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Nationalsozialismus in Norwegen
Akteneinsicht und die Frage nach der Schuld

In einem Kellerraum des norwegischen Staatsarchives in Oslo lagern die Akten von NS-Verbrechern, Kollaborateuren und Mitläufern. 70 Jahre lang waren die Unterlagen nur Forschern und Behörden zugänglich. Seit dem 1. Januar stehen sie allen Norwegern offen – ein Antrag auf Einsicht genügt.

Von Gunnar Köhne |
    Stolpersteine erinnern an 1942 aus Oslo deportierte Juden.
    Stolpersteine erinnern an 1942 aus Oslo deportierte Juden. (imago / Robert B. Fishman)
    Elisabeth Lunder hat ihren Onkel Ole geliebt. Als sie noch ein Kind war, nahm er sie mit zum Angeln und spielte ihr stundenlang auf dem Klavier vor. Dass der fröhliche Onkel ein verurteilter Nazi war, erfuhr sie erst als Erwachsene. In der Familie war das Thema ein Tabu.
    Anfang Februar fuhr Lunder von ihrer Heimatstadt Aarnes in die eine Autostunde entfernte Hauptstadt Oslo. Dort ließ sie sich im sogenannten Landesverräterarchiv die Strafakte ihres Onkels geben.
    "Als ich die lange Treppe zum Staatsarchiv hinaufstieg, hatte ich Magenschmerzen. Ich hatte ja nur schöne Erinnerungen an ihn. Ich dachte: Mache ich nun diese heile Welt kaputt? Ich fragte mich, was ich hier eigentlich soll."
    Doch die Neugier der Nichte war stärker. Nach dem Krieg wurde ihr Onkel wegen seiner Mitgliedschaft in der norwegischen Nazipartei NS zu zwei Jahren Strafarbeit verurteilt, später aber begnadigt. Er führte in seiner Heimatstadt Aarnes das Leben eines respektierten Geschäftsmannes bis er starb. In den Akten fand Lunder einen Brief ihres Onkels, mit Heil Hitler und Hakenkreuzstempel unterschrieben. Ein Schock. Aber konkrete Vergehen konnten ihm nicht zur Last gelegt werden, selbst politische Gegner bescheinigten ihm Anstand:
    "Aus den Verhörprotokollen geht hervor, dass er meinte, es sei besser für Norwegen, wenn man mit der Okkupationsmacht zusammenarbeitete. Er war ein Mensch, der sich für die falsche politische Seite entschieden hatte, aber er hat niemanden verraten."
    Große Nachfrage nach Einsichtnahme
    In einem Kellerraum des norwegischen Staatsarchivs in Oslo lagern die Akten von Onkel Ole und 9.000 weiteren Mitläufern, Kollaborateuren und NS-Verbrechern. 70 Jahre lang waren die Akten nur Forschern und Behörden zugänglich. Seit dem 1. Januar stehen sie allen Norwegern offen – ein Antrag auf Einsicht genügt. Der Leiter des Archivs, Erland Pettersen und seine Mitarbeiter können die Anfragen kaum bewältigen – über 2.500 waren es allein in den ersten drei Monaten.
    "Es gab Besucher, die weinend aus dem Lesesaal kamen, nachdem sie in den Akten ihres Großvaters oder Onkels geblättert hatten. Das ist für sie nicht immer einfach. Die meisten sind einfach nur neugierig, aber dann werden sie vielleicht damit konfrontiert, dass ihr Onkel grausame Dinge getan hat."
    In diesen Tagen wird in Norwegen vielerorts an den Widerstand gegen die deutschen Besatzer erinnert. Die Frage der Mitverantwortung von Norwegern, etwa bei der Deportation der norwegischen Juden, wird – wie in den Jahrzehnten zuvor - in den Hintergrund treten, fürchtet die Historikerin Synne Corell. Mit der Verurteilung und Hinrichtung des norwegischen Nazi-Führers Vidkun Quisling 1945 wollten viele im Land dieses Kapitel abschließen:
    "Man hat die Mitgliedschaft in der norwegischen NS-Partei verharmlost, man hat sie nicht als bewusste politisch-ideologische Entscheidung dargestellt. Wie in anderen Ländern hat man diese Leute entweder dämonisiert oder sie als labile, sozial schwache Personen hingestellt, die nicht wussten, was sie taten. Dass nun jedermann Einblick in die Akten hat, bedeutet, dass man die alten Erklärungen nicht mehr aufrechterhalten kann. Denn dort ist man ja mit konkreten Taten konfrontiert."
    Konkrete Verbrechen aber konnten Elisabeth Lunders Onkel nicht nachgewiesen werden. Die bedingungslose Gefolgschaft der norwegischen Nazis für Hitler – etwa in der Rassenideologie – spielt für die Nichte heute eine untergeordnete Rolle. Ihr ist wichtig, dass ihr Onkel bei der Konfiszierung von landwirtschaftlichen Produkten für die deutsche Wehrmacht gehandelt haben soll:
    "In den Unterlagen geht es immer wieder um die Kartoffel-Quoten, die die Bauern der Gegend abzuliefern hatten. Im Verhör hat er ausgesagt, dass er sich darum bemüht habe, die konfiszierten Mengen niedrig zu halten, damit der Bevölkerung genügend Kartoffeln etwas übrig bleiben."
    Damit ist das Kapitel Landesverrat für diese Familie endgültig abgeschlossen. Doch im Rest des Landes wird die Debatte um die Schuldfrage weitergehen - genau 70 Jahre nach der deutschen Besetzung Norwegens.