Obwohl Sriram Sankararaman in der Genetik-Abteilung der Harvard Medical School in Boston arbeitet, steht er nie im Labor. Sein Augenmerk gilt der Verarbeitung riesiger Datenmengen.
"Wir wissen, dass sich Teile des Neandertalererbguts in der DNA heutiger Menschen außerhalb Afrikas etabliert haben. Und wir wollten herausfinden, wo sich diese Neandertalergene befinden und welche Funktion sie erfüllen. Dazu haben wir eine Methode entwickelt, die diese Neandertalerspuren im Erbgut heutiger Menschen findet."
Um Neandertalergene im Erbgut heutiger Menschen zu finden, bediente sich Sriram Sankararaman der öffentlich zugänglichen Daten des 1000-Genome-Projekts, bei dem das Erbgut von mehr als 1000 Menschen aus aller Welt entziffert wurde. Mithilfe eigens entwickelter Statistik-Methoden verglich er das aus fossilen Knochen sequenzierte Neandertalererbgut mit vielen hundert heute lebenden Menschen. Gab es Treffer, dann schaute der Forscher, ob die übereinstimmenden Bereiche für das Aussehen, das Immunsystem, den Stoffwechsel oder die Fruchtbarkeit verantwortlich sind.
"Dabei sahen wir, dass vor allem die Bereiche, die für die Pigmentierung der Haut und Haare wichtig sind, von Neandertalern stammen. Es liegt auf der Hand, dass gerade diese Genvarianten für unsere Vorfahren vorteilhaft waren und sich durchgesetzt haben, etwa die helle Haut. Denn die Neandertaler waren ja schon lange an die klimatischen Gebiete in Eurasien angepasst."
Damit könnten die Neandertaler für bestimmte klimatische Anpassungen heutiger Europäer und Asiaten verantwortlich sein. Dazu gehört neben einer stärkeren Behaarung auch die helle Haut, die eine Vitamin-D-Synthese erleichtert, und auch Fettdrüsen als Kälteschutz. Bei den Rechenzyklen, die der IT-Spezialist in der Online-Ausgabe des Fachblatts "Nature" vorstellt, entdeckte er im Erbgut heutiger Menschen Bereiche, die reine Neandertalervarianten sind und die erhebliche Auswirkungen auf das Immunsystem haben.
"Wir haben auch Hinweise darauf gefunden, dass die Neandertaler bestimmte Erbgutschnipsel bei modernen Menschen hinterlassen haben, die für einige Krankheiten verantwortlich sind, wie etwa Morbus Crohn oder Diabetes. Diese Risikogene haben eindeutig ihren Ursprung bei den Neandertalern."
Auf eine ähnliche Suche begab sich Joshua Akey von der Universität von Washington in Seattle. Auch er hatte sich der Daten des 1000-Genome-Projekts bedient und eigene Algorithmen entwickelt. Seine Statistikanalyse, die er heute im Fachmagazin "Science" vorstellt, ist jedoch eine indirekte Methode. Er wollte Neandertalergene aufspüren, ohne jedoch das alte Neandertaler-Erbgut zum Vergleich vor sich zu haben.
"Es war klar, dass der Neandertaler-Erbgutanteil bei Menschen in Asien und Europa zwischen ein und drei Prozent liegt. Aber, und das war unsere These, kann auch bedeuten, dass mein Neandertalererbgut nicht zwangsläufig dasselbe sein muss, das sie in sich tragen."
Damit – so die Theorie – kann man mithilfe eines großen Datensatzes auch ein Genom teilweise rekonstruieren, ohne überhaupt alte Knochen vorliegen zu haben. Und nach der Analyse von 379 Genomen aus Europa sowie 286 aus Ostasien wurde er fündig.
"Wir konnten einen erheblichen Anteil an Neandertalererbgut nicht nur aufspüren, sondern auch zusammensetzen. Und zwar waren das 20 Prozent des gesamten Neandertaler-Genoms – aus dem Erbgut heute lebender Menschen. Und mit dieser Methode, also das Herausfiltern der Gene, die bis heute überlebt haben, können wir Ergebnisse bekommen, die wir bei der Analyse eines einzigen Fossils nicht zwangsläufig erhalten."
Beide Methoden zeigen, dass die Datenmenge mittlerweile ausreicht um zu klären welche genetischen Eigenschaften sich nur in der Linie des anatomisch modernen Menschen entwickelt haben und welche Bereiche des Erbguts unsere ausgestorbenen Vettern beigetragen haben. Damit eröffnen sich für die Paläogenetik völlig neue Möglichkeiten, um die Geschichte der Menschheit zu verstehen. Beide Forschergruppen sind sich einig, dass ihre Datenanalysen die ersten Schritte in ein neues Zeitalter der Datenerhebung sind, mit der sich Erbgutreste heute ausgestorbener Menschen nicht nur erheben, sondern auch detailliert analysieren lassen.