Tobias Armbrüster: Was bedeutet diese NATO-Erweiterung nun für das Verhältnis zwischen der NATO und Russland? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Zukunft? Und vor allem: Wie lässt sich das Vertrauen wiederherstellen zwischen dem transatlantischen Bündnis und Russland? Ich habe darüber kurz vor dieser Sendung mit Otfried Nassauer gesprochen. Er ist Friedensforscher und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit. - Schönen guten Abend, Herr Nassauer.
Otfried Nassauer: Schönen guten Abend, Herr Armbrüster.
"Möglichkeit zum Mitreden bei strategischen Entscheidungen"
Armbrüster: Montenegro in die NATO, ist das eine gute Entscheidung?
Nassauer: Montenegro in die NATO ist eine quasi alternativlose Entscheidung. Ob sie jetzt erfolgen müsste oder vielleicht auch noch zwei, drei Jahre auf sich warten lassen hätte können, das ist nebensächlich. Dass Russland mit dieser Entscheidung, Montenegro aufzunehmen, ein grundsätzliches Problem hat, das ist klar. Russland ist gegen jede NATO-Erweiterung, weil es befürchtet, dass die NATO in einem zweiten oder dritten Schritt auch noch Nachbarn Russlands, nämlich die Ukraine oder Georgien aufnehmen wird. Dafür gibt es ja diese sogenannte Politik der NATO der offenen Tür, in der die NATO diese Möglichkeit offenhält. Und wie wir durch die Ukraine-Krise durchaus wissen, ist es tatsächlich für Russland ein Problem, wo Russland sagt, das betrifft unsere Sicherheit so zentral, dass wir da mitreden wollen. Und die NATO muss uns als Russland die Möglichkeit zum Mitreden bei strategischen Entscheidungen über die Sicherheit Europas in irgendeiner Form geben.
Armbrüster: Wie sicher ist das denn, dass diese beiden Staaten, Ukraine und Georgien, dass die in naher Zukunft zumindest Mitglied in der NATO werden?
Nassauer: In naher Zukunft halte ich das für relativ ausgeschlossen. Das würde meiner Einschätzung nach das Verhältnis zu Russland langfristig so vergiften, dass es nicht im Interesse vieler der Staaten auch in der NATO wäre. Da glaube ich nicht, dass es passieren wird. Es kann natürlich durchaus sein, dass es in fünf oder zehn oder 15 Jahren wieder auf die Tagesordnung kommt, denn beide Staaten sind natürlich durch Kooperationsprogramme mit der NATO verbunden.
NATO-Russland-Rat sollte besser genutzt werden
Armbrüster: Aber ist das dann nicht, was wir heute erlebt haben, ein fatales Signal, diese Aufnahme von Montenegro? Damit zeigt die NATO ja im Grunde in Richtung Russland, wir scheren uns relativ wenig um eure Befürchtungen, wir nehmen Staaten auf, die sich bei uns bewerben?
Nassauer: Das ist ein Problem, das eigentlich schon viel, viel länger existiert. Auf dieses Problem, dass die NATO im Wesentlichen die europäischen Sicherheitsfragen so behandelt, dass sie Russland vor das Verhandlungsergebnis oder vor das politische Ergebnis in der NATO stellt und sagt, ihr müsst das jetzt entweder akzeptieren und damit glücklich sein, oder es fällt in China ein Sack Reis um, das ist in der Tat ein Hauptproblem im NATO-Russland-Verhältnis und es hat auch mit dazu beigetragen, dass der russische Präsident Putin in den letzten Jahren eine sehr viel stärker die nationalen sicherheitspolitischen Interessen Russlands vertretende Politik macht. Wir können da zum Beispiel mal auf die Krim gucken.
Armbrüster: Das müssen Sie erklären.
Nassauer: Russland hat lange Jahre immer wieder von der NATO gefordert, dass die NATO Russland ein Mitspracherecht gibt. Bei den Osterweiterungen der NATO sollte das ja auch eigentlich passieren und der NATO-Russland-Rat sollte die Möglichkeit sein, da Mitsprache zu praktizieren. Nur im NATO-Russland-Rat reden die Staaten mit Russland eigentlich 28 gegen einen, und zwar deswegen, weil auf die Tagesordnung des NATO-Russland-Rates im Wesentlichen die Punkte kommen, wo die NATO-Staaten sich inhaltlich schon einig sind. Andere Dinge, die kontrovers sind, kommen da nicht zur Sprache und das ist aus russischer Sicht wirklich ein Problem, weil da könnte man ja normalerweise kooperative Lösungen suchen. Russland versucht inzwischen, das Ganze über die Forderung nach einer vertraglichen Lösung, nach einer vertraglichen Vereinbarung hinzubekommen. Den Versuch hat es schon mal gemacht, Ende 2009, aber der Vertrag, den die Russen damals vorgelegt haben, der war sehr kurz und sah Krisenkonzentrationen verpflichtend für Situationen der europäischen Sicherheit vor. Den hat die NATO gar nicht ernsthaft diskutiert.
Russland in die NATO aufnehmen?
Armbrüster: Das heißt aber, Herr Nassauer, wenn ich Sie da richtig verstehe, dann müsste die NATO eigentlich ihre Beitrittskandidaten von Russland absegnen lassen?
Nassauer: Nein, das habe ich damit nicht gesagt, sondern ich habe gesagt, Russland braucht ein Mitspracherecht in zentralen Fragen europäischer Sicherheit. Es muss der NATO durchaus klar machen können, wenn ein geplanter oder ein angedachter NATO-Schritt für Russland eine sicherheitspolitische existenziell wichtige Frage ist.
Armbrüster: Das heißt, im Zweifelsfall sollte sich die NATO dagegen entscheiden, ein Land aufzunehmen, auch wenn dieses Land es möchte, nur weil Russland es ablehnt?
Nassauer: Das kann das heißen. Zumindest kann es das vorübergehend heißen, und zwar schlicht und einfach deswegen, weil man die Alternative in der NATO einfach nicht praktizieren will, nämlich Russland den NATO-Beitritt anzubieten.
Armbrüster: Warum das eigentlich nicht?
Nassauer: Das verstehe ich auch nicht.
Armbrüster: Das verstehen Sie nicht?
Nassauer: Nein, das verstehe ich wirklich nicht, weil die Chance dazu hätte es mehrfach in den 90er-Jahren beziehungsweise in den 2000er-Jahren gegeben. Und wenn man das als einen mittel- bis längerfristigen Prozess angelegt hätte, hätte das in der Tat klappen können und dann wäre europäische Sicherheit eine Aufgabe kooperativer Sicherheit, sprich der Kooperation mit Russland, und nicht, wie das jetzt im Moment sich stark wieder neu entwickelt, die Aufgabe, Sicherheit vor Russland zu organisieren.
"Politik als deeskalierendes Element scheint verloren gegangen zu sein"
Armbrüster: Gut, das sind nun alles Hypothesen. Lassen Sie uns noch mal gerade kurz auf die Realität blicken, auch die Realität dieses NATO-Außenministertreffens. Wir erleben ja zurzeit oder in den letzten Monaten auch immer stärker die verstärkte NATO-Präsenz an den NATO-Außengrenzen in Osteuropa. Mit welchen Reaktionen müssen wir da in den kommenden Monaten und Jahren rechnen, wenn das so weitergeht?
Nassauer: Es besteht - das hat auch zum Beispiel der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Chuck Hagel kürzlich gesagt - die Gefahr, dass hier wieder neues Wettrüsten in Gang gesetzt wird, weil im Prinzip keiner sein Gesicht verlieren will und beide Seiten, also Russland und die NATO, immer weiter kleine Nadelstiche setzen, mit denen die andere Seite wiederum zu Reaktionen herausgefordert wird. Nehmen wir mal den Westen als Beispiel, um nicht immer nur die Russen als Beispiel zu nehmen. Die NATO nimmt die von den Russen klar abgelehnten Raketenabwehrprojekte in Rumänien jetzt in Betrieb, beginnt mit dem Bau eines ähnlichen Projektes in Polen, macht in diesem Jahr noch vor dem NATO-Gipfel ein großes Manöver in Polen. Das alles hat natürlich damit zu tun, dass wir mit den neuen Mitgliedern Mitglieder haben in der NATO, die tatsächlich auch sagen, dass sie Angst vor einem Angriff Russlands auf ihr Territorium haben, zum Beispiel im Baltikum oder in Polen. Und diese Balance, die im Kalten Krieg zu den großen Fähigkeiten der Politik gehörte, nämlich in solchen Situationen Politik als deeskalierendes Element einzusetzen, die scheint im Moment ein bisschen verloren gegangen zu sein. Beide Seiten eskalieren dadurch, dass sie neue Ankündigungen über Aufrüstung, über neue Rüstungsschritte, über neue Militärstationierungen et cetera vornehmen.
"Russland ist teilweise auch ein reagierender Faktor"
Armbrüster: Aber ist Moskau, ist Russland da nicht eindeutig der treibende Faktor?
Nassauer: Nicht eindeutig. Nein. Russland ist teilweise auch ein reagierender Faktor, weil seit 2001 klare Warnsignale an den Westen gehen, dass Russland ein Mitspracherecht bei europäischen Sicherheitsfragen immer wieder in den Wind geschlagen worden sind. Putin hat das selber in mehreren Reden sehr deutlich als Problem benannt, dass es mit ihm nicht so weitergehen wird wie mit Jelzin, nämlich dass die NATO entscheidet, was sie macht und Russland dann sagen kann, ob es das unterstützt oder ablehnt, aber es passiert gar nichts, die NATO macht, was sie will.
Armbrüster: Der Friedensforscher Otfried Nassauer, Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit, hier im "Journal vor Mitternacht" im Deutschlandfunk.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.