Kardinal Crescenzio Sepe, der Erzbischof von Neapel, stand bisher nicht gerade im Ruf, ein glühender Kämpfer gegen die Camorra zu sein. Aber inzwischen ist es auch ihm längst zu viel geworden. Denn in Neapel läuft ein Krieg von unterschiedlichen Straßengangs, der nur schwer zu durchschauen ist. Und die Zahlen sind eindeutig: über 50 Tote hat es hier im letzten Jahr gegeben, dieses Jahr sind es schon fast 30. Das treibt auch Kardinal Sepe um:
"Gestern wieder, diese Nacht, es gibt keinen Tag, an dem wir keinen Toten haben, Attentate, Gewalt erleben. Das ist wie der Wilden Westen, vor allem von den Jungen besetzt, den Baby-Gangs. Kann die Kirche da schweigen, die Augen schließen? Kann sie, angesichts eines solchen Übels, das sich wie ein Krebs ausbreitet, und in der Gemeinschaft weiter wächst, still sein?"
Deswegen hat sich Neapels Erzbischof an die Spitze einer Bewegung gesetzt, die gegen die Camorra, oder was man so nennt, auf die Straße geht. Gerade erst gab es wieder eine Prozession zum Dom. "Popolo in Camino", Volk auf dem Weg, heißt diese Initiative, die ein paar Pfarrer gegründet haben.
Einer von ihnen ist Pater Alex Zanotelli. Er lebt in einem Kirchturm im Viertel Sanità, einem sozialen Brennpunkt. Er trägt ein Batik-Shirt, unten hängt die Regenbogenfahne. Viel Arbeitslosigkeit gibt es hier, und viele der Jungen bringen die Schule gar nicht erst zu Ende. Zanotelli hat lange Jahre als Missionar in Afrika gearbeitet, deswegen hat er auch einen etwas ethnologischen Blick auf die Verhältnisse hier.
Unten auf dem Platz hat alles angefangen, nachdem am 6. September, im letzten Jahr, der 17-jährige Genny ums Leben kam:
"Hier haben sie ihn ermordet. Er wollte fliehen, um vier Uhr morgens. Da sind vier Motorräder gekommen, mit je zwei Leuten drauf, und die haben angefangen zu schießen. Er ist abgehauen und die einzige Kugel, die getroffen hat, ist durch ihn durch – und da ist er sofort gestorben."
Padre Alex, wie ihn hier alle nennen, sollte am Morgen eigentlich die Messe lesen, aber das konnte er nicht, denn in der Nacht hatte er die Schüsse gehört und die Schreie. Und dann haben sie doch Gottesdienst gefeiert, auf dem Platz. Und Padre Alex fand die richtigen Worte:
"Ich habe den Leuten ganz klar gesagt: Es kommt keiner, um Euch zu retten. Entweder heben wir, die Leute aus dem Sanità-Viertel, den Kopf und sagen: Basta, oder es gibt keinen Ausweg. Zwei Tage danach gab es diese große Demonstration. Und ich habe zum ersten Mal dieses große Banner schreiben lassen: "Nein zur Camorra." Das war das erste Mal, dass es so etwas gab."
Kämpfe ohne Rücksicht auf Verluste
Eigentlich ist das ein Wunder. Denn gegen die Clans aufgestanden war hier bisher noch niemand. Aber inzwischen ist eh vieles anders. Die alten Regeln gelten nicht mehr. Und weil die Polizei viele der Bosse hinter Gitter gebracht hat, liefern sich die Jungen heftige Kämpfe um die Nachfolge. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Das bestätigt auch Don Angelo Berselli. Eigentlich kommt er aus Mantua, spricht aber tiefsten neapolitanischen Dialekt. Auch er ist einer dieser Pfarrer an der Front. Im Viertel Focella – auch hier hat es schon Tote gegeben. Mit der Camorra vom alten Schlag hatte Don Angelo sich wohl oder übel arrangiert. Zu den Mördern dieser Tage gibt es keinen Anknüpfungspunkt:
"Camorra, das war bis vor kurzem organisiertes Verbrechen. So wie das heute läuft, ist das unorganisiertes Verbrechen. Und die Polizei müsste begreifen, dass das der Moment ist, um noch härter durchzugreifen. Denn es gibt keine Struktur. Ich spreche von der Straßencamorra. Wenn wir die auslöschen haben wir das Problem nicht gelöst, denn das echte Problem ist die Gewalt. "
Um die Ecke, hinter seiner Kirche haben sie den 16-jährigen Michael Russo ermordet. Am Silvesterabend, einfach so. Auch deshalb machen sich hier inzwischen einige auf den Weg – gegen die Gewalt. Besonders kräftig ist diese Pflanze des Protestes in Neapel noch nicht. Aber es gibt die zarte Hoffnung, dass sich etwas ändert. Auch mit Hilfe der katholischen Kirche.