Das Ende des größten, längsten und eines der wichtigsten Einsätze der NATO wird das Bündnis noch eine ganze Weile beschäftigen. Der Reflektionsprozess über 20 Jahre in Afghanistan war Thema bei der Konferenz der Verteidigungsminister, die am 21.10.2021 in Brüssel begonnen hat.
Der Afghanistan-Einsatz ist beendet, doch die Aufarbeitung über den Einsatz und vor allem das Ende um den chaotischen Abzug hat gerade erst begonnen. Bisher hatte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Erfolge der Mission in der Vordergrund gestellt: "Unser Hauptziel war die Bekämpfung des Terrorismus. Und wir haben 20 Jahre lang keine Angriffe aus Afghanistan auf unsere Länder erlebt." Nun müsse man gründlich und offen Lehren ziehen – vor allem aus dem Abzug.
"Wir werden uns sicherlich auch noch mal um die Fragen der Evakuierung selbst kümmern, von der man ja sagen muss, dass sie am Ende vor allen Dingen von den Nationen selbst getragen worden ist und weniger durch die NATO-Strukturen",
sagte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) im Dlf
. "Wir werden auch darüber reden, warum wir vom schnellen Fall von Kabul so überrascht waren." Sie sei gespannt, was dazu der amerikanische Kollege beitrage.
Bis Ende des Jahres soll die Afghanistan-Bilanz fertig sein.
Noch im Frühjahr beim NATO-Ministertreffen und dann im Juni beim Gipfeltreffen hatte man keinen Grund gesehen, offen über Vorbereitungen für einen geordneten Abzug aus Afghanistan zu sprechen. Dann ging alles sehr schnell: Nach dem 1. Mai, als der Abzug offiziell begann, nahmen die Taliban in zahlreichen Offensiven mehr und mehr Bezirke im Land ein.
Es folgte die Quasi-Kapitulation der afghanischen Armee, der anscheinend überraschend schnelle Fall Kabuls, das Chaos am Flughafen von Kabul und die misslungene Evakuierung vieler Menschen. Die USA hatten nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August mit rund 6.000 US-Soldaten noch Evakuierungsflüge ermöglicht. Wegen ihres Abzugs mussten allerdings die Europäer ihre Rettungsflüge früher als gewünscht einstellen.
Die Verteidigungsminister werden nun also die Frage diskutieren, ob man das Drama am Flughafen von Kabul nicht hätte vorhersehen müssen. Dabei geht es auch um die Rolle der USA. Obwohl die USA unter der Biden-Regierung häufig den Austausch mit den Alliierten gesucht haben, trafen sie am Ende ihre Entscheidung zum Abzug alleine. Mehrere europäische Bündnispartner haben die Weigerung der USA, den gemeinsamen Abzug aus Afghanistan zu verschieben, offen kritisiert.
Das drängendste Problem ist die weiter notwendige Evakuierung von NATO-Ortskräften. "Alle NATO-Partner – und das gilt auch für die Mitarbeiter der NATO – stehen vor den gleichen Herausforderungen, dass mit der Evakuierungsmission bei weitem nicht alle Ortskräfte aus Afghanistan evakuiert worden sind", sagte Kramp-Karrenbauer im Dlf. "Das gilt im Übrigen in Deutschland vor allen Dingen für die Ortskräfte, die in der internationalen Entwicklungshilfe tätig waren. Zurzeit laufen die Bemühungen auch auf diplomatischer Ebene in Gesprächen und Verhandlungen mit den Taliban, diese Menschen aus dem Land zu bekommen."
Man komme in kleinen Schritten voran, es handele sich um mühsame Verhandlungen. Zudem hänge es davon ab, ob Fluglinien bedient würden und es gebe Sicherheitsprobleme der Flugsicherheit am Flughafen Kabul. "Aber ich habe gesagt, unsere Aufgabe ist erst dann beendet, wenn wir insbesondere unsere Ortskräfte der Bundeswehr – das gilt für das BMVG (Bundesministerium für Verteidigung) – sicher aus Afghanistan raus haben."
Verteidigungsministerin
Kramp-Karrenbauer wollte am morgen vor dem Beginn des Treffens (21.10.2021) im Deutschlandfunk nicht ausschließen
, dass es ähnlich langwierige Einsätze im Ausland mit dem ambitionierten Ziel eines demokratischen Staatsaufbaus wieder geben wird. Nach ersten Sitzungen sagte sie am gleichen Tag in Brüssel, dass es für solche Einsätze "möglicherweise noch einen längeren Atem als 20 Jahre" brauche. Man habe auch gelernt, dass rein militärische Ziele nicht ausreichend seien. Stattdessen brauche es konkrete und realistische Ziele für Zwischenschritte.
An Afghanistan war auch deutlich zu sehen, dass niemand – kein NATO-Land – willens oder in der Lage war, die Rolle der USA in Afghanistan zu übernehmen. Die Entwicklungen des Sommers, die Machtübernahme durch die Taliban, das Chaos am Flughafen Kabul, der ohne die USA nicht zu sichern war, haben dies in einer Art Realitätsschock allen in der NATO deutlich vor Augen geführt. Es gebe weiterhin eine hohe Notwendigkeit, dass Europa mit den USA bei globalen Herausforderungen zusammenarbeitet, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 21.10.2021.
"Wir haben, ausgehend von der Situation der Evakuierungsmission in Kabul, festgestellt, dass die Europäer, auch die europäischen Mitglieder in der NATO ohne die Unterstützung der Amerikaner nicht so handlungsfähig sind, wie wir uns das alle selbst wünschen", räumte Kramp-Karrenbauer im Deutschlandfunk ein und äußerte sich zur Initiative Deutschlands und vier weiterer Staaten, eine schnelle militärische Eingreiftruppe der Europäischen Union zu bilden. Eine solche Eingreiftruppe sei kein Ersatz für die NATO, sondern eine Ergänzung, sagte Kramp-Karrenbauer.
Dabei sollen nach dpa-Informationen die bereits existierenden "EU-Battlegroups" zu kurzfristig einsetzbaren Krisenreaktionskräften weiterentwickelt werden. Konkret schlagen die fünf Länder vor, über den noch nie genutzten Artikel 44 des EU-Vertrags Einsätze von "Koalitionen von Willigen" zu ermöglichen.
Stoltenberg gab am 21.10.2021 auch bekannt, dass die NATO-Verteidigungsminister die Abwehrfähigkeit der Allianz stärken wollen. Man habe neue Zielvorgaben zur Bündnisverteidigung befürwortet, "um sicherzustellen, dass wir weiterhin die richtigen Kräfte zur richtigen Zeit am richtigen Ort haben", sagte Stoltenberg bei einer Pressekonferenz am Donnerstagabend in Brüssel. Seinen Angaben zufolge vereinbarten die Minister auch neue nationale Ziele zu militärischen Fähigkeiten. Zudem billigten sie einen milliardenschweren Innovationsfonds, um junge Unternehmen bei der Entwicklung moderner Technologien zu unterstützen.
Quellen: Bettina Klein, Helga Schmidt, Silke Diettrich, dpa, AFP og, pto