- "Und du, Michele? Du bist so jung, seit wann lebst du in Deutschland?"
- "Seit 2 Jahren. Ich bin hierher gekommen wegen der Arbeit."
- "Vermisst du Neapel?"
- "Ja, ich vermisse Neapel sehr. Ich habe oft Heimweh. Wie ich dir schon gesagt habe: Neapel ist wie eine Mama. Und wenn man fern von der Mama ist, dann vermisst man sie. Es ist so."
- "Woran denkst du, wenn du Heimweh hast?"
- "An Mergellina, das Viertel am Meer. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Dort ist mein Leben! Die Stimmung in Mergellina ist schön! Immer so lebendig und voller Menschen, am Vormittag wie am Abend und auch in der Nacht! Rechts sind das Meer und die Klippen, wo man auch sitzen kann, links sind all die Palazzi und Häuser, die verschiedene Kioske und Cafés. Ach, der unvergleichliche Geruch von Pizza und Brot aus dem Bäckerladen, der dich so anzieht. Und man sieht den Vesuv, das Maschio Angioino, also das Castello am Meer. Dafür gibt es wenige Worte. Nur eins: Es ist ein Schauspiel. Das bedeutet für mich Leben. Verstehst du? Alles ist hier, die erste Liebe, die ersten Freunde, die Spiele, die Feste. Es ist eine Emotion. Wenn ich da bin, fühle ich mich zu Hause, vertraut und nie einsam. Wir Neapoletaner halten immer zusammen, wir sind ein Herz und eine Seele!"
- "Das Meer, der Vesuv, die Pizza. Ein romantisches Bild von Neapel, weltweit bekannt. Aber weißt du Michele? Aus deinem Mund klingt es auf einmal nicht mehr wie ein Klischee. So ein Neapel wie deines möchte ich erleben. Mit den Augen von Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind."
Sara: - "Ich wohne hier ganz in der Nähe und das ist für mich wirklich das Herz der Stadt."
- "Sara treffe ich in der Galleria Umberto I, der alten, eleganten Einkaufspassage Neapels, an der sie jeden Tag vorbeikommt. Oft sitzt sie hier mit Chiara, ihrer Freundin und Kollegin von der Architekturfakultät, am Tisch des kleinen Cafés direkt unter der Kuppel, um die Struktur des Gebäudes zu bewundern."
- "Das ist eine faszinierende Struktur aus Eisen und Glas vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die Kuppel ist wunderschön und muss keinen Vergleich scheuen mit den Kuppeln des Star-Architekten Norman Foster. Die Galleria Umberto I ist 20 Jahre nach der Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand gebaut worden. Es gibt immer noch einen kleinen Wettbewerb zwischen den beiden Galerien und wir Neapoletaner sagen gerne, dass unsere die schönste ist!"
Wir befinden uns im Zentrum eines der alten Stadtteile Neapels nicht weit von der populären Einkaufsstraße via Toledo und der berühmten Piazza del Plebiscito. Nach dem Ausbruch einer Choleraepidemie 1884 wurden die heruntergekommenen und überbevölkerten Viertel abgerissen. An ihrer Stelle baute man nach Pariser Vorbild diese Einkaufspassage, die zum Treffpunkt des mondänen Neapels wurde. Auch wenn sie heute den Glanz von damals ein wenig verloren hat, mögen Chiara und Sara ihre Galleria Umberto I sehr, und freuen sich, dass sie hier sein können.
"Es ist für mich immer eine Emotion und eine Überraschung, wenn ich in die Galleria hinein komme und an der anderen Seite das Teatro San Carlo sehe. Manchmal üben Opernsänger in der Galleria und man hört ihre Stimmen und ihr Echo durch die Gewölbe schweben. Das berührt mich, ich bekomme immer eine Gänsehaut."
Antonio: "Was meine Stadt ist, das kann ich hier im Centro Storico immer wieder empfinden, in den Decumani, den alten Straßen Neapels, in der Via Tribunali, in der Spaccanapoli und in den manchmal sehr engen und dunklen Nebengassen. Hier erzählen selbst die Steine eine Geschichte."
Mit Antonio Fraioli, Geiger und Komponist, bin ich auf der Via San Gregorio Armeno verabredet, der sogenannten Strada dei Pastori, der Straße der Krippenmacher, voller Läden und Stände, in der seit Generationen erstaunlich fantasievolle Krippenfiguren verkauft werden. Einer Legende nach stammt diese Tradition sogar aus der Antike. Wo sich heute die Kirche San Gregorio Armeno befindet, stand damals der Tempel der Göttin Demeter. Und schon in dieser Zeit wurden Votivfiguren für sie hergestellt.
"Das Baumaterial dieses Palazzo ist aus dem 16. Jahrhundert. Aber auf diesem Stein sehen wir ein Relief, eine Abbildung der Göttin Demeter. Die Erde Neapels ist voll von solchen wertvollen Funden. Dieser Stein wurde damals wahrscheinlich zufällig hier eingebaut."
Antonio erzählt begeistert von den Spuren der Vergangenheit Neapels. Und ich verstehe, warum er diese alten Gassen liebt. Was ihn aber mit diesem Viertel noch stärker verbindet, ist eine Erinnerung aus seiner Jugend.
"Als ich im Konservatorium studierte, in der Via San Pietro a Maiella, hier um die Ecke, gab es noch den letzten Pazzariello, das letzte "Verrücktchen". Ein Straßenausrufer, der die Aufgabe hatte, Werbung zu machen. Das war früher ein Beruf hier in Neapel. Er ging in den Vierteln umher und rief zum Beispiel: Der schöne Laden von Herrn Sowieso wird heute eröffnet. Als er unter den Fenstern des Konservatoriums vorbeilief, musste man alle Fenster schließen, weil er sehr laut war. Man sah vorne den Pazzariello mit seinem Stock und seiner ganzen Ausrüstung und hinter ihm zwei Musiker mit Trommeln. Sie liefen und sangen im Rhythmus der Tarantella. Das war für mich eine Freude. Manchmal bin ich am Fenster geblieben, um ihn zu sehen. Eines Tages ist er nicht mehr gekommen. Er war gestorben und kein anderer Pazzariello hat seinen Platz eingenommen."
Lia Rumma: "Neapel ist eine Stadt der Kunst. Eine wunderschöne Stadt der Kunst."
Lia Rumma, eine der bekanntesten Galeristinnen Italiens, treffe ich im Gewirr der Gassen des Centro Storico, auf der Via Santa Chiara. Lia Rumma reist in der ganzen Welt umher, kehrt aber jedes Mal in ihre Heimatstadt zurück. Und immer wieder lädt sie berühmte Künstler nach Neapel ein. William Kentridge und Anselm Kiefer sind nur zwei der großen Namen aus der internationalen Kunstszene, die sie ausgestellt hat. Aber warum kehrt Lia Rumma immer nach Neapel zurück? Was vermisst sie, wenn sie in Mailand, London oder New York ist?
"Das Museum von Capodimonte, das archäologische Museum. Und viele andere Orte, aber ganz besonders das Kloster von Santa Chiara. Nicht nur wegen der schönen, alten neapolitanischen Krippe, die dort zu sehen ist. Vor allem liebe ich den Kreuzgang des Klosters. Ein Kreuzgang von solcher Schönheit und Poesie, dass ich jedes Mal, wenn ich kann, einen Augenblick dort verweilen möchte. Es scheint so, als würde man plötzlich auf einem Weg voller Sonne gehen. Diese wunderschönen, gelben Maiolika-Fliesen aus dem 18. Jahrhundert. Und es herrscht eine Stille dort, vielleicht jene Stille, die wir manchmal suchen."
Nicht weit auf der Via Santa Chiara gehe ich durch die Eingangstür des Klosters, bleibe aber eine Weile stehen. Es scheint mir, als wäre ich plötzlich woanders, fern vom Gassengewirr der Metropole draußen, auf einer einsamen Insel. Am Eingang zum Kloster treffe ich die junge Kunsthistorikerin Patrizia Torelli, die hier jeden Tag arbeitet.
"Wenn man in den Kreuzgang herein kommt, sieht man zuerst den schönen Wandelgang mit Fresken aus dem 17. Jahrhundert. In der Mitte wachsen Zitronenbäume unter freiem Himmel. In diesem Innenhof hat jeder der Wege, die sich in der Mitte kreuzen, kleine Begrenzungsmauern, Säulen, Stützen und Bänke, die mit ornamentalen und figürlichen Majolikabildern völlig bedeckt sind. Es sind wunderschöne Darstellungen, vor allem bunte Szenen aus dem damaligen ländlichen Alltagsleben."
Bauern und Bäuerinnen, Jäger, Tiere, Landschaften, aber auch Feste, Spiele, Musikanten und sogar Szenen aus der Commedia dell`Arte. In einer dieser Abbildungen lehnt ein scheues Mädchen aus einem Balkon. Sie schaut nach unten, wo ihr junger Verehrer, der gerade dabei war, für sie eine Serenata zu singen, von ihrer Familie erwischt und verprügelt wird. Anscheinend keine gute Partie. Ich wundere mich, dass im Kloster der Klarissinnen eine Szene wie diese dargestellt wurde. Patrizia weiß Bescheid.
"Diese Maiolika-Fliesen wurden im 18. Jahrhundert aufgrund einer Entscheidung der Äbtissin Ippolita Carmignano hergestellt. Die Klarissinnen waren damals Frauen aus einflussreichen Familien, die sehr oft gezwungen wurden, die Ordensgelübde abzulegen. Die Äbtissin wollte für sie das Alltagsleben ins Kloster bringen. Mithilfe dieser fröhlichen, lebendigen Abbildungen der Welt draußen sollten die Klarissinnen am Leben teilnehmen können. Denn die Klosterstille ist sicherlich schön, aber manchmal auch zu viel."
Während die Klarissinnen letztendlich von der Außenwelt abgetrennt bleiben mussten und von ihr nur träumen konnten, freut sich Patrizia nach einem langen Tag, wieder in ihr Neapel eintauchen zu dürfen.
"Wenn man am Ende des Tages aus dem Kloster tritt, erlebt man eine Art Zusammenprall mit dem lauten Verkehr der Stadt. Es ist etwas Besonderes, man fühlt sich wie in ein erregendes Chaos katapultiert, das aber positiv ist. Es wirkt wie ein lebendiger, heftiger Schwung ins Leben, der dich dann sagen lässt: Ach, wie schön. Das Chaos ist doch nicht so schlecht.
Auf zum Vomero mit der berühmten Funicolare, der neapolitanischen Drahtseilbahn. Zum hoch gelegenen Stadtviertel Neapels. Dort wartet Davide Mastropaolo auf mich. Er ist Musiker, Komponist, Produzent unabhängiger Musikgruppen, lebt und arbeitet auf dem Vomero. Wir sind nicht weit von seinem Studio am Castel Sant'Elmo verabredet, der hohen, massiven Festung aus dem 14. Jahrhundert, auf der Spitze des Hügels. Wie Davide erzählt, zeigen Viertel wie Vomero und Posillipo, dass Neapel sich nicht nur unten am Meer entlang, sondern auch in die Höhe, auf die Hügel ausgebreitet hat.
"Viele dieser Viertel waren früher kleine Dörfer, die dann mit der fortschreitenden Urbanisierung Neapels Teil der Stadt wurden. Eine Verbindung zur Stadt hat es natürlich schon immer gegeben. Hier auf dem Vomero zum Beispiel sieht man noch die alten Wege, vor allem lange, serpentinenartige Freitreppen, die vom Dorf hinunter zur Stadt führten. Neapel ist eine Stadt voller Treppen. Wenn du auf ihnen herunterläufst, bist du in 15 Minuten am Meer."
Davide zeigt mir von oben einen dieser alten Wege, den Petraio. Er führt vom Vomero bis zur Via Toledo und ist mit dem Auto nicht befahrbar. Auch deswegen war der Petraio lange kein begehrtes Wohnviertel. Früher lebten hier vor allem Künstler und Studenten. Davide erinnert daran, dass Paul Klee einmal am Petraio gewohnt hat, wie in seinem Tagebuch vermerkt ist. Was Klee damals faszinierte, macht noch heute den Charme dieses Viertels aus.
"Der Petraio ist ganz besonders. Seit dem 17. Jahrhundert gilt er als wunderschöner Spaziergang. Mitten in der Metropole ist man wie in einem ruhigen, alten Dorf auf dem Land. Wenn ich dort laufe, habe ich plötzlich das Gefühl, im 17. Jahrhundert zu sein. Und dort lebt man auch wie im Dorf. Es gibt zum Beispiel das Fest des Petraio, für das alle Mitglieder der Gemeinde etwas vorbereiten: Eine alte Frau kocht die Salsicce, die Würste, andere bringen den Wein mit. Und bei all dem hat man eine unglaubliche Aussicht über die ganze Bucht von Neapel bis hin zum Vesuv."
Auf der riesigen, wunderschönen Piazza del Plebiscito unten am Meer gibt es ein beliebtes Spiel: Die Augen schließen und versuchen, gerade zu laufen. Vom Zentrum des Platzes sollte man bis zum Rand, zur Kirche San Francesco di Paola kommen. Ich möchte es auch probieren. So sehr man sich auch bemüht – man läuft immer im Kreis. Ringsherum scheint sich Neapel zu drehen, mit seiner Schönheit, seinen Farben, seiner Musik, aber auch mit all den Widersprüchen und Schattenseiten, welche die Negativschlagzeilen so häufig bestimmen. Trotzdem lieben die Neapolitaner ihre Stadt und sehnen sich nach ihr, wenn sie im Ausland leben müssen. Michele:
"Abends, wenn ich von der Arbeit wieder nach Hause komme, schaue ich mir manchmal eine Postkarte von Neapel an. Ich verweile lange vor ihr und hoffe, von ihr träumen zu können, weil ich so gerne in dem Foto wäre in Neapel in diesem Augenblick."