Europa und die Verteidigung
Der schwierige Weg der EU zur Aufrüstung

Die Verteidigung in Europa soll stark ausgebaut werden. Doch wie viel Geld die EU-Staaten in die Aufrüstung stecken sollen und wie diese organisiert werden soll – darüber herrscht Uneinigkeit.

    Europäische Soldaten nehmen an der Militärübung MILEX24 teil.
    "Wenn Europa überleben will, muss es sich bewaffnen", warnt der polnische Regierungschef und EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk (picture alliance / dpa / Philipp Schulze)
    Die EU bemüht sich vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, die Rüstungsproduktion hochzufahren. Viele der EU-Länder sind auch NATO-Mitgliedsländer und stehen unter zusätzlichem Druck, nachdem US-Präsident Donald Trump sie wiederholt aufgefordert hat, ihre Verteidigungsausgaben drastisch zu erhöhen.
    Russland stellt nach Ansicht der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas eine existenzielle Bedrohung für die Sicherheit der Europäischen Union dar. Dem sei nur mit höheren Verteidigungsausgaben zu begegnen, sagt sie. Doch auf dem Weg dorthin liegen einige Hindernisse.

    Inhalt

    Wie viel Geld will die EU in die Rüstung stecken?

    Die EU-Kommission beziffert die nötigen Zusatzkosten für Verteidigung auf 500 Milliarden Euro über zehn Jahre. Diese Zahl nannte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ende Juni 2024, also noch vor ihrer Wahl für eine zweite Amtszeit.
    Doch diese Ansage sorgt für erhebliche Differenzen zwischen Brüssel und einigen Mitgliedsstaaten. Auch wirft sie Fragen auf: Wie berechnet sich diese Summe beispielsweise und wo soll das Geld herkommen?
    Der Politikwissenschaftler Christian Mölling, Direktor des Programms „Europas Zukunft“ der Bertelsmann Stiftung, meint dazu:
    „Man kann nicht allein über die Zahl reden, sie müssen schon sagen, was sie davon kaufen wollen. Alles fängt an mit dem militärischen Bedarf, und der liegt wahrscheinlich sehr viel höher als die 500 Milliarden. Die Frage ist dann auch, wer kriegt das Geld, wer stellt es bereit und wer entscheidet eigentlich, wofür es ausgegeben wird?

    Was sind die Ziele der EU für die Rüstung?

    Die Ziele der EU-Kommission sind in einem sogenannten „mission letter“ oder Weißbuch festgelegt. Was dort formuliert ist, erklärt der Ökonom und Europapolitik-Experte Guntram Wolff: Die Kapazitäten sollen für die „extremsten Szenarien“ gestärkt werden, also einen Angriff Russlands auf Europa. Dabei sollten die Europäer über alle Bereiche der Rüstung hinweg eine Kapazität erreichen, um der Bedrohung Russlands standhalten zu können. Der zentrale Begriff dabei sei „full spectrum“.
    Der Begriff meine, dass die gesamte Bandbreite der militärischen Fähigkeiten etwa um ein Drittel aufgestockt werden müsse, erklärt Christian Mölling – mit einer Ausnahme: Besonders große Lücken bestünden bei der Flugabwehr und bei weitreichenden Raketen: „Da sind wir, so wie es der Heeresinspekteur gesagt hat, blank oder fast blank.“ 
    Zusätzlich geht es beispielsweise um einen massiven Ausbau von Drohnenbeständen, die Verstärkung von Seestreitkräften sowie auch um die Vorbereitung und Sicherung der klassischen Infrastruktur für einen Ernstfall: Straßenbrücken, Wasserwege, Digitalinfrastruktur.
    Mit der Umsetzung dieses „mission letters“ ist Andrius Kubilius beauftragt, Verteidigungskommissar der EU. Er soll die entsprechenden Prioritäten mit allen EU-Hauptstädten bis März 2025 klären.

    Welche Probleme gibt es bei der Umsetzung der Rüstungsziele in der EU?

    Noch sind die Rollen und Kompetenzen innerhalb der EU bei dem angestrebten Aufrüstungsziel nicht definiert. Ist aber nicht klar, wer welche Aufgaben übernimmt, steigt die Gefahr von Doppelstrukturen wie auch von Konkurrenz. Experten wie Christian Mölling hoffen deshalb, dass das Weißbuch Klarheit über die genaue Arbeitsteilung zwischen EU-Kommission, der NATO und den Mitgliedsstaaten schafft.
    Hinzu kommt, dass EU-Länder fürchten könnten, Brüssel wolle den Nationalstaaten in Rüstungsfragen zusätzliche Kompetenzen entwinden. Das könnte teilweise zu Widerstand in verschiedenen EU-Ländern gegen die im Weißbuch formulierten Ziele führen. Zwar würden seit Jahren Synergieeffekte durch gemeinsame Beschaffungsprojekte beschworen, doch noch immer werde zu viel national und in zu kleinen Stückzahlen gefertigt, kritisiert Guntram Wolff. Nicht nur die Kapazitäten müssten rasant wachsen, auch die Beschaffungskultur müsse sich ändern. Roderich Kiesewetter, CDU-Außenpolitiker und Verteidigungsexperte, hebt hervor:
    „Wir würden in Europa vielleicht auch mit drei Prozent deutlich mehr erreichen, wenn die Rüstungsindustrie gezwungen wird, die gleichen Modelle, die gleichen Systeme für alle Länder so herzustellen, dass man nicht unterschiedliche Munitionssorten braucht.“
    Die Zusammenarbeit bei der Beschaffung müsse durch verbindliche Standards und vergleichbare Prozesse erleichtert werden.
    Ein zentrales Problem stellt überdies die Produktionskapazität der europäischen Rüstungsindustrie dar. Sie muss in der Lage sein, die benötigten militärischen Mittel tatsächlich liefern zu können. Militärische Bestände zu erneuern oder umzustellen, kann aber viele Jahre dauern. Der Aufbau der Kapazitäten gehe viel zu langsam, heißt es in Brüssel. 

    Der Streit um die Verteidigungsausgaben der EU-Länder in der NATO

    23 EU-Länder sind Mitglieder der NATO: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, die Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Tschechien und Ungarn.
    Für alle NATO-Mitgliedstaaten gilt für Verteidigungsausgaben das Zwei-Prozent-Ziel, das heißt, dass die NATO-Staaten sich verpflichten, künftig oder weiter zwei Prozent des BIP eines jeden Staates für Verteidigung auszugeben.
    Sieben europäische NATO-Staaten bleiben derzeit unter dem Zwei-Prozent-Ausgabenziel. Darunter waren 2024 laut einer NATO-Schätzung Italien mit 1,49 Prozent, Belgien mit 1,30 Prozent oder Spanien und Luxemburg, die bei 1,3 Prozent liegen. Deutschland hielt das Zwei-Prozent-Ziel 2024 erstmals seit Jahrzehnten wieder ein. Spitzenreiter bei der Quote sind derzeit Polen mit Verteidigungsausgaben von 4,12 Prozent des BIP und Estland mit 3,43 Prozent – Länder, die eine Grenze mit Russland teilen. 
    Doch vielen gilt das Zwei-Prozent-Ziel nicht mehr als ausreichend: So hat US-Präsident Donald Trump den Europäern mit dem Ende des NATO-Beistandspakts gedroht, sollten sie nicht genug in ihre Verteidigung investieren. Er fordert Ausgaben in Höhe von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas und der polnische Regierungschef und EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk rufen die Europäer dazu auf, mehr in ihre eigene Sicherheit zu investieren.
    Polen und die Baltenländer drängen in der NATO schon lange zu höheren Verteidigungsausgaben. Litauen plant beispielsweise, die Investitionen in die eigenen Streitkräfte auf fünf, später sogar auf sechs Prozent des BIP zu steigern. 
    Beim NATO-Gipfel im Juni 2025 in Den Haag soll das gemeinsame Ausgabenziel neu definiert werden. Dabei werden Verhandlungen um eine höhere Zielmarke von zunächst drei oder 3,5 Prozent erwartet. 
    Durch diese Diskussionen und Forderungen steigt der Druck auch auf die künftige Bundesregierung in Deutschland, die Ausgaben für die Verteidigung zu steigern.

    Welche Rolle spielt die Verschuldung in Europa für die Rüstungspläne?

    Drei Prozent für die Verteidigung – das würde eine große Herausforderung für die Haushaltsplanungen vieler NATO-Staaten in Europa bedeuten. Die Frage, wie die notwendigen Investitionen finanziert werden können, ist daher noch unbeantwortet.
    Denn: Mehr als die Hälfte der EU-Länder hat Schuldenberge aufgetürmt, die höher sind als vom Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt. Gleichzeitig liegt auch das jährliche Haushaltsdefizit in fast jedem dritten EU-Staat oberhalb der erlaubten Grenze von drei Prozent. Gegen sieben Mitgliedstaaten laufen sogar Defizitverfahren.
    Daher besteht in vielen EU-Ländern die Notwendigkeit, Schulden herunterzufahren. Dazu kommt: Neben den Verteidigungsausgaben müssen alle EU-Staaten auch in andere Bereiche investieren, beispielsweise in Digitalisierung, Klimaschutz oder Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit.
    Ein Vorschlag lautet daher: Die EU soll sich gemeinsam verschulden, um damit zumindest einen Teil der zusätzlichen Verteidigungsausgaben zu stemmen. Doch dies stößt auf Kritik – und Hindernisse. Denn für die EU gilt ein strenger Finanzdeckel, die sogenannte Eigenmittel-Obergrenze. Sie liegt bei zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist die Summe, die die Mitgliedstaaten aus ihren nationalen Budgets nach Brüssel überwiesen, damit die EU arbeiten kann. Und diese Obergrenze ist beinahe ausgeschöpft. Um aber auf einen 500-Milliarden-Topf für die Verteidigung zu kommen, müsste die Obergrenze mindestens auf 2,7 oder 2,8 Prozent erhöht werden, erklärt der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber.
    Eine Lösung könnte eine Art Nebenhaushalt darstellen, der in der Kontrolle der Mitgliedstaaten liegt und deshalb nicht durch die Eigenmittelobergrenze bestimmt wird, wie beispielsweise die „European Peace Facility“– ein Geldtopf außerhalb des EU-Haushaltes, über den unter anderem die Unterstützung für die Ukraine finanziert wird. So könne die EU Aufgaben übernehmen, die die Mitgliedstaaten einzeln überfordern, argumentiert beispielsweise René Repasi, SPD-Abgeordneter im Europaparlament.
    Sollten die EU-Staaten Rüstungsausgaben gemeinsam bestreiten, könnte dies weitere Vorteile bringen, etwa, dass sie gegenüber der Rüstungsindustrie bei der Beschaffung eine größere Marktmacht und damit eine bessere Verhandlungsposition haben. Oder um große Rüstungsprojekte von europäischer Dimension zu stemmen, etwa einen gemeinsamen Raketenschild.
    Andere Vorschläge wiederum rücken deutlich von neuen Krediten ab: Militärprojekte im EU-Verbund sollten nicht kreditfinanziert werden, sondern, indem die Mitgliedstaaten Haushaltsmittel in einen Gemeinschaftstopf überweisen – zusätzliche Rüstungsausgaben also, aber ohne zusätzlich Schulden.
    cs