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Naturschutz
Verwilderung bedroht Artenvielfalt

Alvar-Gebiete sind karge Landschaften, mit wenigen Bäumen und niedrigem Graswuchs. Typisch sind dünne Erdschichten auf felsigem Kalkuntergrund. Doch trotz ihrer Kargheit verfügen diese Gebiete über eine reiche Artenvielfalt. Doch die ist nun bedroht - und das ausgerechnet deshalb, weil der Mensch dort nicht mehr in die die Natur eingreift.

Von Michael Stang |
    Im Westen Estlands liegt Laelatu. Auf der dortigen Forschungsstation arbeitet Aveliina Helm von der Universität in Tartu. Sie beschäftigt sich mit einer besonderen Landschaftsform, die es früher vor allem in Skandinavien und im Baltikum häufig gab.
    "Alvar-Gebiete sind halbnatürliche Graslandschaften, dort wachsen nur wenige Bäume. Für die Landwirtschaft sind sie nicht geeignet. Typisch sind dünne Erdschichten auf felsigem Kalkuntergrund. Alvar-Gebiete sind der Lebensraum vieler einzigartiger Tier- und Pflanzenarten."
    Das einmalige Ökosystem ist ein Werk des Menschen: Jahrhundertelang haben sie die Vegetation klein gehalten, meist auf der Suche nach Brennholz; zudem grasten in diesen Gegenden viele Tiere. Doch nun sind die Menschen auch am Rückgang der Alvar-Gebiete schuld. Die Lebensweise vieler Esten hat sich verändert. In der Folge sind die Landschaften wieder "verwildert".
    "Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die aktuelle Größe der Alvar-Gebiete nicht mehr ausreicht, um den einzigartigen Artenreichtum zu bewahren. Es sind nur noch wenige, kleine Gebiete übrig, die auch nicht zusammenhängen. Das ist zu wenig, um vor allem auch den bedrohten Arten Lebensräume zu geben."
    Karg aber artenreich
    Die Alvar-Gebiete schrumpfen. Dabei sind sie Lebensgrundlage vieler Tier- und Pflanzenarten, obwohl der Boden nur wenige Zentimeter tief ist. Um den heute seltenen Organismen wieder einen Lebensraum zu geben, haben Aveliina Helm und ihre Kollegen das Renaturierungsprojekt "Life to Alvars" gegründet. Ziel ist, mindestens elf einst heimische Arten wieder dauerhaft anzusiedeln, darunter Moose, Vögel und Schmetterlinge. Sie bilden den ökologischen Grundstock der Alvar-Gebiete, deren Größe in Estland bis 2019 verdoppelt werden soll. Dafür müssen 2.500 Hektar Fläche bearbeitet werden.
    "Wir nutzen sehr große Maschinen, denn die Hauptarbeit bei dieser Form der Restaurierung ist das Entfernen von großen Holzgewächsen, hauptsächlich Wacholder und Kiefer. Und weil wir eben so unglaublich viele Hektar beackern müssen, kann man das eben nicht per Hand machen, sondern wir brauchen einfach große Maschinen."
    Schafe und Kälber als Umweltschützer
    Der Startschuss fiel im Herbst 2014. Sobald die groben Arbeiten abgeschlossen sind, geht es ans Grasen – wie in der traditionellen Wirtschaftsweise üblich.
    "Wir wollen gleich von Beginn an Schafe und Kälber dort grasen lassen. Wir hoffen, dass sie die Umwandlung der Landschaft beschleunigen und wir bald wieder viele neue Pflanzen- und Tierarten dort sehen. Das Wort "bald" bedeutet, dass wir hier von Jahren und Jahrzehnten sprechen. Wir hoffen aber, dass wir schon in fünf Jahren erste nachhaltige Ergebnisse unserer Arbeit sehen."