Der lettische Präsident Egils Levits hat Russland vorgeworfen, Europa dominieren zu wollen. Dies sei imperialistisches Denken des 19. Jahrhunderts. Auch deswegen sei die Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO die richtige Entscheidung, sagte Levits im Deutschlandfunk.
Die NATO werde sich vorbereiten, die Mitgliedsstaaten zu verteidigen, damit die andere Seite gar nicht auf den Gedanken komme, anzugreifen. "Genau das ist die Message. Das ist der Sinn der ganzen Entscheidung, einen Angriff nicht zuzulassen durch Stärke."
Zum vorausgegangenen Streit mit der Türkei über den Beitritt der beiden Länder, sagte Levits, die NATO sei ein Solidarbündnis, in dem die Interessen aller Mitglieder gewahrt werden müssten. Die Türkei hatte dem Beitritt zugestimmt unter der Voraussetzung von Zugeständnissen der nordischen Länder. Unter anderem sagten Schweden und Finnland zu, dass es keine Waffenembargos gegen die Türkei geben werde.
Zudem versprachen sie ein entschiedenes Vorgehen gegen Terrorismus sowie gegen die PKK. Auch sollten türkische Auslieferungsanträge von Terrorverdächtigen zügig geprüft werden. Die Kritik von Präsident Putin am westlichen Bündnis wies der lettische Präsident zurück. Was Putin sage, sei irrelevant und lächerlich. Man müsse die Kräft in Russland genau beobachten.
Das Interview in voller Länge:
Schulz: Sie und Ihre baltischen Nachbarn haben lange gewarnt und gemahnt, auch schon vor dem russischen Überfall. Macht die NATO jetzt das Richtige?
Levits: Ja, absolut! Die NATO hat sich einfach an die neue Lage angepasst, weil die NATO ist ja ein Verteidigungsbündnis, und wenn neue Bedrohungen hinzukommen oder entstehen, dann ist der Sinn und Zweck der NATO, darauf zu reagieren – mit dem Ziel, die Verteidigung und die Sicherheit der Mitgliedsstaaten zu garantieren. Genau das hat die NATO jetzt auf diesem Gipfeltreffen in Madrid auch getan.
Schulz: Sind Sie denn zuversichtlich, dass das alles auch so klappt wie geplant?
Levits: Ja, ich glaube schon. Das sind 30 Staaten bisher. Seit gestern sind zwei neue Staaten hinzugekommen, Finnland und Schweden, die der NATO beigetreten sind. Die Formalitäten werden in ein, zwei Wochen erledigt. Aber das ist ein sehr starkes Verteidigungsbündnis mit dem Ziel, die Sicherheit zu garantieren. Die NATO hat auf die neue ideologische Ausrichtung Russlands reagiert. Russland will ideologisch und hat sich offen dazu bekannt und gesagt, Europa zu dominieren. Das ist ein Denken des 19. Jahrhunderts, ein imperialistisches Denken. Das können wir nicht erlauben, das würde uns unserer Freiheit berauben, so dass wir darauf reagieren und entsprechende militärische Fähigkeiten bereitstellen, damit ein Angriff nicht denkbar ist für Russland. Das heißt, der Zweck ist, so stark zu sein, dass ein potenzieller Angreifer – und das ist in diesem Falle Russland; ist auch bekannt, ist auch benannt – daran gar nicht denkt, die NATO anzugreifen.
"NATO wird sich vorbereiten, die Mitgliedsstaaten zu verteidigen"
Schulz: Auf Finnland und Schweden würde ich gleich gerne noch mal genauer schauen. Da läuft jetzt dieser Aufnahmeprozess. Da gibt es, glaube ich, unterschiedliche Schilderungen, wie lange das jetzt dauern wird. Aber bleiben wir noch mal bei dieser Verstärkung der Ostflanke. Da haben wir gerade im Bericht gehört, das könnte ein Jahr dauern. Ein Jahr erscheint jetzt nach den Ereignissen vom Februar, nach dem Überfall Putins auf die Ukraine ganz schön lang, oder?
Levits: Ja, aber ein Angriff auf einen anderen Staat auch für Russland, das ist nicht von einem Tag auf den anderen Tag zu bewerkstelligen. Wir haben gesehen, Russland hat sich lange, monatelang und, ich würde sagen, sogar jahrelang auf den Angriff vorbereitet. Das ist schon etwas sehr gewaltiges, um einen solchen Angriff zu starten, und natürlich wissen wir davon und weiß man durch Nachrichtendienste, durch Satelliten, aber auch einfach, wenn man die Äußerungen der russischen Führung beobachtet, der Angriff auf die Ukraine war keine Überraschung, weil Russland hat sich militärisch dafür vorbereitet. Genau das ist auch so: Die NATO wird sich vorbereiten, die Mitgliedsstaaten zu verteidigen, damit die andere Seite gar nicht auf den Gedanken kommt, weil das würde eine Niederlage für die andere Seite bedeuten, und genau das ist die Message. Das ist der Sinn der ganzen Entscheidung, einen Angriff nicht zuzulassen durch Stärke.
"Was Putin sagt, das ist völlig irrelevant"
Schulz: Wladimir Putin dreht den Spieß auch gerne um, das wissen wir, dreht auch gerne die Fakten um. Er wirft der NATO jetzt imperiale Ambitionen vor. Wird die Lage auch gefährlicher?
Levits: Wissen Sie, was Putin sagt, das ist völlig irrelevant. Das ist alles aus der Luft gegriffen und es wäre dumm, darauf einzugehen. Wir müssen Russland beobachten und sehen, was Russland tut. Was Putin sagt, das ist lächerlich. Es gibt einige, die sagen, man muss Putin erlauben, das Gesicht zu wahren. Ich schere mich nicht um sein Gesicht. Ich schere mich um die tausenden von Toten in der Ukraine, die er ermordet hat. Ich schere mich um die Bedrohung, die er für die ganze Welt und Europa insbesondere macht. Das ist, worauf wir reagieren müssen, nicht auf das, was er denkt und wie sein Gesicht aussieht.
Schulz: Sie spielen an auf die Worte des französischen Präsidenten Macron. – Wenn wir jetzt noch mal herübergehen und auf diese Norderweiterung schauen. Finnland und Schweden bald Mitglieder der NATO, Mitglieder mit starken Armeen. Was bedeutet das für Sie im Norden der EU und der NATO?
Levits: Ja! Das bedeutet eine Stärkung der NATO, weil die NATO ist ein Solidarbündnis. Das heißt, ein Angriff auf einen Staat bedeutet automatisch einen Angriff auf alle NATO-Mitgliedsstaaten. Bisher hatten wir 30 Mitglieder, jetzt werden wir 32 haben und mit sehr gut trainierten militärischen Kräften, weil Finnland und Schweden bisher ihre Sicherheitspolitik darauf ausrichteten, dass sie alleine das Land verteidigen werden. Das ist eine sehr starke militärische Kraft und die kommt zu der Kraft der NATO hinzu. Der Beitritt Finnlands und Schwedens stärkt den Frieden in Europa, weil der Frieden kann nur durch die Stärke der NATO garantiert werden. Wenn die NATO Schwäche zeigt, das ist eine Einladung an Russland weiterzugehen, und genau solche Schwächen darf man nicht zeigen, solange Russland diese aggressive Ideologie verfolgt, das heißt das Ziel, über Europa zu dominieren, verfolgt. Es scheint, dass wir uns auf eine gewisse Dauer auf diese Lage einrichten müssen.
Schulz: Herr Präsident, da würde ich gerne noch zwischenfragen, denn der Einigung, die es jetzt gegeben hat auf diese Norderweiterung, hatte sich ja erst mal die Türkei entgegengestellt. Jetzt hat es diese Zusagen gegeben aus Finnland und Schweden. Die Vorgeschichte dieser Einigung ist eine Erpressung innerhalb des Bündnisses. Wie schwer wiegt dieser Makel?
Levits: Die NATO ist ein Solidarbündnis und darin müssen die Interessen aller Staaten, aller Mitglieder berücksichtigt werden. Dieses Problem mit der Türkei ist bereinigt worden und das ist das Ergebnis, das die gesamte NATO stärkt. Unter 30 oder zukünftig 32 Mitgliedern muss man, bevor man eine Einigung erzielt, diskutieren, aber am Ende muss eine Einigung zustande kommen, weil die Einigkeit der NATO ist auch die Stärke der NATO.
Europa muss sich der Realität stellen
Schulz: Herr Präsident, Sie haben uns hier in den „Informationen am Morgen“ das letzte Interview am 24.2. Gegeben, am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Sie haben da in, glaube ich, der allerersten Antwort gesagt, das könne der Anfang vom Ende des Regimes in Moskau sein. Sehen Sie das noch so?
Levits: Irgendwann schon, weil auch die Sanktionen beginnen, für Russland zu wirken. Aber wir müssen uns auf eine dauerhafte Situation, wie sie jetzt ist, einrichten, weil Russland hat ganz klar gesagt, das Ziel ist die NATO, das Ziel ist Europa, Dominanz, Herrschaft über Europa, und das können wir nicht zulassen. Wir müssen uns der Realität stellen. Das haben wir getan, jetzt in Madrid mit den neuen Beschlüssen, mit dem neuen Verteidigungskonzept, und das ist die Garantie des Friedens für die NATO-Staaten für die Zukunft, solange Russland eine aggressive Macht bleibt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen