Wer das Buch "Glaube, Führer, Hoffnung – Der Untergang der Clara S." von Susanne und Jan Peter Wiborg liest, sollte in der Mitte beginnen. Auf zwölf Seiten gewährt das Geschwisterpaar Einblicke in private Fotoalben aus der Zeit zwischen 1900 und 1945. Kinder in Sonntagskleidern, junge Frauen in dunklen Röcken und weißen Blusen, Fotos ihrer Tante Clara, der Protagonistin des Buches: Clara als Weihnachtsengel, Clara mit Zöpfen hinter der Großmutter, 1941 Clara lachend mit einer Kollegin, am Revers das goldene HJ-Abzeichen, zwei Jahre später Clara mit skeptischem Blick. Und dann gibt es noch eine Rötelskizze, ein Porträt Claras aus dem Jahre 1944, ein "Muster arischer Schönheit", wie der Zeichner damals sagte. Clara S.: Eine gutaussehende, intelligente Frau, deren Leben Anfang Mai 1945 auf Rügen mit 24 Jahren endete.
"Was ist sie für ein Mensch gewesen? Idealistisch-versponnen würde man heute sagen, sie hat sehr in Sagenwelten gelebt, in Heldengeschichten und ist immer ein bisschen in ihre Welt geflüchtet, so wird sie auch von ihren zeitgenössischen Freundinnen dargestellt."
Jan Peter Wiborg, Journalist und Historiker, hat gemeinsam mit seiner Schwester Susanne die Geschichte ihrer Tante Clara Sabrowski aufgearbeitet. Die Verkürzung des Namens auf Clara S. soll sie zum Prototyp einer jungen Frau machen, wie sie während der Braunen Diktatur in vielen Familien zu finden war: ebenso intelligente wie ehrgeizige Mädchen, die sich zu politisch radikalen und naiven Hitler-Anhängerinnen entwickelten. Es gab viele Claras! 1920 geboren, wuchs sie in einer Familie mit preußisch-pietistischen Werten auf, Kleinbürger zwar aber mit dem Wunsch nach sozialem Aufstieg. Sie lebten erst in Cammin, dann in Dramburg, kleinen Städten in Pommern.
"Cammin ist so die heile Welt der Familie, die heile Welt, die kleine kleinbürgerliche Welt, in der der Vater einem sehr guten und renommierten Beruf nachgeht, in der wirklich noch alles in Ordnung ist, Clara zwar keine Karriere machen darf, aber doch in sehr behüteten Verhältnissen aufwächst. Und das kommt in zweierlei Hinsicht durcheinander, einmal kommt der soziale Abstieg dazu, und einmal findet Clara eben Anschluss an die Nationalsozialisten."
Die Recherche beginnt mit einem Bündel vergilbter Briefe, das Susanne Wiborg überraschend erbt. Geschrieben hat sie ihre Tante Clara in der letzten Phase des NS-Regimes. Es ist ein hochverdichtetes Konglomerat teils surrealer Vorstellungen einer jungen Frau über Krieg und Frieden, über ihre Treue zum Führer bis in den Tod hinein und über ihre Rolle in diesen Schicksalsjahren des Deutschen Reichs: ein Zeitzeugnis von unschätzbarem Wert. Claras Briefe haben einen euphorisch-aufgekratzten Ton, es sind Briefe, wie sie auch heute noch Mädchen schreiben – nur nicht in diesem Kontext.
"Liebste Mutti, es ist fast komisch, dass es Ostern wird, auch im Jahr des Unheils 1945. Zwar ist der Brückenkopf, der uns sicherte, nun weg. Aber dennoch wird es noch eine Weile dauern. Die Front hier ist erst mobil, wenn Danzig fällt. Es ist bitterschwer, was auf uns zukommt. Sieg oder Tod! Wir schaffen es ja zuletzt doch noch. Unser Leben ist im Augenblick derart schön, dass Du es nicht glauben wirst und Dir auch nicht vorstellen kannst. Der Frühling so schön. Der Krieg so nah. Alles Leben gesteigert."
Clara möchte teilhaben am "gesteigerten Leben", was aber als Mädchen aus einer armen pommerschen Familie schwierig war.
"Ich hätte, wenn es nach Wunsch gegangen wäre, der Junge sein sollen", schreibt sie enttäuscht in einem ihrer Briefe. Die dumpfe NS-Ideologie sah für sie Kinder und Küche vor, berufliche Karrieren waren Männern vorbehalten. Und doch fand sie schließlich eine Nische beim BDM, beim "Bund Deutscher Mädel". Vor allem die unteren Ränge boten Posten, die viele Frauen als "Berufung" verstanden und als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Clara wurde in Deutsch-Krone hauptamtliche BDM-Führerin, im Winter 1944/45 stieg sie sogar zur "Bannmädelführerin" von Stettin auf. Sie bekam – wie man es heute ausdrücken würde – Gestaltungsspielräume, sie lebte im sozialen Dunstkreis von Partei- und Gauführung, hatte in Karl einen überzeugten Nationalsozialisten als Geliebten – allerdings einen verheirateten – und sie nahm im März 1945, während Stettin im Chaos versank, an ebenso rauschenden wie bizarren Festen teil.
"Ach Muttilein, es ist ein Leben, wie es die Fürsten führen. Mir ist im Moment restlos neblig zu Sinne, weil wir die letzten drei Nächte durchgefeiert haben. Aber mit Stil und Eleganz. Kaminfeuer, Geist, Musik und edle Tropfen. So hatte ich mir das alles einmal geträumt. Karl ist in Stettin. Ich hänge wieder mit dem Herzen so fest, dass es weh tut."
Diesen Brief schrieb sie, während eine junge Frau standrechtlich erschossen wurde, weil sie Bettwäsche aus einem brennenden Haus stahl. Clara war eine zutiefst überzeugte Nationalsozialistin, durchdrungen vom fanatischen Glauben, Führer, Partei und Volk werden in einem letzten Kraftakt doch noch den Sieg erringen. Bleibt er aus, gilt nur noch die Treue bis in den Tod.
"Sie hat kalt und dann sehr hartherzig zugeguckt, als in Dramburg Häuser von Juden brannten, das haben wir auch beschrieben. Ob sie von den anderen Dingen gewusst hat, können wir nicht sagen."
"Glaube, Führer, Hoffnung – Der Untergang der Clara S." ist ein rundum empfehlenswertes Buch. Vielleicht findet es den Weg in den Politikunterricht unserer Schulen, dort gehört es hin.
Susanne und Jan Peter Wiborg: "Glaube, Führer, Hoffnung. Der Untergang der Clara S."
Antje Kunstmann Verlag, 320 Seiten, 19,95 Euro
Antje Kunstmann Verlag, 320 Seiten, 19,95 Euro