Neandertaler hatten lange einen schweren Stand in der Wissenschaftsgeschichte. Mehr als 150 Jahre lang wurden sie als tumbe Keulenschwinger betrachtet, obwohl die Beweise für ihre kulturellen und technischen Errungenschaften unübersehbar waren. Und sie waren Homo sapiens offenbar auch in anderer Hinsicht näher als gedacht.
Das berichtet Janet Kelso vom Leipziger Max-Plack-Institut für evolutionäre Anthropologie auf einer Paläogenetiktagung in Heidelberg. Denn bis zu zwei Prozent des Erbguts heutiger Menschen außerhalb Afrikas gehen auf Neandertaler zurück – und neue Erkenntnisse zeigen: Diese Verbindung reicht unerwartet weit zurück.
“Bis vor kurzem wurde angenommen, dass sich Homo sapiens und Neandertaler vor 45.000 bis 50.000 Jahren erstmals begegneten und dann auch gemeinsamen Nachwuchs hatten. Was wir jetzt im Genom von Neandertalern entdeckt haben, ist aber ein Beweis dafür, dass sich die beiden Menschenformen schon früher getroffen haben müssen, viel früher. Unsere Schätzungen liegen derzeit in der Größenordnung von vor 200.000 bis 300.000 Jahren.”
Neandertaler-Gruppen nahmen "Auswanderer" auf
Demnach haben sehr früh einzelne Vertreterinnen und Vertreter von Homo sapiens den afrikanischen Kontinent verlassen und wurden dann offenbar von Neandertalergruppen aufgenommen. Janet Kelso: „Wir gehen davon aus, dass vor 200.000 bis 300.000 Jahren einige anatomisch moderne Menschen nach Südeuropa und in den Nahen Osten ausgewandert sind. Zu diesem Zeitpunkt lebten dort bereits Neandertaler. Die Auswanderer trafen diese Neandertaler und sie mischten sich mit ihnen. Aber dieses Mal erhielten nicht unsere Vorfahren Neandertaler-DNA, sondern die Neandertaler integrierten Erbgut von Homo sapiens in ihrer DNA. Es ist also das Gegenteil von dem passiert, was wir später sehen, also vor 45.000 bis 50.000 Jahren.“
In der Forschung wird das Phänomen Genfluss genannt. Doch unsere Vorfahren waren nicht die einzigen externen Sexualpartner von Homo neanderthalensis. Es gab ja auch noch die Denisova-Menschen. Diese lebten bis vor gut 50.000 Jahren im Altai-Gebirge im südlichen Sibirien - genauer gesagt in der Namensgebenden Denisova-Höhle.
Auch Neandertaler und Denisova-Menschen hatten gemeinsamen Nachwuchs
"Wir wissen auch, dass Neandertaler und Denisova-Menschen gemeinsamen Nachwuchs hatten. Der Genfluss hier ging anscheinend in beide Richtungen. Es sieht so aus, als ob einige Neandertaler Denisova-DNA und einige Denisova-Menschen Neandertaler-DNA trugen", erklärt Bioinformatikerin Janet Kelso.
Weshalb die Gene manchmal in die eine Richtung weitergegeben wurden, mal in die andere, werde eine der großen Forschungsfragen der kommenden Jahre sein. Denn offenbar haben sich die erfolgreichen Genvarianten durchgesetzt - und die stammen eben von unterschiedlichen Menschenformen: mal von Neandertalern, mal von Homo sapiens oder eben auch von den Denisova-Menschen. Klar sei nur eine Sache:
„Je mehr wir suchen, desto mehr Fälle finden wir, in denen unterschiedliche Menschenformen Erbgut ausgetauscht haben. Das ist eindeutig kein Zufall. Vor vielleicht 15 Jahren dachten wir noch, das seien sehr seltene Ereignisse. Aber offenbar war das Gegenteil der Fall: Wenn anatomisch moderne Menschen andere Menschen trafen, archaische Menschen, bekamen sie gemeinsamen Nachwuchs. Und der war offenbar auch fruchtbar, zumindest bis zu einem gewissen Grad, denn wir sehen ja deren Nachkommen."
Unklar sei aber weiterhin, weshalb zwei der drei offenbar sehr eng befreundeten Menschenformen – Neandertaler und Denisova-Menschen - heute ausgestorben sind und deswegen alle heute lebenden Menschen zu Homo sapiens, den anatomisch modernen Menschen gehören.