Die Gründerväter der Europäischen Union hätten Visionen gehabt und über Europa hinaus gedacht, sagte Kermani im Deutschlandfunk. Auch heute brauche es einen wirklichen Aufbruch. Derzeit funktioniere EU auf vielen Gebieten nicht. Als Beispiel nannte er die Flüchtlings-, die Außen- und Sicherheitspolitik. Es gebe zwar eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Karmani prangerte auch nationalstaatliche Egoismen an. Europa werde funktionsuntüchtig gemacht, indem sich Mitgliedsländer gegenseitig blockierten.
Die EU-Staats- und Regierungschefs feiern heute in Rom die Unterzeichnung der Römischen Verträge. Mit ihnen wurde vor 60 Jahren der Grundstein für die Europäische Union gelegt.
Das Interview in voller Länge:
Stephanie Rohde: Heute will Europa sich feiern. Es gibt nur einen Haken: Kaum jemand scheint in Feierlaune zu sein. Europa befindet sich in einer schweren Krise, auch wegen des Brexit und des weiterhin starken Rechtspopulismus in vielen Ländern. Trotzdem wollen die Staats- und Regierungschefs ein Signal für einen neuen Aufbruch senden aus Rom, also der Stadt, wo vor genau 60 Jahren die Römischen Verträge unterzeichnet wurden. Und die Vision in der Gipfelerklärung, die klingt so:
"In den kommenden zehn Jahren wollen wir eine Union, die sicher geschützt, prosperierend, wettbewerbsfähig und nachhaltig und sozial verantwortlich ist."
Reicht das, und braucht Europa überhaupt eine Vision? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem Schriftsteller Navid Kermani. Er ist Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels und für Reportagereisen öfter an den Rändern Europas unterwegs. Guten Morgen!
Navid Kermani: Guten Morgen!
Rohde: Prosperierend wettbewerbsfähig und sicher geschützt. Ist das die Vision, die Sie für Europa haben?
Kermani: Also erstens mal, bloße Worte helfen ja nicht. Die Frage ist ja, wie will man das machen. Und da sehe ich im Augenblick wenig Ansätze, denn Europa blockiert sich ja selbst dadurch, dass es institutionell so ausgestattet ist, dass diejenigen, die vorangehen, von denjenigen abgehalten werden, die nicht vorangehen wollen. Also es gibt hier eine Blockade, und solange die nicht aufgelöst ist, bleiben diese Worte nur Worte und werden nicht Wirklichkeit.
"Wirklich auch die Weichen so stellt, dass Europa wieder funktionieren kann"
Rohde: Und was glauben Sie, wie könnte man diese Blockade lösen?
Kermani: Indem man einen wirklichen Aufbruch macht, dass die Länder, die wirklich wollen, ein Europa schaffen, eine Zusammenarbeit eingehen, die wirklich funktioniert. Denn wir sehen doch, dass Europa auf vielen Gebieten nicht funktioniert, weder in der Flüchtlingspolitik, noch in der Außenpolitik noch in der Sicherheitspolitik. In der Wirtschaftspolitik schon gar nicht, denn wir haben eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Auch keine Art von sagen wir Länderfinanzausgleich, was ja auch notwendig ist, um die großen sozialen Differenzen innerhalb Europas abzubauen.
Also all das haben wir nicht. Und hier müsste man den Mut haben, dass man wirklich auch die Weichen so stellt, dass Europa wieder funktionieren kann, und dann glaube ich, dass diejenigen Länder, diejenigen Gesellschaften vor allem, es geht ja nicht um die Regierungen, die sehen, dass Europa funktionieren kann, das wieder so attraktiv finden, dass sie sich anschließen werden.
"Europa muss sich stärker als bisher demokratisch legitimieren"
Rohde: Sie haben mal angemerkt, wenn das Volk mitbestimmt hätte, dann wären die Römischen Verträge gar nicht unterzeichnet worden. Und dann haben Sie darauf hingewiesen, dass es Politikerinnen und Politiker braucht, die sich über den Zeitgeist hinwegsetzen, also die diesen Mut haben, von dem Sie da gerade gesprochen haben. Wer ist das heute, wer hat diesen Mut?
Kermani: Ich möchte da nicht über einzelne Politiker sprechen. Ich möchte eher über eine Generation sprechen, der ich ja auch angehöre, die den Schrecken des Krieges nicht mehr erlebt hat, also diesen existenziellen Daseinsgrund Europas, diese Notwendigkeit Europas nicht mehr geografisch erfahren hat und entsprechend zu Europa ein instrumentelles Verhältnis hat. Man sieht den Nutzen, und solange der da ist, ist man auch für Europa, aber solange etwa – und das zeigt sich ja in England teilweise in den Midlands oder in Südeuropa bei Jugendarbeitslosigkeiten von bis zu 50 Prozent – solange man diesen Nutzen nicht mehr sieht, wendet man sich von Europa ab.
Das ist keine Kritik an einzelnen Politikern. Aber weil Sie auf dieses Zitat hingewiesen haben von mir – natürlich braucht Europa wie jede Art von Institution eine demokratische Legitimation. Nur, was man von Politikern erwarten kann, ist, dass sie nicht nach Umfragen schielen, vielleicht sogar auch Wahlverluste in Kauf nehmen. Aber natürlich muss diese Legitimation eingeholte werden, so wie Europa seine Legitimation bei den Bürgern durch seinen Erfolg, durch seinen durchschlagenden Erfolg eingeholt hat, so wie der Kniefall von Willy Brandt, der war damals auch nicht von der Mehrheit gutgeheißen worden, aber man hat gesehen, was er bewirkt hat, welche versöhnende Kraft davon ausgegangen ist. Und er hat die Menschen dann überzeugt. Und genauso ist es mit Europa.
Wenn wir warten, bis auch der Letzte davon überzeugt ist, dann wird Europa niemals überzeugen. Aber natürlich muss Europa sich stärker als bisher demokratisch legitimieren. Es darf nicht mehr Angst haben vor Volksabstimmungen. Diese Volksabstimmungen müssen gewonnen werden können.
Rohde: Trotzdem gibt es ja das Problem, dass die Mehrheit der Bürger der Europa gegen eine weitere Integration ist, also politisch wie ökonomisch –
Kermani: Wer sagt das denn? Ich glaube, die Mehrheit der Bürger, jedenfalls in vielen europäischen Staaten, wäre für ein funktionierendes Europa, das nicht über alles bestimmt, aber das, was es bestimmen soll, auch bestimmen kann. Ich glaube, ein solches Europa hätte durchaus Möglichkeiten, Mehrheiten zu gewinnen, also jedenfalls mal in den Gründerstaaten der Europäischen Union, also in den Staaten, die die Römischen Verträge unterschrieben haben.
"Wenn man Europa nur reduziert auf den pragmatischen Nutzen, dann steht man nackt da"
Rohde: Ich wollte trotzdem noch mal drauf eingehen: Reicht es nicht aus, dass man auf den wirtschaftlichen Erfolg setzt? Weil wir sehen ja gerade, dass Europa relativ überraschend jetzt eine wirtschaftliche Renaissance erfährt. Die Wirtschaft wächst, die Staatsdefizite gehen teilweise zurück, die Arbeitslosenquote sinkt. Wäre es da nicht pragmatischer, zu sagen, wir erzählen den Leuten vom wirtschaftlichen Erfolg dieser Union?
Kermani: Nein. Das Geheimnis des europäischen Erfolgs war immer beides. Dass man konkret wirtschaftlich dachte, etwa mit Blick auf die Montanunion, also die Kohle- und Stahlindustrie zu verzahnen, aber zugleich immer auch das große Ziel vor Augen hatte. Wenn Sie die Gründerväter der Europäischen Union, wenn Sie deren Biografien, deren Schriften, deren Konferenzprotokolle studieren, werden Sie sehen, das waren Leute, die genau das hatten, was heute so verpönt ist, nämlich Visionen. Die haben an die – Jean Monnet hat an Afrika gedacht, er hat über Europa hinausgedacht, er hat an die Vision einer gerechteren Welt gedacht, aber konkret an die nächsten Tage auch gedacht. Und dieses beides gehört zusammen.
Natürlich muss man pragmatisch auch drauf hinweisen, was es bedeutet praktisch, wenn Europa in Nationalstaaten zurückfällt, welche wirtschaftliche Risiken damit verbunden wären, wie man sich behaupten wollte in dieser Welt. Aber zugleich, um, ohne diesen humanen Kern, der Menschen immer noch begeistert, die Gleichheit der Menschen, dass alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft Teilhabe haben am Gemeinwesen, also diesen Kern, den es ja schon im 19. Jahrhundert gab, dieser Kern ist immer noch etwas, was Menschen begeistern kann, und ich glaube, dass beides zusammengehört und wir nur in den letzten Jahren – also wenn man Europa nur reduziert auf den pragmatischen Nutzen, dann steht man nackt da, wenn die Rechnung nicht mehr stimmt. Uns geht es besser, das stimmt, den Deutschen, aufgrund Europas. Aber es gibt eben auch viele Gesellschaften, die diesen Nutzen in den letzten Jahren nicht mehr erfahren haben und sich entsprechend von Europa abwenden.
Rohde: Sie haben vorhin Jean Monnet erwähnt, den Wegbereiter der europäischen Einigungsbestrebungen, und der hat am Anfang argumentiert: "Unsere Länder sind zu klein geworden für die gegenwärtige Welt." Und ich frage mich, ist es nicht jetzt gerade andersherum, als dass die Länder Europas gerade immer größer werden und die EU immer kleiner?
Kermani: Er hat ja damals darauf hingewiesen, dass man allein diese Probleme nicht bewältigen kann, und das ist ja aktueller denn je. Die Länder blasen sich nur auf. Sie meinen, dass sie alleine einen Syrien-Konflikt bewältigen können oder einen Ukraine-Konflikt. Sie meinen, dass sie alleine die Flüchtlingskrise bewältigen können oder global sich gegen andere Mächte behaupten können. Faktisch ist es ja nicht so. Das heißt, Europa wird funktionsuntüchtig gemacht, indem sich Nationalstaaten gegenseitig blockieren, und dann beklagt man sich über Europa, dass es nicht funktioniert.
Und wir müssen aus dieser Blockade, aus dieser selbst verursachten Blockade herauskommen, damit Europa auch wieder funktionieren kann. Es geht ja nicht darum, dass man die Staaten abschafft. Und schon gar nicht geht es darum, dass man die Kulturen abschafft. Europa lebt ja von seiner Verschiedenheit, aber es gibt eben Dinge, die wir nicht einzeln bewältigen können und wo wir zusammenarbeiten müssen. Und es gibt auch Werte, die wir gemeinsam haben. Es ist ja nicht so, dass diese großen Werte, über die wir reden, dass die nationaler Art sein müssen. Keiner dieser Werte, Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung und so weiter, und so fort ist national. Sie sind universal. Und dafür steht das europäische Projekt. Sie sind auch nicht national herzuholen.
"Was mich wirklich aufbringt, ist, dass wir so eine Art von linkem Nationalismus haben"
Rohde: Na ja, gut, aber es gibt ja Gruppierungen in vielen Ländern, die eben auf dieses Nationale abgehen und diese Blockade dann auch forcieren. Und da reden wir jetzt ja über den aufkeimenden Populismus. Es gibt jetzt Linksintellektuelle wie die Belgierin Chantal Mouffe beispielsweise, die findet Populismus, vereinfacht gesagt, prinzipiell positiv, weil es eine Wiederaneignung des Politischen sei. Und sie fordert, dass eben auch auf der linken Seite einen linken Populismus gibt als Antwort auf den rechten. Halten Sie das für sinnvoll?
Kermani: Das Wort Populismus muss man also definieren, damit es auch passt, dann ist es wieder okay. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Menschen, die vorher nicht gewählt haben, auch wieder zu den Wahlurnen kommen. Ich finde es auch prinzipiell nicht vollkommen falsch, dass Sie sagen, wenn in Deutschland eine Partei gibt rechts der CDU – also da gibt es natürlich Wählermilieus, die auch sich demokratisch abbilden müssen.
Die Frage ist doch nur, was meinen wir? Und was mich wirklich aufbringt, ist, dass wir so eine Art von linkem Nationalismus haben. Die Linke war ja eigentlich immer international, immer proeuropäisch. Und plötzlich sehen wir, dass nicht nur die Rechten nationalistisch werden, sondern wir auch auf der Linken die Rückkehr des Nationalismus beobachten, in Südeuropa vor allem.
Denken Sie an die Linkenbewegung dort, in Spanien etwa, wo Podemos mit dem Slogan auch auftritt "Spanien zuerst". In Griechenland das Bündnis zwischen Syriza und den Rechtspopulisten, wenn man sie überhaupt noch so nennen mag. Das sind ja keine Zufälle, wie sich links und rechts plötzlich da vereinen oder gemeinsame Wege gehen. Und ich wünsche mir eigentlich, dass man von der linken Seite Europa zwar kritisiert, aber nicht, um es abzuschaffen, nicht, um zurückzukehren in einen Nationalismus, sondern für ein besseres, stärkeres Europa zu streiten, ein Europa, das solidarisch und vor allem auch demokratisch legitimiert ist.
"Im Augenblick geht es darum, alle Kraft daranzusetzen, damit die EU überhaupt überlebt"
Rohde: Ich würde mit Ihnen ganz kurz noch eine Zeitreise unternehmen wollen. Das haben Sie vor einiger Zeit auch mal gemacht in einem kurzen Aufsatz. Da sind Sie ins Jahr 2032 gegangen, also zum 75. Jubiläum der Römischen Verträge, und Sie haben von einer EU geschrieben, in der eine schwarze Außenministerin die EU lenkt.
Wenn man das jetzt noch mal machen würde, unter dem Eindruck auch des Brexit, wie sieht Ihre Vision für 2032 aus? Gibt es Europa dann überhaupt noch in der Form?
Kermani: Die Frage ist erst mal, ob wir überhaupt 2018 erreichen. Also im Augenblick –
Rohde: Als EU meinen Sie?
Kermani: Gut, als EU wird es sie geben, aber man muss sich ja nur ausmalen, dass in Frankreich es eine Wahlsiegerin Marine Le Pen gäbe oder gibt. Das ist nicht wahrscheinlich, aber es ist auch überhaupt nicht ausgeschlossen. Dann ist die EU in ihrer bestehenden Form zu Ende. Das muss man sich klar machen. Da wird kein Weg dran vorbei führen. Ob es dann noch etwas gibt, was EU heißt, auf ein paar Jahre, das mag sein. Aber sie wird faktisch aufhören zu existieren.
Also im Augenblick geht es darum, alle Kraft daranzusetzen, damit die EU überhaupt überlebt, damit dann vielleicht eine neue Generation oder neue Politiker – da deutet sich ja auch schon einiges an etwa in Frankreich –, neue Politiker auch wieder die Kraft haben, die EU für die nächste Generation reif zu machen.
Rohde: Das heißt, Sie wagen aber gar nicht, 2032 zu denken für Europa?
Kermani: Also im Augenblick habe ich da so viele Sorgen und Befürchtungen, dass ich wirklich schon froh wäre, wenn wir diese Welle des Populismus und des Nationalismus überstehen würden. Aber natürlich werden wir sie nicht überstehen durch Ängstlichkeit, indem wir einfach nur zurückgehen und zurückweichen, sondern wir werden sie nur überstehen, indem wir auch selbst mit Mut – sage ich "wir", ich weiß ja gar nicht, ob alle Hörer meiner Meinung sind, aber jedenfalls diejenigen, die für Europa sind, mit Mut und auch mit Entschlossenheit für ein stärkeres Europa kämpfen und aufzeigen, wie wertvoll dieses Projekt ist, das wir von unseren Eltern geerbt haben.
Rohde: Sagt der Schriftsteller Navid Kermani. Vielen Dank für das Gespräch!
Kermani: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.