diese dörfliche Gemeinde. Die dörfliche Gemeinde möchte ja ihren jüdischen Charakter behalten und verbietet es einer interessierten arabischen Familie, ein Häuschen im Dorf zu kaufen, und mit diesem Gesetz wird diese Benachteiligung legalisiert.
    "Widerstand gibt es tatsächlich im Lande und er wird sich stärken"
    Sawicki: Es fällt ja trotzdem auf, dass das Gesetz sehr knapp durchgegangen ist durch das Parlament. Was sagt das über die Kräfteverhältnisse, über die Akzeptanz dieses Schrittes in der Gesellschaft aus?
    Cohen: Man darf einfach nicht vergessen, dass es eine starke Opposition zu solchen Entdemokratisierungstendenzen in Israel gibt. Das ist eine Koalition. Die Opposition ist eine Koalition von den Linken über die Vertreter der palästinensischen Minderheiten in Israel bis hin zu Parteien, die die russischen Einwanderer in Israel vertreten, die in der Regel eigentlich Vertreter rechter Politik sind, und es gibt tatsächlich großen Widerstand gegen diesen Versuch. Vor allem gibt es eher liberale und rechte Kräfte, die Rechtsstaatlichkeit dennoch hochhalten.
    Die laufen alle Sturm, inklusive der Sohn des ehemaligen Likud-Führers Begin, der legendäre Führer der israelischen Rechten, der jetzt sich enthalten hatte und seiner eigenen Partei ins Gewissen geredet hatte und gesagt hatte, dieses Gesetz ist kein demokratisches Gesetz, und er würde sich für dieses Gesetz schämen.
    In dem Sinne gibt es eine Opposition im Lande und es gibt auch Gegenentwürfe, etwa der gemeinsamen Liste der Sozialisten und der Vertreter der palästinensischen Gesellschaft in Israel, immerhin drittgrößte Partei in Israel mit 13 Abgeordneten von 120, die einfach tatsächlich eine Alternative anbieten, indem sie sagen, wir wollen einen demokratischen, multikulturellen und egalitären Staat, in dem alle Staatsbürger Israelis sind und nicht Juden sein müssen. Israel ist das Land der Israelis und alle Menschen sollen israelische Staatsbürger sein, natürlich mit Rechten für die jüdische Mehrheit und für die indigene palästinensische Bevölkerung. Widerstand gibt es tatsächlich im Lande und er wird sich stärken.
    Sawicki: Das heißt, das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen?
    Cohen: Das letzte Wort ist Gott sei Dank nicht gesprochen.
    Sawicki: Tsafrir Cohen, der Leiter der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel, heute Abend bei uns im Deutschlandfunk. Das Gespräch mit ihm haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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