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Nawalny-Vergiftung
Trittin: Perverse Revitalisierung sowjetischer Herrschaftsmethoden

Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny zeigt nach Ansicht des Grünen-Politikers Jürgen Trittin einmal mehr, dass Russlands Präsident Wladimir Putin auf Herrschaftsmethoden setzt, die dieser als KGB-Mann in der Sowjetunion gelernt hat. Dies sei aber auch ein Eingeständnis von Schwäche, sagte Trittin im Dlf.

Jürgen Trittin im Gespräch mit Christoph Heinemann |
Jürgen Trittin (Grüne) spricht im Bundestag, das Bild rechts wird unscharf
Jürgen Trittin, Budnestagsabgeordneter Bündnis 90/Die Grünen (dpa/Ralf Hirschberger)
Der russische Regierungskritiker Alexej Nawalny wird weiter auf der Intensivstation der Berliner Universitätsklinik Charité behandelt. Sein Gesundheitszustand sei weiterhin kritisch, teilten die Ärzte mit. Nach Untersuchungen eines Spezial-Labors der Bundeswehr ist Nawalny mit dem chemischen Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden. Ein Nervengift der Nowitschok-Gruppe wurde auch bei der Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelspions Sergej Skripal und seiner Tochter Julia im britischen Salisbury 2018 verwendet. Das deutet auf eine Beteiligung des russischen Staates hin. Die Bundesregierung sieht das als "zweifelsfrei" erwiesen an und forderte die russische Regierung eindringlich zur Aufklärung auf. Mit den Verbündeten will sie über Konsequenzen beraten.
Alexej Nawalny im Porträt
Das System Putin ist ein todbringendes System
Alexej Nawalny wurde nach Erkenntnissen der Charité mit einem chemischen Nervenkampfstoff vergiftet. Auch diesmal wird der Kreml leugnen, glaubt Thielko Grieß. Doch die Verantwortung hat Moskau.
Auch für den Grünen Außenpolitiker Jürgen Trittin ist es "offenkundig, dass für diesen Anschlag die russische Regierung und der russische Präsident Wladimir Putin verantwortlich ist". Dies erfordere nun eine klare, europäische Antwort, die nicht davor zurückschrecken dürfe, die Konsequenzen aus dem zu ziehen, was Nawalny aufgedeckt habe, sagte der Bundestagsabgeordnete im Gespräch mit dem Dlf. Auch das Gaspipeline-Projekt Nordstream 2 müsse eingestellt werden. Zumal die Pipeline ohnehin überflüssig und eine Wette gegen die europäische Klimapolitik sei, betonte Trittin.

Lesen Sie hier das vollständige Interview im Wortlaut.
Christoph Heinemann: Herr Trittin, wie sollte die Bundesregierung auf diese chemische Analyse reagieren?
Jürgen Trittin: Es ist offenkundig: Für diesen Anschlag gibt es die Verantwortung der russischen Regierung und des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Und das erfordert nun eine klare europäische Antwort, die natürlich nicht davor zurückschrecken darf, die Konsequenzen aus dem zu ziehen, was Alexej Nawalny aufgedeckt hat. Warum dürfen beispielsweise Herr Meschustin, Herr Medwedew oder der ja gerade in den Mittelpunkt gerückte Herr Prigoschin, angeblich der Finanzier und Chef der Wagner-Söldner-Truppe, noch weiterhin ihre Vermögen und den Zugriff auf ihre Vermögen innerhalb der Europäischen Union genießen? Das ist eine der Fragen, der man sich jetzt in der Formulierung einer europäischen Antwort widmen muss.
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawaln 
"Der einzige Oppositionelle, der dem Putin-Regime die Stirn bietet"
Mit seinen Enthüllungsberichten über Korruption und Machtmissbrauch habe sich Kreml-Kritiker Alexej Nawalny in Russland ungemeine Anerkennung in der Gesellschaft eingebracht, sagte Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift "Osteuropa", im Dlf.
Heinemann: Herr Trittin, die russische Seite fordert Beweise. Wo sind die?
Trittin: Die russische Seite fordert Beweise. Ich gehe mal davon aus, wenn die Charité bei einem Patienten eine Vergiftung feststellt und dann eines der bestqualifizierten Labore, die sich mit chemischen Kampfstoffen auskennen, nämlich das der Bundeswehr bittet, mal nachzugucken, welche Gruppe es ist, und es stellt sich raus, es handelt sich um ein verbotenes, übrigens von den Russen unterzeichnetes Verbot, ein verbotenes Massenvernichtungsmittel, dann halte ich das für seriös. Und ich weiß gar nicht, welche Beweise die Regierung der Russischen Föderation da eigentlich noch haben will.
System, das versucht, jede Form von Opposition zu kontrollieren
Heinemann: Warum sollte diese Regierung die Visitenkarte am Tatort zurücklassen?
Trittin: Dazu gibt es ja unterschiedliche Erklärungen. Darüber kann man ganz viel philosophieren. Deswegen glaube ich auch, es ist an der Zeit, Russland hier die Karten auf den Tisch zu decken. Es gibt zwei traditionelle Begründungen. Die einen sagen, die Russen und die russische Regierung kann es nicht gewesen sein; dann hinterlässt man so etwas nicht. Die anderen sagen, mit Verweis auf die Erfahrung, die man in anderen Mordanschlägen gemacht hat: Es ist Absicht, dass diese Spur gelegt wurde, damit entsprechende Sympathisanten der Opfer wissen, was ihnen droht.
Insofern: Sie sind hier ja nicht bei Agatha Christie, sondern wir bewegen uns in einem System, das versucht, jede Form von Opposition wenn nicht zu unterdrücken, dann doch wenigstens zu kontrollieren. Und es zeigte sich, dass um Nawalny herum mit seiner Strategie, wir wählen alle, nur nicht Einiges Russland, um die Proteste, die es in Chabarowsk, aber auch in Tomsk herum gegeben hat, bis weit in die sibirische Provinz hinein, dass offensichtlich eine Unzufriedenheit in Russland sich ausbreitet, die sich dem Kontrollwahn der ehemaligen Geheimdienstoffiziere an der Spitze des Systems entzog.
Heinemann: Rechnen Sie vor dem Hintergrund dessen, was Sie gerade gesagt haben, damit, dass die Regierung in Moskau außer der Ankündigung, Hilfe leisten zu wollen, tatsächlich bei der Aufklärung hilft?
Trittin: Nein, ich rechne damit ernsthaft nicht. Bisher sind alle diese Operationen tatsächlich im Sand verlaufen. Die letzte, die uns ja als Bundesrepublik Deutschland in besonderer Weise getroffen hat, die Ermordung eines Menschen, der hier glaubte, ein sicheres Asyl gefunden zu haben vor Verfolgung durch einen Auftragskiller, mitten im Tiergarten zu Berlin, belegt, dass trotz umfassender Ermittlungen und Rechtshilfeersuchen der deutschen Strafverfolgungsbehörden es keinerlei Unterstützung von der russischen Seite gegeben hat. Offensichtlich wollte man oder hat sich damit auch abgefunden, vielleicht wollte man es sogar, dass klar ist, dass solche Attentate von Russland überall in der Welt verübt werden können.
Nord Stream 2 – Wette gegen europäische Klimapolitik
Heinemann: Herr Trittin, sollte die Bundesregierung das Projekt Gas-Pipeline Nord Stream 2 beenden?
Trittin: Diese Pipeline ist überflüssig. Sie ist eine Wette gegen die europäische Klimapolitik. Aber ich habe auch zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bundeskanzlerin erst am Montag dieser Woche bei einem Besuch in ihrem Wahlkreis versprochen hat, sie zu Ende zu bauen.
Heinemann: Warum?
Trittin: Das müssen Sie die Bundeskanzlerin fragen. Nord Stream verfügt über finnische, schwedische, dänische, deutsche Genehmigungen. Sie wird gebaut unter einer europäischen Regulierung. Die Hürden, dieses Projekt zu beenden, sind nicht ganz klein. Aber ich kann nur darauf verweisen, dass noch am Montag die Bundeskanzlerin den Menschen in Rügen dies versprochen hat.
Mecklenburg-Vorpommern, Laage: Das Verlegeschiff "Audacia" des Offshore-Dienstleisters Allseas verlegt in der Ostsee vor der Insel Rügen Rohre für die Gaspipeline Nord Stream 2 (Luftaufnahme mit einer Drohne).
Zukunft der Pipeline Nord Stream 2 - Die geopolitische Gasröhre
150 Kilometer vor der deutschen Küste ist der Bau der Gas-Pipeline Nord Stream 2 nun erst einmal gestoppt: Die US-Sanktionen greifen und Unternehmen sind abgesprungen.
Heinemann: Die Frage "warum" habe ich auch gestellt wegen des Bedarfs. Hat Ihre und Angela Merkels grüne Energiepolitik Deutschland von russischem Gas abhängig gemacht?
Trittin: Nein! Wir sind im Gegenteil in der Lage – wir haben das sogar mal ausrechnen lassen, wie lange man braucht an dieser Stelle, um sich von jenen 40 Prozent, die wir in unserem Gasbedarf aus Russland beziehen, zu lösen. Mit entsprechenden Maßnahmen. Zum Beispiel mit energetische Gebäudesanierung, Einsatz erneuerbarer Energien in der Wärmebereitstellung, nicht in der Stromerzeugung, wäre man in der Lage, in einem Jahrzehnt den gesamten Bedarf einzusparen.
Arbeiter stehen auf der Baustelle der Empfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 2.
Erdgaspipeline Nord Stream 2 - Dänemark steckt in der Klemme
Auch wenn das Verhältnis zwischen Russland und der EU immer schlechter wird, will die Bundesregierung die Erdgaspipeline Nord Stream 2 fertigstellen. Dänemark hat zwar zugestimmt, befindet sich aber in einem Dilemma.
Ich beobachte allerdings mit Kritik und wachsendem Interesse, dass innerhalb der Europäischen Union nicht darauf gesetzt wird, Gas einzusparen, sondern immer mehr zu importieren. Dazu zählen dann Gasprojekte wie der südliche Gaskorridor, wo man aus Aserbaidschan über die Türkei, beides keine demokratischen Länder, versucht, zusätzlich Gas herzubekommen, oder wo man versucht, Fracking-Gas aus den USA über subventionierte Terminals zu beziehen. Auch dies sind alles Wetten gegen die europäische Klimaschutzpolitik. Anstatt einzusparen versucht man, mehr und damit auch aus fragwürdigen Quellen mehr Gas zu importieren.
"Es ist klug innerhalb der EU gemeinsam zu reagieren"
Heinemann: Und spätestens an dieser Stelle fragen Kritikerinnen und Kritiker der grünen Energiepolitik, ob sie ihr Handy künftig mit Kerzen betreiben wollen.
Trittin: Wir haben jetzt von Wärme im Wesentlichen geredet und nicht von Strom. Bei Strom bin ich sehr gelassen. Wir haben die Situation, dass wir dieses Jahr reihenweise immer wieder erneuerbare Quellen abschalten mussten, weil aufgrund des Einbruchs der Wirtschaftsleistung wir zu viel Strom, insbesondere erneuerbaren Strom erzeugt haben. Und wir haben auch zu viel Kohlestrom im Netz.
Heinemann: Zurück zum Fall Nawalny. Die Bundesregierung bemüht sich um europäische Reaktionen. Rechnen Sie damit, dass Ungarn zum Beispiel eine gemeinsame Haltung verhindern wird?
Trittin: Ich glaube, dass es innerhalb der Europäischen Union klug ist, darauf gemeinsam zu reagieren. Das ist auch im Interesse derjenigen, die vielleicht eine andere Haltung zu Russland haben, als ich es habe oder als die Bundesregierung es hat.
Heinemann: Wer sagt es Herrn Orbán?
Trittin: Ich glaube, Herr Orbán weiß sehr genau, dass die Situation, in der er sich befindet, heißt, wir müssen gemeinsam nicht nur die Werte, da ist Herr Orbán nicht der richtige Kandidat, aber wir werden unseren gemeinsamen Binnenmarkt auch ein Stück weit schützen müssen gegenüber Praktiken, wie wir sie aus Russland haben. Und das ist auch im Interesse Ungarns und insofern ja, es ist richtig, wir wollen eine europäische Reaktion, und ich bin - - Natürlich ist das nie einfach, aber ich bin zuversichtlich. Man kann es hinbekommen.
Putin kann seine Versprechen offenbar nicht halten
Heinemann: Herr Trittin, Vergiften und Töten gehört zur russischen Politik. Dafür stehen unter anderem die Namen von Tochter und Vater Skripal, Alexander Litwinenko, Boris Nemzow, Anna Politowskaja oder Selemkin Changoschwili, ein Tschetschene – Sie haben den Fall eben angesprochen – mit georgischem Pass, der im August 2019 im kleinen Tiergarten ermordet wurde. Das sind viele Fälle, wahrscheinlich müssten wir noch viele andere nennen. Wie sowjetisch ist Wladimir Putins Herrschaft?
Trittin: Wladimir Putin ist unter der Herrschaft der KPDSU in der Sowjetunion groß geworden. Er hat dort im Nachrichtendienst sein Handwerk gelegt und genau diese Herrschaftsmethoden, die er aus der sowjetischen Zeit gelernt hat, hat er übernommen in ein politisches System, das auf absolute Kontrolle und Überwachung an dieser Stelle setzt. Und insofern erleben wir hier eine perverse Revitalisierung solcher Herrschaftsmethoden.
Das sind aber auch Zeichen, muss man an dieser Stelle auch immer mit bedenken, von Schwäche. Denn ein Regime, was zu solch ostentativen Mitteln des politischen Mordes greifen muss, gibt damit zu, dass es in seinem Lande offensichtlich massive Unzufriedenheit, massiven Widerstand gibt, dass die Menschen nicht zufrieden sind, und das hat auch seine Gründe. Seit mehreren Jahren sinken die Realeinkommen in Russland. Das Versprechen, was Russland, was Putin seinen Bürgern gegeben hat, nämlich für Stabilität und für ein Leben wie im Rest Europas zu sorgen, dieses Versprechen kann er offensichtlich nicht halten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.