Sie können das Interview auch im Französischen Original nachhören.
Sandra Schulz: Der französische Präsident Hollande, der hat für heute beide Kammern des Parlaments nach Versailles einberufen. Er will dort seine Strategie für den Kampf gegen den Terrorismus bekanntgeben. Die französische Luftwaffe fliegt in Syrien Angriffe gegen die Stellungen des sogenannten Islamischen Staats. Bisher lehnt die französische Regierung eine direkte Zusammenarbeit mit dem Machthaber al-Assad ab, aber vielleicht nicht mehr lange. Der französische Parlamentsabgeordnete Jacques Myard von der konservativen Oppositionspartei Les Républicains hat Assad im Februar in Damaskus getroffen. Mein Kollege Christoph Heinemann hat ihn gestern erreicht und auch ihn zunächst gefragt, ob Frankreich bei der NATO den Bündnisfall beantragen wird.
Jacques Myard: Der Artikel 5 des Nordatlantikvertrages läßt sich auf solche Fälle des Kampfes gegen Terroristen nicht unbedingt anwenden. Uns hat kein Staat angegriffen, auch wenn es sich um den "Islamischen Staat" handelt. Hier müssen wir Vernunft walten lassen. Der Artikel 5 bezieht sich auf Angriffe von Staat gegen Staat. Aber jenseits dieser juristischen Bewertung glaube ich, dass alle europäischen und arabischen Nationen, die nicht möchten, dass Religionskriege die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit bilden, Frankreich vor allem bei der Suche nach den Terroristen helfen können.
Myard nennt Merkels Flüchtlingspolitik abenteuerlich
Heinemann: Die Europäische Union ist in der Frage der Flüchtlinge zerstritten. Was erwartet Frankreich von seinen Partnern?
Myard: Die Flüchtlingsfrage ist eine sehr große Herausforderung, und wir stehen gerade am Beginn dieser Verlagerung und der Migration. Ich stelle mit Bedauern fest, dass die Erklärung der Kanzlerin Angela Merkel eine abenteuerliche war, als sie sagte, sie werde 800.000 Flüchtlinge aufnehmen. Ich habe mich damals in Jordanien und Saudi-Arabien aufgehalten. Diese Erklärung hat wie ein Aufruf gewirkt: Die Grenzen sind offen, wir können kommen. Die Sünde der Kanzlerin bestand leider in dem Tempo, in dem das vor sich ging. Es ist höchste Zeit, dass es eine europäische Koordination gibt. Wir müssen jetzt - erstens - sagen: Es kommt nur herein, wer die Voraussetzungen für politisches Asyl erfüllt. Zweitens: Die Grenzen sind geschlossen. Wir sind aber bereit, mit allen Herkunftsländern zusammenzuarbeiten, um Frieden und ein wirtschaftliches Gleichgewicht herzustellen. Wir benötigen - die Deutschen werden das verstehen - einen Marshall-Plan zur Entwicklung dieser Weltregionen, um die Flüchtlingsströme zu verhindern.
Heinemann: Sie haben zu Beginn dieser Jahres Bashar Al Assad, den syrischen Präidenten und Verantwortlichen für Tausende Tote unter seinen Landsleuten, in Damaskus getroffen. Die französische Regierung hat diese Reise scharf kritisiert. Wächst nach dem 13. November die Bereitschaft, mit Assad zusammenzuarbeiten, um den IS zu zerschlagen?
Myard: Bashar al Assad ist sicherlich kein harmloses Küken, also kein großer Demokrat vor dem Herrn. Aber es steht genauso wenig fest, was im Westen immer ohne Beweise behauptet wurde, dass er Gas angewendet hat. Das ist so, und es ist in Europa, Frankreich und Deutschland kaum bekannt.
Heinemann: Sie halten ihn für unschuldig?
Myard: Viele Leute sagen und es gibt viele Berichte, auch amerikanische, die belegen, dass er das nicht war. Und nicht gewesen sein kann.
Myard: Assad ist das kleinere Übel
Heinemann: Und die Hubschrauber und Fassbomben?
Myard: Das streite ich nicht ab. Aber auch viele Aufständische haben Raketen eingesetzt und vor allem in Aleppo auf Kirchen und Zivilisten gezielt. Das ist ein Stellvertreterkrieg. Einige Staaten haben den "Islamischen Staat" und die Al-Kaida-Organisation Al Nusra-Front direkt unterstützt. Als ich Assad getroffen habe, hat er klar gesagt, es werde keine militärische Lösung geben, man müsse eine politische Lösung suchen. Ich bedaure, dass die europäischen Staaten und allen voran Frankreich sich hinter einer Haltung verschanzt haben: niemals mit Bashar. Aber man wird mit ihm reden müssen, um eine politische Lösung zu finden. Vor und nach Beginn des Krieges habe ich Syrien mehrmals bereist. Ich kann Ihnen sagen: Alle christlichen Minderheiten unterstützten das Regime, denn sie wissen, dass, wenn dieses Regime fallen wird, Al Kaida und der IS folgen werden. Manchmal muss man das kleinere Übel wählen, und ich sage klar: Feind Nummer eins ist Al Kaida und der IS und nicht Bashar Al Assad.
Heinemann: Saudi-Arabien und die türkische Regierung unterstützten den IS. Wie sollte man darauf reagieren?
Myard: Wir - und Frankreich voran - waren sträflicherweise viel zu nachgiebig. Es ist angenehm, mit Saudi-Arabien Handel zu treiben. Saudi-Arabien ist keine Demokratie. Dort werden Menschen mit dem Säbel enthauptet. Und dieser Staat ist in Menschenrechtskomitees der Vereinten Nationen vertreten. Ich bin gerade aus der Türkei zurückgekehrt. Leider hat die Türkei ein doppeltes Spiel gespielt. Sie geben zu, dass sie die Aufständischen militärisch massiv unterstützt haben und dem IS sogar Erdöl abgekauft haben. Im Nahen Osten wird gepokert und gelogen. Einige Mächte haben im syrischen Krieg die Rolle des Zauberlehrlings übernommen.
Heinemann: Zur Lage in Frankreich: Wird der Front National von der gegenwärtigen Lage profitieren?
Myard: Eins steht fest: Wenn man die Probleme nicht behandelt, die Sicherheit der Franzosen, die Kontrolle der Flüchtlingsströme, die Notwendigkeit eines Wirtschaftswachstums, dann werden extremistische Parteien davon profitieren. Man kann nicht einfach sagen: Ach, Du lieber Gott, die Extremisten legen zu! Man muss an die Probleme herangehen. Es ist ganz einfach: Wenn der Staat schwach ist, wenn er die Sicherheit der Bürger nicht gewährleistet, muss man sich nicht wundern, wenn die Leute aufbegehren und die Dinge selbst in die Hand nehmen.
Schulz: Der konservative französische Abgeordnete Jacques Myard im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Die Fragen stellte mein Kollege Christoph Heinemann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.