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Die NATO-Russland-Grundakte
Aus einer sicheren Zeit

Die NATO und Russland haben sich am 27. Mai 1997 in Paris zu Kooperation, freier Bündniswahl von Staaten und der Unverletzlichkeit von Grenzen verpflichtet. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verstößt gegen diese gemeinsame Grundakte – die nach wie vor Bestand hat. 

Von Gesine Dornblüth und Thomas Franke |
Russlands Präsident Boris Jelzin (links) und NATO-Generalsekretär Javier Solana winken am 27.5.1997 nach der Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte in Paris in die Kameras
Große Freude nach der Unterzeichnung der sogenannten NATO-Russland-Grundakte bei Russlands Staatspräsident Boris Jelzin (links) und NATO-Generalsekretär Javier Solana am 27.5.1997 im Pariser Elysee-Palast (picture-alliance/ dpa/ AFP Frazza)
„Über Jahrzehnte war unser Kontinent geteilt. Heute einigen sich die Staaten des atlantischen Bündnisses und Russland auf eine Zusammenarbeit. Die, und es ist so wahr, wenn ich das ausspreche, in der Geschichte ohne Beispiel ist“, sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nach der Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte am 27. Mai 1997 in Paris.

Es war eine Absichtserklärung, ausgefertigt in drei Sprachen – Englisch, Französisch und Russisch –, unterschrieben auf der einen Seite von den Staats- und Regierungschefs aller NATO-Mitgliedsstaaten und dem NATO-Generalsekretär, auf der anderen von Russlands Präsident Boris Jelzin. Das Papier sollte das Verhältnis zwischen dem Nordatlantischen Bündnis und Russland neu fassen. Der damalige Präsident Russlands, Boris Jelzin, sorgte am Rande der Unterzeichnung für eine Überraschung, wie der Reporter der ARD aus Paris berichtete:

„‘Ich habe soeben beschlossen‘, so Jelzin, ‚alle Atomsprengköpfe abbauen zu lassen, die gegen Ihre Länder gerichtet sind.‘ Großes Erstaunen bei der NATO, aber auch bei der russischen Delegation und ein Jelzin, der sich diebisch freut über den Überraschungscoup.“
Gruppenbild beim NATO-Russland-Gipfel im Mai 1997 in Paris: US-Präsident Bill Clinton (von links), Russlands Präsident Boris Jelzin, Frankreichs Präsident Jaques Chirac, NATO-Generalsekretär Javier Solana und Bundeskanzler Helmut Kohl
Gruppenbild beim NATO-Russland-Gipfel im Mai 1997 in Paris: US-Präsident Bill Clinton (von links), Russlands Präsident Boris Jelzin, Frankreichs Präsident Jaques Chirac, NATO-Generalsekretär Javier Solana und Bundeskanzler Helmut Kohl (picture alliance / AP/ Greg Gibson)

Warschauer-Pakt-Staaten drängten in die NATO

Der Anlass für die Übereinkunft war, dass einige Staaten, die früher dem Warschauer Pakt angehört hatten, in die NATO drängten. In Russland stieß das Vorhaben auf wenig Gegenliebe, erinnert sich Wolfgang Ischinger, damals Leiter der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt und bis vor kurzem Chef der Münchener Sicherheitskonferenz.

„Da sagte Kohl: Halt, Achtung, das muss ich erst mal selber mit Boris Jelzin besprechen. Und Kohl kam dann zurück und sagte: Na ja, also glücklich sind die natürlich nicht über die Idee der NATO-Erweiterung. Aber sie werden das akzeptieren, wenn das einhergeht mit einer parallelen Transformation der Beziehungen zwischen der NATO und Russland. Daraus haben wir dann im Auswärtigen Amt eine sogenannte Zwei-Säulen-Strategie gestrickt. Wir dachten, die eine Säule ist die Einladung an neue Mitglieder. Und die andere Säule ist die Veränderung, Vertiefung, Reform des Verhältnisses NATO-Russland.
Der Diplomat und frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, spricht bei einer Veranstaltung in ein Mikrofon
Wolfgang Ischinger war bis 2022 Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz (IMAGO/ Fotostand)

Geburt des NATO-Russland-Rats

Über Wochen hatten der damalige NATO-Generalsekretär Javier Solana und der damalige russische Außenminister Jewgenij Primakow vertraulich verhandelt. Der Text der Grundakte blieb bis zum letzten Tag geheim.
Im Geiste dieser Zwei-Säulen-Strategie", so Ischinger, "die Kohl mit Jelzin im Prinzip jedenfalls so vereinbart hatte, haben wir, glaube ich, im Mai 1997 genau das hingekriegt, nämlich das Projekt einer grundsätzlich veränderten Beziehung zwischen der NATO und Russland, den später sogenannten NATO-Russland-Rat. Damals hieß der noch ein bisschen anders, aber die Idee war dieselbe: ein gemeinsames Beratungsgremium, gemeinsame Verpflichtungen zur Transparenz.“
NATO-Generalsekretär Javier Solana (rechts) und der russische Außenminister Jewgeni Primakow reichen sich nach Abschluss der Verhandlungsrunde über die NATO-Russland-Grundakte am 14.5.1997 in Moskau die Hände
NATO-Generalsekretär Javier Solana (rechts) und der russische Außenminister Jewgeni Primakow reichen sich nach Abschluss der Verhandlungsrunde über die NATO-Russland-Grundakte am 14.5.1997 in Moskau die Hände (picture-alliance / dpa)
Im Falle von Meinungsverschiedenheiten werden die NATO und Russland sich bemühen, diese auf der Grundlage des Prinzips des guten Willens und des gegenseitigen Respekts im Rahmen politischer Konsultationen beizulegen.“

Den Anwesenden und Beobachtern war bei der Unterzeichnung in Paris klar, hier ist ein Neuanfang, der die Sicherheit aller Menschen in Europa und der Welt verbessert. Davon zeugt auch der Text:

Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Diese Akte bekräftigt die Entschlossenheit der NATO und Russlands, ihrer gemeinsamen Verpflichtung zum Bau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten, geeinten und freien Europas zum Nutzen aller seiner Völker konkreten Ausdruck zu verleihen.

NATO-Russland-Grundakte
Das Dokument gesteht allen Staaten Freiheiten zu, unter anderem eine freie Bündniswahl und die Unverletzlichkeit der Grenzen.

Russlands damalige Sicht auf die Grundakte

Ischinger spricht von gleichberechtigten Partnern. Ein Blick in die damals noch freien russischen Zeitungen bestätigt, dass das 1997 in weiten Teilen der russischen Gesellschaft auch so gesehen wurde. Das Boulevardblatt „Moskowskij Komsomolez“ schrieb, die Grundakte sei kein Zugeständnis an die NATO:
„Dass die Vergrößerung der NATO-Mitgliedsstaaten unausweichlich ist, war immer klar, aber ein Vertrag mit Russland soll zumindest, will man daran glauben, die Folgen dieses Prozesses für unser Land minimieren.“
Die Moskauer Zeitung „Izvestija“ berichtete, Russland sei „zur Koexistenz mit einer erweiterten Allianz bereit, aber zu unseren Bedingungen“. Eine der Schlüsselfiguren im russischen Außenministerium habe die Verhandlungsergebnisse wie folgt kommentiert: „Alles ist in Ordnung. Wir haben alles bekommen, was wir wollten.“
Sergej Rogow, Direktor des Instituts für USA und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften, urteilte im selben Blatt: „Die Übereinkunft schwächt die militärischen Folgen der NATO-Erweiterung erheblich. […] Moskau stellt sicher, dass es mit vollem Recht an Entscheidungen der europäischen Sicherheit beteiligt wird. […] Die Grundakte ist das Maximum des Möglichen unter heutigen Bedingungen.“

Allerdings gab es in Moskau bereits damals andere Stimmen. Der damalige Oppositionspolitiker, General Aleksandr Lebed, ein Afghanistan-Veteran und Hardliner des Kalten Kriegs, sprach von einer „Niederlage Jelzins“. Auch er kam in der damals noch freien russischen Presse zu Wort: Die Übereinkunft rettet vielleicht irgendwie Jelzins Ruf, aber nicht den Russlands […] Russland ist hier die Verliererseite, die eine Kapitulationsakte unterzeichnet. […] Das Dokument widerspricht den strategischen Zielen des Landes. Deshalb muss die Position der national-patriotischen Kräfte im Fall der Unterzeichnung der Grundakte darin bestehen, die Legitimität der Erweiterung der NATO komplett zu verneinen.“
Der russische General Alexander Lebed steigt aus seiner Limousine anlässlich eines Besuchs in Bonn 1997
Alexander Lebed bei einem Besuch in Bonn 1997 (Imago/ Sepp Spiegl)
Heute ist das in Russland Regierungsmeinung. Das sei damals absolut nicht absehbar gewesen, sagt Wolfgang Ischinger: „Es ging nicht um Sieg oder Niederlage. Es ging auch nicht ums Jubilieren, sondern es ging um die Stabilisierung der sicherheitspolitischen Lage in Europa. Ich habe mit Afanasjewskij, aber auch mit anderen damaligen Vizeaußenministern der Russischen Föderation ein durchaus vertrautes und auf Vertrauen basiertes Verhältnis entwickeln können.“

Der Zustand der russischen Armee war erbärmlich

Gut fünf Jahre, bevor die Grundakte unterzeichnet wurde, war die Sowjetunion endgültig am eigenen Großmachtanspruch zugrunde gegangen. Eine Republik nach der anderen hatte die Unabhängigkeit erklärt, am Ende blieb die Zentralmacht in Moskau allein. Das nun unabhängige Russland erbte zwar den Sitz der Sowjetunion im Weltsicherheitsrat und sicherte sich die Atomwaffen, doch im Land herrschte Chaos, die Wirtschaft war zusammengebrochen, und der Zustand der russischen Armee war erbärmlich, die Armee korrupt. Der Westen und die NATO waren bemüht, diesen Zusammenbruch abzufedern.

„Ich bin mit meinen Kollegen aus dem Verteidigungsministerium in dieser Phase auch mehrfach in Moskau gewesen und habe mir die bitteren Klagen von russischen Zwei- oder Drei-Sterne Generälen anhören dürfen oder müssen, dass sie kaum die Nahrungsmittel, geschweige denn die Ausrüstung für ihre Soldaten hatten, in verschimmelten Kasernen wohnten. Also der Zustand der russischen Armee war in dieser Phase Mitte der 90er-Jahre anscheinend, das sagten jedenfalls diese russischen Vertreter selber, desolat. Und denen war es ja nur recht, dass jetzt sich eine Perspektive verstärkter Zusammenarbeit eröffnete, wir redeten sogar über gemeinsame Projekte.“

Gemeinsame Projekte mit Russland

Eines davon, so Ischinger, war ein gemeinsames Transportflugzeug mit amerikanischer Elektronik, einem russischen Rumpf und europäischen Tragflächen.

Daraus ist, sage ich jetzt mal, leider nichts geworden. Aber so weit gingen die Pläne und die russische Seite trug solche Pläne mit Begeisterung mit. Und wir hatten überhaupt keine Sorge damals um die Frage, ob wir jemals wieder militärisch konfrontativ einander gegenüberstehen würde.“

Stattdessen wurde daran gearbeitet, gemeinsam Bedrohungen Dritter entgegenzutreten. So schrieb die Grundakte fest:

Die NATO und Russland gehen von der Voraussetzung aus, dass das gemeinsame Ziel der Stärkung von Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum zum Nutzen aller Staaten eine Antwort auf neue Risiken und Herausforderungen erfordert, wie zum Beispiel aggressiven Nationalismus, die Verbreitung nuklearer, biologischer und chemischer Waffen, Terrorismus, die systematische Verletzung der Menschenrechte und der Rechte von Personen, die nationalen Minderheiten angehören, sowie ungelöste Gebietsstreitigkeiten, die eine Bedrohung für unser aller Frieden, Wohlstand und Stabilität darstellen.

NATO-Russland-Grundakte
„Wenn man das durchliest, dann treten einem fast die Tränen in die Augen,“ sagt Markus Kaim, Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Wo das NATO-Russland-Verhältnis mal gewesen ist. Wo da gemeinsame Felder der Kooperation abgesteckt werden. Und davon ist ja nichts übriggeblieben. Gar nichts. Also heute sollten wir froh sein, wenn wir das bilaterale Verhältnis halbwegs in den Griff bekommen.“

Russlands heutige Sicht auf die Grundakte

Denn heute haben in Russland jene die Oberhand, die der Diktion von Wladimir Putin folgen und die Beziehungen auf den Stand vor 1997, vor die NATO-Russland-Grundakte, zurücksetzen möchten.
Wie auch Veronika Krascheninnikowa. Sie ist Direktorin des Instituts für Außenpolitische Forschungen und Initiativen und Koordinatorin für Außenpolitik in der Regierungspartei „Einiges Russland“: Russland hat sehr lange geglaubt, dass die Grundakte und ähnliche Vereinbarungen mit der NATO funktionieren könnten. Wahrscheinlich hat sogar Wladimir Putin, als er zum ersten Mal Präsident Russlands wurde, teilweise daran geglaubt. Er hat berichtet, dass auch über einen möglichen NATO-Beitritt Russlands gesprochen wurde. Aber damals wurde Russland gesagt, es möge doch bitte zu den allgemeinen Bedingungen beitreten, also: Erfüllen Sie die lange Liste von Bedingungen, die jeder kleine Staat erfüllen muss, um der NATO beizutreten. Das ist aber nicht die Art und Weise, wie man ein so großes Land wie Russland aufnimmt, gegen das die Allianz ja mal gegründet wurde.“

Hier liegt ein Kern des Problems der heutigen russischen Sicht auf die internationale Politik. Die NATO wurde nicht gegen Russland, sondern gegen die Sowjetunion gegründet. Von dem, was Jelzin damals antrieb, dass Russland nämlich ein Staat von vielen war, die aus der Sowjetunion hervorgingen, ist heute nichts mehr zu spüren. Wenn es um die Vergangenheit der Sowjetunion geht, wird in Russland derzeit alles negiert, was auf damaliges gegenseitiges Vertrauen und auf Einvernehmlichkeit hinweist.

Ischinger: "Mit Putin kam eine andere Grundstimmung"

Bald nach der Unterzeichnung der Grundakte tauchten die ersten Probleme auf, erinnert sich Wolfgang Ischinger: „Das war die Situation im Kosovo, die sich ab 1998 abzeichnete. Dann 1999 die Intervention.“
Seit Jahren wurden im Kosovo Menschen im Namen Serbiens unterdrückt und ermordet. Nachdem Verhandlungen im März 1999 scheiterten, beschloss die NATO, dem Morden und der Unterdrückung der albanischen Bevölkerungsmehrheit nicht länger tatenlos zusehen. Unter Führung der USA rückten NATO-Kräfte in die damals noch unter serbischer Kontrolle stehende restjugoslawische Provinz ein und stoppten das systematische Morden.
Wolfgang Ischinger sagt: Das war das letzte Amtsjahr von Boris Jelzin. Wir haben dann mit Russland gemeinsam die Kurve gekriegt. Es gab dann ein russisches Kontingent, das im Kosovo stationiert war. Das habe ich sogar selbst mal besucht, das sozusagen mehr oder weniger angedockt war an das NATO-Kontingent. So weit waren wir ja immerhin schon. Und dann kam der Machtwechsel in Moskau mit Putin und damit eine andere Grundstimmung. Und ich würde genau diesen Zeitpunkt nennen 1999, 2000, 2001. Da war es dann vorbei mit dem Traum. Das hängt auch damit zusammen, dass auf amerikanischer Seite inzwischen George W. Bush im Weißen Haus saß. Und ich darf mal daran erinnern, dass Wladimir Putin einer der Allerersten war, die nach 9/11 dem amerikanischen Präsidenten kondolierten und Zusammenarbeit anboten. Dieses Angebot ist von der amerikanischen Seite überhaupt nicht aufgenommen worden. Und dann kam der mit Russland nicht abgestimmte Einsatz in Afghanistan ab Ende 2001. Dann kam der amerikanische Ausstieg aus dem ABM-Vertrag.“
Der ABM-Vertrag regelte die Abrüstung von Abwehrsystemen, damit keine der beiden Seiten einen Atomkrieg gewinnen kann.
Auch der für Streitfälle geschaffene NATO-Russland-Rat funktionierte nicht so richtig, erinnert sich Wolfgang Ischinger: „Ich bin damals in diesen Jahren verschiedentlich in Brüssel in den Gremien gesessen und musste mit ansehen, dass die russische Seite nun wirklich das Gegenteil dessen machte, was man sich hätte wünschen können. Die schickten als Vertreter Russlands in diesen NATO-Russland-Rat, einen grimmigen früheren General, der so kooperationsunwillig war, dass es eigentlich fast eine Zumutung war, mit diesen Leuten mehrere Stunden in einem Saal zu sitzen. Es fehlte auch am Engagement, würde man sagen, der russischen Seite.“

Verhinderter NATO-Beitritt der Ukraine 2008

Parallel dazu führte Russland erbarmungslos Krieg gegen die eigene Bevölkerung in Tschetschenien, unterstützte fragwürdige Separatisten in Transnistrien, Südossetien und Abchasien. Anfang 2008 suchten Georgien und die Ukraine Schutz vor dem immer aggressiver auftretenden unberechenbaren großen Nachbarn Russlands und drängten in die NATO. Der Beitritt wurde ihnen zwar versprochen, einen Zeitrahmen gab es jedoch nicht. Der damalige US-Präsident George W. Bush drängte. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident sorgten dafür, dass der Beitritt auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.
Damals war die NATO in dieser Frage hin und hergerissen und Deutschland und Frankreich haben da auf die Bremse getreten“, sagt der Politologe Markus Kaim. „Auch das ist ja eine Illustration, dass man auch im Jahr 2008 genau das getan hat, was Russland vermisst hat, angeblich, und eingefordert hat, nämlich russische Interessen in Rechnung zu stellen und den ganzen Bereich NATO-Osterweiterung.“

NATO-Osterweiterung bleibt Begründung für Aggression

Die Folgen spürte Georgien nur wenige Wochen später, als russische Truppen bis kurz vor die Hauptstadt Tiflis vorstießen und klar machten, dass sie die Geschicke Georgiens mitbestimmen werden. 2014 ist Russland das erste Mal in die Ukraine einmarschiert, hat die Krim und Teile des Ostens besetzt. Vor wenigen Monaten hat Russland einen Vernichtungsfeldzug angekündigt und dann am 24. Februar 2022 gestartet.

Es ist vor allem die NATO-Osterweiterung, die aktuell immer wieder als Begründung für Russlands aggressive Außenpolitik und den Vernichtungsfeldzug in der Ukraine herangezogen wird. Markus Kaim sagt: „Man fragt sich, wozu hat sich Russland verpflichtet? Sehr im konkreten operativen Sinn. Und da kann ich eigentlich kaum was erkennen. Die gesamte Osterweiterung ist davon berührt und eine Verpflichtung der NATO. Das heißt ja übersetzt, dass man damals doch sehr klarsichtig gesehen hat, dass es russische Sicherheitsinteressen gibt in territorialer Hinsicht, in politischer Hinsicht, denen man Rechnung getragen hat. Von daher ist das eines der Beispiele, die illustrieren, dass dieser russische Vorwurf, die NATO würde Russland einkreisen, ich kann’s nicht anders sagen, wirklich eine Propagandalüge ist.“

Russland war informiert. Die überraschende Ankündigung Boris Jelzins, die Atomsprengköpfe, die auf NATO-Länder gerichtet waren, abzubauen, war auch eine Reaktion auf die Zusicherung der NATO, keine Atomwaffen in den Ländern zu stationieren, die nach 1990 dem Bündnis beigetreten sind oder noch beitreten. Dazu sagt Krascheninnikowa von der russischen Regierungspartei „Einiges Russland“: Wenn dort tatsächlich keine Atomwaffen stationiert wurden, und soweit wir wissen, wurden sie nicht stationiert, dann haben vor allem die Vereinigten Staaten, die NATO, sich zumindest an eine Vereinbarung der Grundakte gehalten.“

"Es gibt eine Zukunft nach Präsident Putin"

Anders Russland. Das hat in der Exklave Kaliningrad zwischen den NATO-Mitgliedern Polen und Litauen, Atomraketen stationiert. Anfang Mai hat die russische Armee einen Start dieser Raketen simuliert. Derzeit ist die Bedrohung durch Russland so groß, dass selbst Schweden und Finnland ihre traditionelle Neutralität aufgeben und Schutz in der NATO suchen.
Die freie Bündniswahl, dazu hat Russland sich verpflichtet. Und da finde ich, da dürfte man heute Russland auch nicht einfach so vom Haken lassen, unter Verweis auf nationale Interessen und den immer wieder kehrenden russischen Vorwurf, man sei belogen worden“, betont Sicherheitsexperte Markus Kaim vom Berliner Think Tank Stiftung Wissenschaft und Politik.
Ende Juni treffen sich die NATO-Mitglieder in Madrid. Es mehren sich Stimmen, die die NATO-Russland-Grundakte kündigen wollen. Markus Kaim warnt davor: Das wäre eine Steilvorlage für die russische Propaganda im Moment. Da frage ich mich, wem würde man damit nutzen? Es gibt eine Zukunft nach Präsident Putin, wie auch immer die aussehen wird. Und die lautet ein gedeihliches, kooperatives, westlich russisches Verhältnis, was wir zumindest, der Westen, wir die NATO, nach wie vor anstreben. Weil das wäre auch ein nicht unwichtiges Signal, daran festzuhalten, auch in schwierigen Zeiten.“