Jürgen Zurheide: Wir wollen nachfragen, gibt es eine neue Strategie oder sind das die altbekannten Dinge – darüber wollen wir reden mit Richard Kießler, dem außenpolitischen Experten, den ich jetzt am Telefon habe und begrüße. Guten Morgen, Herr Kießler!
Richard Kießler: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Kießler, was wir gerade da hören, wenn ich das mit meinen Worten zusammenfassen würde, könnte man sagen, Zuckerbrot und Peitsche – ist das eine zutreffende Beschreibung und Beobachtung?
"Wir sind von einer Normalisierung noch weit entfernt"
Kießler: Nun, es geht der NATO darum, sich auf eine Doppelstrategie zu besinnen, die sie eigentlich seit 1967 verfolgt. Damals hatte der belgische Außenminister Harmel betont in einem wegweisenden Papier, dass die NATO stets auf militärische Abschreckung, also Stärke, und zugleich auf Dialog und Entspannung setzen müsse. Mit dieser Doppelstrategie ist damals die Entspannungspolitik in den 70er-Jahren eingeleitet worden, und ein wenig möchte man sich auf deutschen Druck hin darauf besinnen. Die Sache ist nur etwas schwierig und ist deshalb noch kein Signal für die Normalisierung, weil beiden Seiten im Grunde das Vertrauen fehlt, miteinander umzugehen, und dieses tiefe Misstrauen der beiden Seiten hat auch in den letzten Jahren immer wieder dazu geführt, dass die Beziehungen zwischen Moskau und Washington, zwischen Ost und West, sehr schlecht sind, und insofern sind wir von einer Normalisierung oder gar einer Entspannung noch weit entfernt.
Zurheide: Wenn wir jetzt dieses Interview von Stoltenberg noch mal werten, sagen wir ja, es gibt diese Gesprächskanäle mit Gerassimov in diesem Fall. Es ist angesprochen worden, aber Sie sagen, das ist noch keine wirkliche Trendwende.
"Der Westen braucht Russland und Russland braucht den Westen"
Kießler: Nein, das ist es noch nicht. Es hat eben diese tiefe Zäsur durch die Besetzung der Krim gegeben 2014. Da sind zunächst mal alle Kontakte abgebrochen worden, die man noch über den NATO-Russland-Rat gehabt hat. Das ist erst 2016 wieder aufgenommen worden. Seitdem hat dieses Gremium fünfmal getagt, aber nur auf Botschafterebene in Brüssel, und die Begegnung des Vorsitzenden des Militärausschusses der NATO mit dem Generalstabschef Gerassimov war schon eine höhere Ebene und deshalb wichtiger. Kurz und gut: es geht eigentlich darum, die Kommunikationsstrukturen zu verbessern. Was verbirgt sich dahinter? Nun, zum Beispiel ein besserer Austausch über die Absichten, die man mit bestimmten Manövern verfolgt. Es hat also beispielsweise im September ein sehr großes russisch, weißrussisches Manöver gegeben – das nannte sich Zapad, also auf Deutsch heißt das Westen – und wurde vom Westen empfunden als ein offensives Manöver an der empfindlichsten Stelle der westlichen Allianz, also auf dem Baltikum und löste also ein großes Erschrecken aus, bis man jetzt aktuell in den politischen Analysen feststellt, dass dieses Manöver keineswegs so offensiv war wie es aussah, sondern eher defensiv, aber man muss wieder Manöverbeobachter austauschen wie früher. Man muss wieder Vertrauen aufbauen, denn der Westen braucht Russland und Russland braucht den Westen. Denken Sie nur an die Koreakrise, an Nordkorea, denken Sie an die Entwicklung im Nahen Osten, und ohne Russland ist also die Krise in Syrien zum Beispiel überhaupt nicht zu beenden.
Zurheide: Wie ist dann zu werten, dass zum Beispiel ein US-amerikanischer General im Baltikum jetzt vor einigen Tagen seine Soldaten auf einen neuen Krieg vorbereitet hat. Nachher hat man das wieder ein bisschen versucht zurückzuholen. Wenn ich das richtig von außen beobachte, sind das genau solche Töne, die dann entstehen, weil man möglicherweise zu wenig Informationen hat und zu wenig miteinander redet, oder ist das so der schlichte Säbelrasseln, was wir durch Herrn Trump gelernt haben als Normalfall der amerikanischen Politik?
"Trump würde gern als Dealmaker auftreten, kann das aber nicht"
Kießler: Das ist natürlich ein Säbelrasseln, zumal eben das Verhältnis zwischen Washington und Moskau wegen der vermeintlichen Einmischung Russlands in den amerikanischen Wahlkampf nach wie vor sehr schlecht ist, und man kann von einem Paradox sprechen. Donald Trump würde gern als Dealmaker mit Putin, den er ja irgendwie heimlich bewundert, auftreten, kann das aber nicht, weil der Kongress und bis hin zur Demokratischen Partei ihn an zu engen Kontakten mit Russland hindert, und dann gibt es noch die atomare Aufrüstung, nicht wahr. Die Russen verdächtigen die Amerikaner, in ihrem Raketenabwehrsystem, was in Rumänien aufgebaut wird, Abschussrampen bereitzustellen, von denen man auch Marschflugkörper abschießen kann, und auf der anderen Seite verdächtigen die amerikanischen Militärs die Russen in der Nähe von Kaliningrad und auf der Krim mobile Abschussrampen aufzustellen, um Raketen gen Westen zu richten. Wenn diese Informationen – und die müssen dringend verifiziert werden – zuträfen, dann wäre das ein Bruch des INF-Vertrages über das Verbot von Mittelstreckenwaffen zwischen 1.500 und 2.500 Kilometern, der 1987 abgeschlossen wurde und ein echtes Abrüstungsabkommen, das einzige, was wir eigentlich haben, gewesen ist.
Zurheide: Jetzt haben Sie gerade schon mal zwischen den Zeilen angesprochen, dass da auch möglicherweise die Bundesregierung eine Rolle spielt. Wir alle wissen – und Sie haben es beschrieben –, dass das Verhältnis der Amerikaner und Russland aus den bekannten Gründen schwierig ist. Welche Rolle haben denn die Europäer respektive die Deutschen, wenn es da zu neuen Verständigungen kommen soll, ich würde auch hinzufügen: kommen muss?
Kießler: Völlig richtig. Es muss unbedingt zu einer neuen Russlandpolitik des Westens kommen trotz der bestehenden Schwierigkeiten. In den letzten Wochen haben wir gehört, dass man in Washington da rangehen will, die Ukraine mit Waffen auszurüsten. Das ist natürlich eine möglicherweise zusätzliche Eskalation in diesem schwelenden Konflikt, und Deutschland hat bisher immer gesagt, man möge diesen Konflikt eben nicht weiter hochrüsten durch die Waffenlieferung.
Zurheide: Ich glaube, Waffen gibt es da genug.
"Es muss auch immer um Dialog gehen"
Kießler: Waffen gibt es bereits genug, und hier ist es natürlich auch so – muss man als Hintergrund sehen –, dass durch die amerikanische Politik, durch die Zweifel, die Donald Trump gesät hat in die Beistandsverpflichtung der USA nach Artikel 5 das NATO-Vertrages, dass dadurch das Misstrauen natürlich auch der Europäer gewachsen ist und sie sich darangemacht haben, ihre eigene Verteidigung zu stärken. Die Amerikaner haben Militärausgaben in Höhe von 600 Milliarden Dollar, während die europäischen NATO-Staaten gerade mal 241 Milliarden Dollar 2016 aufgebracht haben. Aber es gibt einen ersten Schritt, dass die Europäer selbstbewusster auftreten. Sie haben im November die ständige strukturelle Zusammenarbeit beschlossen. Das ist ein wichtiger sicherheitspolitischer Pfeiler. Da geht es vor allen Dingen um eine engere Rüstungskooperation, es geht um Offiziersausbildung und auf das, was man früher immer Pairing nannte, und dass man also nicht x-verschiedene Panzer, x-verschiedene Gewehre und Waffensysteme nebeneinanderher produziert, um die nationale Rüstungsindustrie aufzupäppeln, sondern dass man eben sich auf gemeinsame Rüstungsprojekte verstärkt und gleichzeitig auch natürlich die Budgets erhöhen muss, aber ich komme wieder darauf: Es muss neben dieser militärischen Aufrüstung auch immer um Dialog gehen, und das ist ein Begehren, was besonders von der deutschen Seite …
Zurheide: Jetzt laufen wir gegen die Nachrichten, Herr Kießler. Ich bedanke mich an diesem Punkt ganz herzlich für die Informationen, die Sie uns gegeben haben, Danke schön, auf Wiederhören!
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