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Nationalstaat keine Alternative zur Globalisierung

Die derzeitige Finanzkrise scheint ein perfekter Beleg dafür zu sein, dass die Globalisierung die Nationalstaaten zersetzt und ihre Bürger zu ohnmächtigen Zuschauern eines nicht mehr steuerbaren Prozesses macht. Falsch, sagt die US-Soziologin Saskia Sassen. Mit ihrem jüngsten Werk will sie den Nachweis führen, dass das Nationale und das Globale keine konträren Kategorien sind. Saskia Sassen unternimmt den Versuch, die Globalisierungsdebatte auf den Kopf zu stellen. Ob der Versuch gelungen ist, sagt Ihnen Gunter Hofmann.

    Ungewöhnlich laut wird der Ruf nach "dem Staat" derzeit wieder, nach Regeln, nach verlässlichen Kontrollfunktionen. Nothelfer soll er sein im Anblick der gewaltigen Banken- und Spekulationskrise. Vor dem Hintergrund hebt sich die zentrale These von Saskia Sassen wohltuend ab. Man dürfe den Nationalstaat nicht als Alternative zur Globalisierung betrachten, es gebe ihn weiterhin. Im Nationalen werde der globale Rahmen entwickelt, und zugleich damit verwandelt sich auch wieder der Charakter des Nationalstaates, der in Jahrhunderten entstanden ist. Wie sie das Neue seziert, das es dennoch gibt, das mag alles sehr kompliziert klingen. Aber - nur nicht abschrecken lassen! Saskia Sassen wagt etwas Tollkühnes, gemessen am akademisch Üblichen: Sie vereinfacht nicht auf eine schlichte These, sie geht den Verästelungen und Ausdifferenzierungen nach. Sie konstruiert nicht, sie dekonstruiert. So komplex sind die Verhältnisse, sagt sie!

    In diesem Buch schlage ich eine Sichtweise vor, der zufolge vieles von dem, was wir weiterhin als national erleben und auffassen, tatsächlich schon entnationalisiert ist. So wird es möglich, das Nationale als einen entscheidenden Schauplatz für die Erforschung und das Verständnis des Globalen zu erschließen.
    Es sei "keine Übertreibung zu sagen, Saskia Sassen ist eine der führenden öffentlichen Intellektuellen der Welt", hat ihr ein New Yorker Kollege einmal bescheinigt. Mit Witz fügte er hinzu: Wenn ihr Buch ein Film wäre, würde er sicherer Kandidat für mehrere Oscars sein. Ja, bravo! Ein ganzes Kapitel widmet sie daher allein der Frage, ob moderne "digitale Technologien" wirklich frei außerhalb nationalstaatlicher Zuständigkeiten operieren und sich so gegenüber der Autorität von Staaten "potentiell subversiv" verhalten. In den mittelalterlichen Städten wiederum erkennt sie manchmal Spuren des Heutigen. Der Feudalstaat verfügte seinerzeit über "zentripetale" Kräfte, zentrale Autoritäten, festes Territorium, auf die Nation bezogene Rechte.

    Heute vielmehr seien die Kräfte in den modernen Nationalstaaten, so ihr Begriff, mittlerweile "zentrifugal". Sie führen nicht zusammen, sie sprengen auseinander. Von innen. Das ist der große Widerspruch zum gängigen Bild von der Globalisierung, die von außen die Nationalstaaten okkupiert. Etwas aber muss das Zerfasernde zusammenhalten, nicht wahr? Die Religionen, unter anderem, prognostiziert sie. Mich erinnert das "Paradox des Nationalen" an ihre letzte, ähnlich fulminante Großuntersuchung über "Die globale Stadt". Sie hat sich schon seit langem damit beschäftigt, wer Kontrolle verliert - und wer sie neu gewinnt. Während den Nationalstaaten Steuerungskapazitäten abhanden kommen und eine globale, privatwirtschaftliche Ökonomie entsteht, werden Wirtschaftsprozesse von etwa vierzig solchen Weltstädten aus navigiert. Sie spricht etwas umständlich von "Assemblagen". Von Orten, auf die sich staatliche, zivilgesellschaftliche und "private" politische Aktivitäten verlagern. Hier, in globalen Städten übrigens, beobachtet sie extreme Ungleichheiten, aber auch neue Chancen für die angeblich Ohnmächtigen. Und genau an der Stelle wird die Autorin auch am politischsten.

    Viele dieser Dynamiken werden in den Städten sichtbar. Durch die 'Dichte' des täglichen Lebens und lokale, meist informelle Politik können die Städte sich dem anpassen, dass die enge Verknüpfung des Bürgers mit der offiziellen staatlichen Politik aufgelöst wird, und können diese Entwicklung vorantreiben. In diesen verschiedenen Trends hallt die Streitsache der Stadtbürger des Mittelalters wider: Sie waren informelle Akteure, die im städtischen Raum die Gegebenheiten fanden, aus denen sie ihre "Macht" als Kaufleute herleiten und ihre politischen Forderungen vorbringen konnten.
    Der heutige Multilateralismus beispielsweise, die Machtverteilung der Welt auf mehrere Zentren, unterscheide sich stark von dem der Bretton-Woods-Epoche, vor über sechzig Jahren, als der Dollar zur Leitwährung wurde. Weltbank und Internationaler Währungsfonds sind davon übriggeblieben. Aus dem damaligen, in Wahrheit noch nationalstaatlichen Denken heraus habe sich der Multilateralismus der Gegenwart entwickelt.

    Das Projekt galt der Steuerung des internationalen Systems, um das nationale Interesse zu schützen - ganz unabhängig davon, wie letzteres definiert wurde. In diesem Kontext waren die Vereinigten Staaten der wichtigste Neuerer für das Erreichen des Umschlagpunktes - was zu den allzu einfachen Interpretationen geführt hat, wonach die Globalisierung eine Amerikanisierung sei.

    Eine "Neuverteilung der Macht innerhalb des Staates" findet statt, und die Exekutive wird stärker, das Nachsehen haben die Parlamente. Siehe Amerika, Amerika als Modell für uns! Saskia Sassen betont, dem Staat bleibe eine "wichtige Rolle", zumal als "institutionelle Heimat". Fragen kann man allerdings: Ist es wirklich nur eine "Neuverteilung" der Macht, die wir erleben, und schält sich nicht doch langsam eine neue Ordnung heraus? Ist Europa, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht bereits post- und transnational und eine Erfolgsgeschichte? Die "Macht" und ihr Ort, das interessiert sie spürbar nicht nur als Selbstzweck. Es dürfe eben nicht nur darum gehen, die ökonomische Globalisierung zu fördern, argumentiert die Autorin daher. Vor allem müsse ein "größeres Maß von Gleichheit, Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit" angestrebt werden. Die "gegenwärtigen Frontlinien" seien zu ändern, und in dem hochdynamischen Zwischenbereich komme es stark auf "politische Arbeit" an. Globalisierung habe ihre konkreten Orte, es lohne, sich einzumischen! Darin gipfelt ihre Botschaft. Saskia Sassens Art, die moderne westliche Welt - und auf sie konzentriert sie sich ausschließlich - neu zu "lesen", erscheint absolut lehrreich. Eine Mikroskop-Soziologin könnte man sie nennen. Alles will sie sehr genau wissen. Zugleich aber behält sie die großen Linien fest im Visier. Ihre Absicht hat sie so formuliert:

    Selbst viele Wissenschaftler, die über die Globalisierung arbeiten, bleiben in der Sichtweise des methodologischen Nationalismus gefangen. Im Gegensatz mache ich mich heran, im Inneren des Nationalen herumzugraben, um herauszufinden, ob und wie das Globale zum Teil innerhalb des Nationalen - einschließlich staatlicher Institutionen - konstituiert wurde.
    Grabungsarbeiten geglückt. Das Paradox des Nationalen ist die geglückte Bestandsaufnahme der Lage des Nationalstaates im Zeitalter der Globalisierung, aus der Feder einer klugen Zusammendenkerin.

    Gunter Hofmann über Saskia Sassen: Das Paradox des Nationalen.Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter. Das Buch ist bei Suhrkamp erschienen, hat 735 Seiten und kostet 36 Euro 80.