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Nebeneinander statt Miteinander

Südtirol hat eine wunderbare Landschaft, eine gut geölte Tourismusindustrie und eine florierende Wirtschaft. Doch hinter der Wohlstandsfassade versteckt sich eine leidvolle Geschichte. Südtirol wurde nach dem Ersten Weltkrieg von Österreich abgetrennt und kam zu Italien.

Mit Reportagen von Kirstin Hausen, am Mikrofon: Brigitte Helfer |
    Unter dem italienischen Faschismus war es verboten, deutsch zu sprechen und die Tiroler Identität zu pflegen. Südtirol sollte italienisch werden, mit allen Mitteln.

    Benito Mussolini ließ die deutschsprachigen Ortsnamen übersetzen und siedelte in Bozen und Meran massiv Italiener aus dem Süden an. Das brachte unweigerlich soziale Spannungen mit sich aufgrund der ganz anderen Mentalität der Neuankömmlinge aus Sizilien oder Kalabrien.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg rangen die deutschsprachigen Südtiroler der italienischen Regierung in jahrzehntelangen Verhandlungen wichtige Zugeständnisse ab: die offizielle Anerkennung der Südtiroler Kultur, Deutsch als Amtssprache sowie eine weitreichende Steuer- und Verwaltungsautonomie.

    Heute leben die beiden Volksgruppen friedlich nebeneinander, aber weit entfernt von einem Miteinander.


    Nur ganze 7400 Quadratkilometer groß, gilt Italiens nördlichste Provinz Südtirol als einer der schönsten Landstriche Europas und mit seiner Autonomieregelung als überaus geglückter Modellfall. Doch der Weg dorthin war lang und steinig: Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das über fünf Jahrhunderte zum Habsburgerreich gehörende Tirol aufgeteilt, das Land südlich des Brenners ging als Kriegsbeute an Italien.

    Bald nach der Machtübernahme verbannten die Faschisten alles Deutsche aus dem öffentlichen Leben, betrieben den Aufbau einer "italienischen" Industriezone in Bozen und siedelten dort massenweise Familien aus dem Süden an.

    Nach 1945 hofften die Südtiroler vergeblich auf eine Rückkehr zu Österreich, und man verwehrte ihnen eine echte Selbstverwaltung. Die Auseinandersetzungen eskalierten, es gab die ersten Sprengstoffanschläge. Das sogenannte 'Paket', ein diffiziles Autonomiestatut, das 1972 ausgehandelt wurde, bescherte den deutschsprachigen Südtirolern schließlich erst 20 Jahre später optimalen staatlichen Schutz. Und der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol (die zusammen mit der Provinz Trient die Autonome Region Trentino-Südtirol bildet) einen erstaunlichen Wohlstand.

    Doch vor 50 Jahren noch war die Provinz südlich des Brenners bitterarm, die Menschen wanderten aus der Landwirtschaft ab.

    Just zu der Zeit begann der Aufschwung des Tourismus, der inzwischen jährlich fünf Millionen Reisende für 30 Millionen Übernachtungen nach Südtirol holt. Beide Wirtschaftszweige ergänzten einander aufs einträglichste, etliche Bergbauern stellten auf Bio um und öffneten ihre Höfe den Touristen. Wie die Familie Moosmair, in der zwei Generationen ganz unterschiedlich auf die Verletzungen der Vergangenheit blicken.



    Alte Wunden und neue Hoffnungen
    Eine Bauernfamilie im Passeiertal


    10 nach 6 auf dem Niedersteinhof im Passeiertal. Im Stall sind bereits alle auf den Beinen: acht Kühe, drei Kälbchen, zwei Schweine, ein Geißbock und Frieda.

    "Ja, kleine Frieda, die ist immer im Stall, es ist hier sehr interessant, diese Katze bleibt den ganzen Tag im Stall und ist hier auch die Chefin."

    Walter Moosmair nimmt Frieda auf den Arm und schmust mit ihr. Ein Morgenritual. Die grau-weiß getigerte Katze schließt die Augen und schmiegt sich an den Hals des 35 jährigen.

    "Wir haben vor 5 Jahren entschieden, den ganzen Hof zu Bio zu machen, wir wollen probieren, nur von der Natur zu leben. Weil das lokale Produkt gefragt ist, sind wir sehr gut unterwegs, die Leute kaufen gerne unseren Käse."

    Walters Vater Johann massiert den Kühen die Euter bevor er die Melkmaschine anschließt. dann schießt die Milch besser ein.

    Die Melkmaschine pumpt monoton, chromglänzende Kolben an rosigen Zitzen. Früher wurde von Hand gemolken. 10 Minuten hat Johann Mossmair pro Kuh gebraucht.

    Jetzt mistet er aus während das Melken die Maschine erledigt. Ruhig und konzentriert fegt der alte Bauer jeden Strohhalm unter den Bäuchen der Kühe weg, bevor frisch gestreut wird. Gloria schaut ihm zu. Gloria ist die älteste Kuh auf dem Hof. Jedes Tier hat einen Namen auf dem Niedersteinhof.

    Walter füttert die Schweine nebenan, drängt den frechen Felix zurück. Der Jungbauer ist überzeugt, dass es heutzutage nicht mehr reicht, den Hof gut zu bewirtschaften und Qualitätsprodukte herzustellen. Man muss es auch kommunizieren, den Menschen vermitteln und Marketing in eigener Sache betreiben. Für die Eltern sind das Wörter aus einer anderen Welt. Aber sie lassen Walter machen. Neue Generation, neue Ideen.

    "Nicht, dass wir nicht streiten, man muss ehrlich sein und manchmal kriegen wir uns auch in die Haare"

    Bei der Sache mit dem Heu zum Beispiel. Da waren die Eltern erst skeptisch. Walter Moosmair verkauft sein kräuterreiches Bergwiesenheu an Wellnessabteilungen großer Hotels, die damit Heubäder anbieten und übers Internet als Heukissen, Heusäckchen und Heusuppe. Das Geschäft läuft gut. Walter lächelt und schaut zu seinem Vater hinüber, der noch rasch frisch einstreut.

    Eine Viertelstunde später sitzen die Moosmairs in der Küche: bei Kaffee, Eiern und Brötchen mit selbstgemachter Marmelade. Walters Mutter, Anna Moosmair schneidet eine Salami an, im Herd knackt manchmal ein Holzscheit, an der Wand tickt die Uhr, sonst ist es still.

    " Vieles ist noch so wie vor 30 Jahren, Milchwirtschaft, Viehwirtschaft, die Fleischpreise sind ja fast 10 Jahre dieselben geblieben, aber die Futterpreise steigen dauernd, da ham wir Gästezimmer ausgebaut und jetzt vermieten wir seit 1980. "

    Zwei Zimmer im Obergeschoß. Sparsam, aber hübsch möbliert. Mit Badezimmer. Ohne Fernseher, Telefon oder Internetanschluss. Aber das wollen die Gäste auch nicht. Wer hierher kommt, will das unverfälschte Landleben. Ferien auf dem Bauernhof. Die meisten Urlauber kommen aus Deutschland und Österreich.

    "Österreich ist unser Vaterland, mehr hingezogen fühl ich mich schon zu Österreich, kulturell und vom Mensch her sind wir -, also mit Österreich kannt's dich ja besser ausdrücken, das wäre ganz was anderes!"

    Anna Moosmair zupft eine dunkle Strähne aus dem Dutt am Hinterkopf. Sie ist Jahrgang '48. Als sie geboren wurde, bekam sie einen italienischen Pass, gehörte Südtirol schon fast 30 Jahre politisch zu Italien, akzeptiert hat sie das nie. Dabei lebten auch im Passeiertal früher, als Anna Moosmair jung war, eine ganze Menge Italiener. Die Regierung in Rom förderte massiv den Zuzug aus dem armen Süditalien. Johann Moosmair macht eine wegwerfende Handbewegung.

    "Hier auf die Bauernhöfe haben sie ja Italiener hergeschickt, im Passeiertal waren 20, die hatten immer Höfe in schöner Lage bekommen, aber ist alles daneben gegangen. Die konnten nicht einmal den Acker pflügen. Das war furchtbar und heute gibt es keinen einzigen italienischen Bauern mehr im Passeiertal."
    Johann Moosmair schneidet sich noch ein Stück Wurst ab. Nach der Stallarbeit langt er gut zu. Seine Frau schüttet Kaffee nach. Deutscher Filterkaffee ist das, kein italienischer Espresso.

    " Was wirkliche Südtiroler sind, die lassen sich nie unterkriegen von den Italienern. Wenn die Italiener kommen, die wollten dir ja die ganzen Bräuche und Fahnen und keine Prozessionen, alles wollten sie unterdrücken."

    Johann Moosmair streicht sich verlegen über die Augen bei der Erinnerung an die 60er Jahre. Harte Jahre waren das, voll Hass, Angst und Gewalt.

    " Ich kann mich erinnern, damals gab's bei uns nur das eine Hotel mit Zentralheizung, da sind sie hin, voll besetzt mit Militär, da gab's Ausgangssperren. Ich war so 20 Jahre alt und wir haben uns so vorgestellt, wenn das so weiter geht, was sollen wir dann machen? "

    Walter Moosmair legt seinem Vater beruhigend die Hand auf den Arm. Er kennt diese Zeiten nicht, er wurde geboren als das zweite Autonomiestatut in Kraft trat, mit dem Italien den Südtirolern umfassende Autonomierechte zuerkannte.

    " Ich muss von meiner eigenen Erfahrung sagen, ich komm sehr gut mit den Italienern aus, das sind feine Leute. Deshalb ist auch gut, dass sich das eingependelt hat, der Hass hört langsam auf." "

    Für Walter kann alles so bleiben wie es heute ist. An den italienischen Pass hat er sich gewöhnt. Nur eines mag er nicht: die Vergangenheit vergessen. Da ist er sich einig mit seinem Vater.
    " Da sagen sie, das Alte muss man vergessen, ja das kannst nicht vergessen, was da so weh getan hat. "






    Noch aus Habsburger Zeiten hatten die Schützen als Truppe freier Bauern das Privileg, nur die Heimat zu verteidigen, nie für den Angriff antreten zu müssen. Unter Mussolini mussten sie ihre Waffen abgeben, seit den 60er Jahren gibt es sie wieder als 'Brauchtumsverbände', die auch heute noch ein Sammelbecken für all jene sind, die sich für die Rückkehr nach Österreich stark machen. Ihnen gilt - übrigens auf beiden Seiten der Grenze - noch immer Andreas Hofer als Freiheitsheld, der Anfang des 19. Jahrhunderts den Aufstand der Tiroler Bauern gegen Napoleon und dessen bayerische Verbündete geführt hatte.

    Am 20. Februar 1810 war er in Mantua hingerichtet worden; alljährlich an diesem Tag gedenken die Schützen seines Heimatortes St. Leonhard ihres berühmtesten Kommandanten mit einer Messe


    Die Schützen und ihr Freiheitsheld Andreas Hofer
    Die Kirche von Sankt Leonhard ist hell und einladend. Weißgetünchte Wände, die Kanzel mit pastellfarbenen Bildern aus dem Leben Jesu bemalt. Über dem Altar: ein Tuch in kräftigem Lila. Die vier Messdiener tragen einen Überwurf in der gleichen Farbe.

    Die Bänke sind voll besetzt. Im Korridor in der Mitte stehen in Zweierreihen die Schützen, Gewehr bei Fuß. Alte und junge Männer mit feierlichem Gesichtsausdruck. Sie tragen Tirolerhüte mit Hahnenfeder, Lodenjacken, und knielange Lederhosen zu weißen Strümpfen.

    Nach der Messe spielt vor der Kirche die Musikkapelle von Sankt Leonhard auf. Die Schützen haben rechts von der Kirche Aufstellung genommen. Nach verschiedenen patriotischen Liedern und der Rede des Bürgermeisters sind sie an der Reihe.

    " Hab acht, aufdecken. Kompanie rechts um, links um. Schultern. "

    Sie schultern ihre Gewehre.

    " In die Hand. "

    Sie nehmen sie wieder ab.

    " Laden. Und ab. "

    Eine Ehrensalve für Andreas Hofer. Mit Platzpatronen. Scharfe Munition erlaubt die italienische Regierung den Südtiroler Schützen nicht.

    " Kompanie, marschieren, marsch! "

    Hinter Schützenkompanie und Musikkapelle geht es durch Sankt Leonhard Richtung Schießstand. Vorbei am Vier-Sterne-Hotel Stroblhof, wo die Gäste der Wellness-Abteilung gerade Salzpeeling und Kräuterwickel-Behandlungen machen oder im Hallenbad planschen. Die Gedenkfeier für Andreas Hofer ist nicht für Touristen inszeniert, sie ist echt. Trotz Platzpatronen.

    " In den Gewehren ist der Lauf zugeschweißt, dass kein scharfer Schuss hineinpasst und auch nicht hinausgeht. Sonst hätten die Schützen keine Gewehre bekommen. Italien hätte ja nie Südtirol genehmigt, Gewehre zu äh richten, das käme ja, das wäre ja fast eine militärische Ausrichtung, gell? "

    Lorenz Hofer ist kein direkter Nachkomme von Andreas Hofer, trotzdem liegt ihm die Erinnerung an den rebellischen Hauptmann am Herzen. Lorenz Hofer ist jung, noch keine 30. Glattrasiertes Gesicht, braune Augen. Mit 15 ist er in die Schützenkompanie eingetreten.

    Am Schießstand gibt es für Schützen und Gäste einen Imbiss im Vereinshaus: eine Wurst mit Senf und Ketchup, ein Brötchen, Weißwein.

    Mit jedem Glas steigt die Stimmung. Als zwei Carabinieri hereintreten, bekommen sie sogleich Wein angeboten. Die beiden sind im Ort bekannt. Sie nehmen dankend an, lächeln, setzen sich aber nicht.

    Ich habe einen guten Eindruck von dieser Veranstaltung, das ist schon in Ordnung, sagt der Kleinere.

    Er stammt aus Kalabrien und tut seit drei Jahren hier Dienst. Sein Kollege ist Südtiroler. Einer der wenigen deutschsprachigen Carabinieri. Trotz des Proporzsystems, das der deutschen Volksgruppe eine feste Anzahl an allen öffentlichen Stellen garantiert, fehlen in den Tälern oft deutschsprachige Beamte.

    "Der Polizeidienst ist nicht lukrativ für uns Südtiroler. Und es wurde versäumt, die italienischen Polizisten in Deutsch zu schulen."

    Wolfram Klotz, von Kindesbeinen an bei den Schützen, wünscht sich ein unabhängiges Südtirol. Die Autonomie, die Südtirol inzwischen genießt, reicht ihm nicht.

    "Ich bin kein Italienerhasser, ich hass nicht den Italiener. Was ich nicht akzeptiere, dass uns Italien behandelt wie eine Kolonie. Wir wollen frei sein, die Italiener sollen uns die Möglichkeit endlich lassen, das zu machen, was wir wollen. Das ist ganz ein anderes Land, ein anderes Volk, eine andere Sprache und wir werden nie Italiener werden, net."

    Mit ruhigen, aber sehr bestimmten Worten erinnert er an die Unterdrückung der Südtiroler Kultur und Sprache, die unter dem italienischen Faschismus begann.

    "Italien hat sich für alles entschuldigt, aber nie, nie für die Gewalt, für die Leiden in Südtirol. Und das wird mit Recht von die Leute angeprangert. Und das ist das Erste, was wir fordern. Bevor das nicht ist, kann man über was anders wenig reden."




    In langwierigen, zähen Verhandlungen rangen die deutschsprachigen den Regierungen in Rom wesentliche Zugeständnisse ab. Sie setzten die Gleichberechtigung der deutschen Sprache durch; die offiziellen und halboffiziellen Jobs, ebenso die Sozialwohnungen, werden streng nach dem ethnischen Proporz verteilt. Das freut natürlich die Südtiroler deutscher Zunge, die jahrzehntelang von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wurden.

    Und es ängstigt die Italiener, die hier leben - besonders in Bozen, wo sie 70 Prozent der Einwohner ausmachen. Sie protestieren immer wieder gegen eine reale oder auch nur gefühlte Dominanz der deutschen Volksgruppe.


    Südtirol ist auch unser Land
    Wie junge Italiener den Konflikt beurteilen
    Stefano Colle trinkt seinen zweiten Espresso an diesem Morgen. Schwarz, mit einer hauchdünnen Cremeschicht aus aufgeschäumten Kaffee, so wie es in Italien üblich ist. Er führt die Bar Luciano, benannt nach seinem Vater, der in den 70er Jahren nach Bozen kam.

    " Meine Eltern sind nach Jahrzehnten wieder von hier weggezogen. Sie haben sich nie eingelebt. Ich bin hier geboren, meine Söhne leben hier, aber sie sind weggezogen nach 30 Jahren. "

    Ein Schulterzucken, ein schmerzliches Lächeln. So ist es eben.

    " Die Deutschen errichten bewusst eine Mauer, sie wollen mit uns nichts zu tun haben. "

    Die Deutschen, das sind für Stefano die Südtiroler aus Familien, die bereits vor der politischen Zugehörigkeit zu Italien hier lebten.

    " Wir haben uns daran gewöhnt. Heute macht niemand mehr deswegen Ärger, aber das Unwohlsein existiert. Damit müssen wir leben, oder eben weggehen. "

    Stefano Colle ist ein großer schlanker Mann in den Dreißigern. Er trägt Jeans und ein eng anliegendes Trikot. Um die Hüften hat er eine weiße Schürze geschlungen. Das Haar ist schulterlang, gekräuselt, aus dem Gesicht gegelt. Am Kinn: ein Ziegenbärtchen.

    " Was uns Italienern oft passiert ist folgendes: du gehst auf ein Amt und die zwei, die dort sitzen, reden auf deutsch, weil sie merken, dass du Italiener bist. "

    Die Sprache als Barriere. Wer in Südtirol aufwächst, geht entweder in eine deutsche oder eine italienische Schule, wo die jeweils andere Sprache einige Stunden die Woche als Fremdsprache unterrichtet wird. Bilingual wird man so nicht. Erst recht nicht, wenn man in einer einsprachigen Umgebung lebt.

    " Hier sind wir in einem Außenbezirk von Bozen, dem Viertel Don Bosco, in dem zu 80 Prozent italienische Muttersprachler leben. Die übrigen 20 Prozent sind aus der deutschen Sprachgruppe und aus außereuropäischen Ländern. "

    Andrea Vigni raucht vor der Bar eine Zigarette. Er frühstückt jeden Morgen in der Bar Luciano. Cappuccino und ein Marmeladencroissant - typisch italienisch So wie die meisten hier im Viertel geht er mit leerem Magen aus dem Haus. Die Bar ist die erste Anlaufstelle des Tages. Hier wird gefrühstückt, die Zeitung durchgeblättert und ein Schwätzchen gehalten.

    Grüne Augen hinter John-Lennon-Brille, Strickpullover, Turnschuhe. Andrea arbeitet im Jugendzentrum Villa delle rose nebenan. Er mag nicht gerne reden über das Verhältnis der beiden Volksgruppen.

    "Hier kommen wir auf ein Terrain, das mir nicht gefällt. Ich interessiere mich nicht für diese politischen Schaukämpfe, persönlich empfinde ich das "Unwohlsein der Italiener", von dem immer die Rede ist, nicht. "

    Ein Mann in Jeansjacke und Bikerstiefeln kommt an die Theke. Er heißt Riccardo, Stefano nennt ihn Ricky, ein Stammgast. Er ist in "Don Bosco" aufgewachsen und mag die persönliche Atmosphäre des Viertels.

    " Ich habe drei Jahre in der Altstadt gewohnt. Dann bin ich wieder hierher gezogen, weil mir das Zugehörigkeitsgefühl fehlte. "

    In der Altstadt leben mehr deutschsprachige Südtiroler und das sieht man. Es gibt mehr Fahrräder und mehr Zebrastreifen als hier in "Don Bosco". Das Viertel aus drei bis viergeschossigen Wohnblöcken wurde in den 30er Jahren hochgezogen, als Südtirol durch eine massive Zuwanderung aus ganz Italien italienisiert werden sollte.

    " Früher waren wir wie die israelischen Kolonien in Palästina, wirklich wahr, es gab auch viel Gewalt in den 60er Jahren. "

    Riccardo nimmt die italienischsprachige Lokalzeitung "Alto Adige" vom Tresen. Auf der ersten Seite: ein Foto von Landeshauptmann Luis Durnwalder.

    Rottweiler heißt er in Don Bosco. Er wird gefürchtet, aber auch als durchsetzungsfähig und engagiert gelobt.

    " Die Volkspartei bestimmt hier, wo es lang geht. "

    " Und denkt natürlich mehr an die deutsche Sprachgruppe als an die italienische. Das war schon immer so, bloß haben wir gelernt, damit zu leben. Es gibt aber auch viele, die das nicht vertragen und weggehen. "

    Eine Frau von Ende 20 kommt herein. Sie grüßt nur mit einem Kopfnicken und setzt sich an einen Tisch in der Nähe des Fernsehers. Es läuft canale 5, einer von Silvio Berlusconis Mediaset-Kanälen.

    " Ich spreche wenig, fast gar nicht deutsch, aber man kommt auch ohne Deutschkenntnisse klar. Warum muss ich deutsch lernen, wenn wir hier in Italien sind? "

    Francesca Ricci feuert einen trotzigen Blick ab. Ihre Eltern sind aus Kalabrien nach Südtirol eingewandert, studiert hat sie in Reggio Calabria. Weil sie dort keine angemessene Arbeit fand, ist sie vor vier Jahren zurück nach Bozen gekommen. Eher widerwillig.

    " Die Mentalität ist grundverschieden. Wenn Du hier Urlaub machst, merkst du das nicht so, aber wenn du hier lebst schon. Für mich ist es manchmal wie im Ausland und dann reg ich mich auf, weil ich mir sage: Wir sind hier in Italien! Warum muss ich mich an Vorschriften halten, die nicht unsere sind? "

    Stefano bringt einen extra starken Espresso und macht sich selbst auch einen. Den dritten an diesem Morgen. Riccardo legt die Zeitung weg und schaut auf die Uhr. In 10 Minuten muss er im Büro sein. Pünktlichkeit ist ihm wichtig.

    " Ich fühle mich nicht so ganz Italiener. Südtirol ist anders als der Rest Italiens.
    In manchen Dingen sind wir sogar ein bisschen deutsch geworden. "




    Rund 30.000 Italiener Sprechen Ladinisch , das zum rätoromanischen Sprachkreis gehört. Sie bilden eine der kleinsten als Minderheit anerkannten und geschützten Sprachfamilien Europas, sind jedoch - in den Tälern um die mächtige Sellagruppe - auf drei Provinzen verstreut. Während ihre Kultur in der Region Trentino/Südtirol gefördert wird, existiert sie in Venetien nur am Rande. Nun haben sich die Ladiner von Cortina d'Ampezzo und zwei weiteren kleinen Gemeinden in mehreren Referenden dafür ausgesprochen, den Südtirolern zugeschlagen zu werden - ein nicht ganz uneigennütziger Wunsch. Denn die dortige Autonomie garantiert faktisch die Steuerhoheit: 90 Prozent der von Rom kassierten Abgaben fließen wieder nach Bozen zurück.

    In Südtirol leben die Ladiner im Gebiet um Gröden, wo die beeindruckende Landschaft und vorzügliche Skibedingungen im Winter den Tourismus boomen lassen. Zudem genießen die Ladiner - im Unterschied zu den beiden anderen Sprachgruppen - den Vorteil, dass ihre Schulen bilingual geführt werden: die eine Hälfte der Fächer wird auf deutsch, die andere auf italienisch unterrichtet. Zusätzlich gibt es Ladinisch-Stunden, vor allem, um das Schriftliche zu üben. Das Mündliche pflegen sie ohnehin in den Familien, wie bei den Schenks, die in über 2 000 Meter Höhe ein Wintersporthotel betreiben.




    Benvenuto und Herzlich Willkommen:
    Wie eine ladinische Hoteliersfamilie sich mit Italienern und Deutschen arrangiert
    Ein Uhr mittags in der Küche des Hotelrestaurants "Colraiser". Hochbetrieb. Auf dem riesigen Herd in der Mitte brodeln verschiedene Suppen, Fleischragout, Gulasch, daneben Pfannen mit Bratkartoffeln und Speck. Drei Männer und eine Frau kochen Nudeln, braten Spiegeleier und machen Kaiserschmarrn.

    " Die Leute sind schon zufrieden, wenn viele Leute kommen, das heißt, die Leute sind zufrieden. Die schönsten Spezialitäten sind von unsere Chefin, sie hat uns alles gelernt. Wir mussten so kochen wie sie sagt. "

    Die Chefin - das ist Rita Schenk. Schlank, hübsch, dezent geschminkt. Unter ihrer Kochmütze schauen blonde Fransen hervor. Trotz der Hektik hat sie alles im Griff.

    " "Eine Mischung zwischen Traditionsküche und italienischer Einfluss, also das kann man nicht weglassen. Wir sind in Italien und die Nudelgerichte dürfen nicht fehlen."

    Dabei ist es gar nicht einfach, die Nudeln bissfest, al dente hinzubekommen. "Colraiser" liegt 2100 Meter über dem Meeresspiegel, erreichbar nur mit dem Skilift. Das Wasser kocht in dieser Höhe schon bei 85 Grad.

    " Ich habe angefangen mit traditionellen Gerichten nur dann mit den Jahren hab ich gesehen, na das reicht hier nicht aus, ich muss da schon was Neues rein bringen, da hab ich sehr viel Italienisches reingebracht und natürlich Internationale Gerichte dürfen nicht fehlen. "

    Viel Zeit zu reden hat Rita Schenk jetzt nicht. Ohne Pause laufen die Bestellungen ein. Ihr Mann Hans Schenk steht an der Bar und hat genauso viel zu tun.

    Problemlos schaltet er von deutsch auf italienisch, von italienisch auf deutsch.

    " Wir haben viele italienische Gäste, heutzutage auch viele vom Ostblock, dominant sind die deutschen Gäste, schon immer. Der deutsche Gast ist nach wie vor ein sehr, sehr guter Gast. Er ist natürlich ein bisschen anders wie der italienische Gast. Der italienische Gast ist auch ein guter Gast. Es ist viel schwieriger beim Mittagessen es so zumachen, dass er ja zufrieden ist. Die haben sehr, sehr hohe Ansprüche, was das "mangiare" anbelangt. "

    Italienische Wörter schleichen sich immer wieder ein, auch wenn Hans Schenk deutsch spricht. Seine Muttersprache ist ladinisch, mit der Familie spricht er nur ladinisch.


    Zum Beispiel in der kurzen Verschnaufpause um drei, wenn seine Frau aus der Küche kommt.

    Dann setzt sich auch Luis, mit 18 Jahren der älteste Sohn, dazu. Rita Schenk hat die Kochmütze abgelegt. Sie rührt in einem Glas Tee.

    " Mein Großvater mochte die Italiener nicht, aber da ließ ich mich nicht beeinflussen. Tutto il mondo è paese letztendlich. Wir sind alle gleich, alle ham wir die gleichen esigenze, ähm, die gleichen Bedürfnisse, die gleichen Emotionen. Mensch ist Mensch. "

    Rita Schenk kann das Misstrauen zwischen der deutschen und der italienischen Volksgruppe nicht nachempfinden.

    " Da sind wir Grödener anders. Das sehen wir nicht so. Da differenzieren wir uns und heben uns ein bisschen ab von Südtirol. Wir haben dieses Ladinische. Ein Italiener kann uns ein bisschen verstehen, ein Deutscher kann uns ein bisschen verstehen und da sind wir so mitten drin und das ist gut so. Wir akzeptieren jeden und haben damit keine Probleme. "

    Als kleinste Volksgruppe in Südtirol pflegen die Ladiner ihre Sprache und Kultur besonders intensiv. Luis Schenk, mit 18 Jahren steht er kurz vor dem Abitur, kennt sich aus in der Geschichte seiner Heimat.

    " Bei uns legen sie sehr viel Wert auf die Geschichte. Sie möchten, dass wir uns eben bewusst sind, von wo wir abstammen und uns unserer Vergangenheit bewusst sind, dass wir auch schwierige Zeiten durchmachen mussten." "

    Hans Schenk: " Das ist ein vergangenes bisschen trauriges Thema und wir hoffen, es kommt nie mehr wieder. "

    Rita Schenk: " Der Rest von Italien ist über uns nicht gut informiert. Wir sind sozusagen die Deutschen. Betrachten sie uns überhaupt als Italiener? Das müsste man mal fragen. Ich betrachte mich schon als Italienerin. Wir waren unter Österreich, muss man auch sagen, wir sind noch nicht lange Italiener. "

    Die Sonnenterrasse des Hotelrestaurants ist jetzt voll besetzt und Apfelstrudel sowie Linzer Torte finden reißenden Absatz. Von der Bar schickt Mitarbeiterin Carina flehende Blicke. Sie kommt mit dem Kaffeekochen kaum nach. Hans Schenk nimmt seinen Platz hinter der Theke wieder ein. Rita Schenk schreibt eine Liste mit Lebensmitteln, die in der Küche benötigt werden. In der Wintersaison dreht sich hier alles um die Gäste.




    In Südtirol treibt das Vereinswesen üppige Blüten: Ob Musikkapellen, Chöre, Sportvereine, Theatergruppen, Schützenkompanien und Freiwillige Feuerwehren - Gemeinschaft wird gepflegt - wenn auch vorzugsweise in der jeweils eigenen Sprachgruppe. Das ist politisch so gewollt, die Kulturdezernate vergeben öffentliche Gelder dementsprechend.

    Menschen hingegen, die die Sprachentrennung überwinden wollen und sich für derartige Projekte engagieren, haben mit mehr Bürokratie zu kämpfen. Wie beispielsweise der Theaterverein 'Theatraki' in Bozen, in dem sich deutsch- und italienischsprachige Schauspieler und Theaterpädagogen zusammengeschlossen haben . 'Theatraki' bereitet die Themen Integration und Ausgrenzung für die Bühne auf, arbeitet mit sozial benachteiligten Jugendlichen und bringt gemischtsprachige Projekte in die Schulen.



    Mehr miteinander ist möglich
    Die Arbeit des Theatervereins "Theatraki" in Bozen
    Eine italienische Grundschule in Bozen. 15 Kinder zwischen acht und neun Jahren stehen im Kreis und üben das "pf" aus Pfanne, Pfeife, Pferd.

    Das klingt wie eine kleine Explosion, sagt der Theaterpädagoge und Schauspieler Graziano Hueller, ein Mann mit flinken Bewegungen und einem braunen Wuschelkopf. Immer, wenn der entscheidende Laut, das "pf" kommt, geht er in die Knie als entweiche ihm die Luft. Die Kinder finden das lustig und machen es ihm mit Freude nach.

    " Das sind Übungen aus der Sprachgestaltung. Die machen sie eben, damit sie locker werden und damit sie den Klang genießen. Und mit der Bewegung verbunden lernen das Kinder schneller. Drehen oder so. Wenn du es mit einer Bewegung verbindest, hast du es besser in Erinnerung. "

    Franca Maghetto hält sich heute im Hintergrund. Sie ist Ladinerin, dreisprachig aufgewachsen und Mitglied des Theatervereins Theatraki.

    " Diese Übungen lockern den Körper auf und wenn der Körper locker ist geht's leichter. "

    " Diese Laute gibt es nicht in der italienischen Sprache und für diese Kinder ist das oft die einzige Möglichkeit, deutsch so spielerisch zu hören. Sie leben meistens in einer sehr einsprachigen Umgebung. "

    Und das in Bozen, wo jede Straße, wo jedes Schild zweisprachig ist.

    " Was war schwitzen, ja, nein, Stopp, wiederholen, schwitzen "

    Jetzt ruft Graziano Verben und die Kinder reagieren mit den entsprechenden Gesten.

    " Zeigen, haben wir mindestens drei Mal gehabt, bravo, gut, zeigen. Stopp, suchen. "

    Nun krabbeln alle auf dem Boden herum. So einfach kann Vokabeltraining sein.
    Ein Paradebeispiel für modernen, effizienten Sprachunterricht. Bloß gehört diese Unterrichtsstunde gar nicht zum regulären Lehrplan, sondern zu einem Projekt, dass "Theatraki" an verschiedenen Schulen in Bozen durchführt.

    " Es ist schade, dass so wenige Vereine gibt, wo Sprachen oft gemischt werden, man müsste mehr auch politisch solche Sachen auch fordern. Wir könnten viel mehr vorwärts sein, aber wir haben viel zu wenige Schritte gemacht. "

    Graziano Hueller ist in Südtirol aufgewachsen, sein flüssiges Deutsch hat er allerdings während seiner Ausbildung in Deutschland gelernt.

    " Ich habe deutsch gehabt wie sie jetzt haben, aber damals vor 30 Jahren, wir hatten weniger Stunden, es war nicht so wichtig , weil es war der Anfang von diese ganze Autonomie und die Italiener wussten nicht, dass so wichtig wird und man hatte keine Lust mit diese neue Gesetze und Proporz und so weiter. In 10 Jahre Schule habe ich ganz wenig deutsch gelernt. "

    Deshalb arbeitet der Theaterpädagoge so gerne mit Grundschülern. Sie sind offen, neugierig und frei von Vorurteilen.

    " Und ich finde, dass wenn wir Europa, also die zukünftige europäische Bürger werden und sein, sind noch zu viele Bremsen, um diese europäische Mensch entstehen zu lassen. Und die Zeit sind doch reif. Weil wir brauchen das. Es sind immer kleine Situationen aber italienische Kinder, die werden Faschisten, sind solche Sachen sind da, ganz klein glücklicherweise aber die müssen endlich verschwinden und ich verstehe nicht, wieso nicht dazu kommen kann. "

    Graziano schüttelt den Kopf. Die Trennung zwischen den Sprachgruppen gehört seiner Meinung nach aufgehoben.

    " "Wir brauchen eine gemischte Schule. Dass wir zusammen sind mit deutschsprachige Südtiroler. "

    Zum Schluss der Stunde holt Graziano seine Blockflöte hervor. Im Schneidersitz hocken die Kinder auf dem Boden und singen. Ihre Augen leuchten. Sie haben Spaß an dem Klang der deutschen Sprache. Und vielleicht später im Leben weniger Schwierigkeiten im zweisprachigen Südtirol.


    Literatur
    Joseph Zoderer: Die Walsche. Carl Hanser Verlag München Wien
    1982