Nell Zinks "Das Hohe Lied" spielt im New York der 1990er und 2000er Jahre. Daniel kommt mit achthundert Dollar in die Stadt, um eine Sieben-Zoll-Single herauszubringen, die ihn berühmt machen soll. Als Musikproduzent und Labelchef. Teenagerin Pamela verschlägt es ebenfalls in die Metropole. Noch vor Ende des letzten Schuljahres stiehlt sie sich aus ihrem christlich-konservativen Elternhaus in Washington, tauscht den Videorecorder des Vaters gegen siebzig Dollar, um sich ein Busticket nach New York leisten zu können, wo sie Künstlerin werden will. Ihr erstes Projekt: eine Punkband namens The Diaphragms.
Daniel und Pam treffen einander bei Joe, einem gemeinsamen Bekannten, von dem es heißt, er leide unter dem Williams-Syndrom – dabei gibt Autorin Nell Zink sich Mühe, ihn alles andere als leidend darzustellen. Er mag etwas leichtgläubig sein, mathematisches Denken ist nicht seine Stärke, aber er ist musikalisch hochbegabt und irgendwie immer gut drauf und unter Menschen. Er ist es auch, der Daniel und Pam einen enthusiastischen Vorschlag macht:
"Lasst uns eine Band gründen! Wir heißen Marmalade Sky. Ich am Bass, Pam an der Gitarre und du am Keyboard. Alle singen. Wir haben dreistimmige Harmonien. Wir proben bei dir zu Hause. Ich schreibe die Songs. Prepare to rock!"
Familien- statt Bandgründung
Doch es kommt anders, denn bald schon sind Daniel und Pam ein Paar und statt einer Band gründen sie Familie. Schwanger mit Tochter Flora will Pam nicht mehr auftreten, und während Floras Eltern sich nach der Geburt mit Gelegenheitsjobs durchschlagen müssen, fungiert Joe als Floras Babysitter – bevor er dann doch noch Rockstar wird.
Für manch einen Roman könnte diese Zusammenfassung als Lektüreschlüssel dienen, hier aber bewegen wir uns noch immer im ersten Sechstel der Handlung. Wer Zink kennt, der weiß, wie virtuos sie den Quotienten aus Erzählzeit und erzählter Zeit zu variieren vermag, wie sie ganze Familiengeschichten mit wenigen, kunstvoll gesetzten Strichen anzudeuten weiß, die Lesenden dabei auch hin und wieder lustvoll und zugleich zynisch auf falsche Fährten lockt, indem etwa Daniels einbeinigem, epilepsiekrankem, somalischem Adoptivbruder genau eineinhalb Sätze gewidmet werden, nur um ihn anschließend nie wieder zu erwähnen. Wichtiger erscheint Zink die exakte Positionierung ihrer Hauptfiguren in der subkulturellen Abgrenzungsmechanik. Über Daniel erfahren wir etwa, was ein Eighties-Hipster ist.
"Der Eighties-Hipster hatte nichts mit dem bärtigen und verweichlichten Konsumjunkie gemein, der im neuen Jahrhundert als 'Hipster' bekannt wurde. […] Er war ein Nebenprodukt des kurzen, schillernden Augenblicks der amerikanischen Geschichte, als die Arbeiterklasse kostenlos Geisteswissenschaften studieren konnte. Nach vier Jahren am Fuß des Elfenbeinturmes, wo er Krumen obsoleter Theorie aufschnappte, stieg er wieder hinab, um sich erneut der Welt des Motorsports mit freiliegenden Rädern und des Jell-O-Salats zuzuwenden, der er entstammte. […] Nach außen hin, seinem Kleidungsstil und Auftreten nach, wirkte der Eighties-Hipster angepasst. Der Mod, der Glamrocker, der Rockabilly, der Punk, selbst der Prep riskierte den Zorn der Homophoben und trotzte ihm, doch der Eighties-Hipster konnte noch im hintersten Winkel der Ozarks ein Bier bestellen."
Eltern gescheiterte Rockstars, Tochter Klima-Aktivistin
Es gibt Dialoge zwischen Daniel, Pam und Joe, die so angefüllt sind mit Titeln aus der Fanzine-Szene, mit Bandnamen und Insider-Witzen, dass man entweder das Buch weglegt und zu googeln beginnt, oder sie einfach überliest und wartet, bis der Erzählfluss sich wieder mit anderem als popkulturellen Referenzen beschäftigt. Und das tut er: Joes haarsträubende Karriere als Rockstar, die Katastrophe des 11. September, der Schock und die Trauer über Joes plötzlichen Tod, auch Pams vorsichtige Wiederannäherung an ihre Eltern, all das sind starke Momente in Zinks neuem Roman, den man unumwunden empfehlen könnte, würde er nur enden, nachdem Joes Nachruhm in Form eines posthum veröffentlichten "Acht-CD-Erinnerungs-Box-Sets" gesichert ist.
Doch Zink nimmt diese Zäsur zum Anlass, Floras Werdegang ins Visier zu nehmen, der eher dröge changiert zwischen politaktivistischem Karrierismus und mehr und mehr ins Zynische kippendem Öko-Idealismus. Spätestens als Flora sich als Wahlkampfhelferin für die Grüne Präsidentschaftskandidatin Jill Stein zu engagieren beginnt und sich in einen demokratischen PR-Berater verliebt, erlahmt Zinks sonst so konziser und pointierter Erzählton in ein seltsam uninspiriertes Nacherzählen parteipolitischer Diskurse.
"Toll. Die Grünen kriegen die Gutmenschen, Bernie schnappt sich die Jugend und alle, die einen Job wollen, und die Demokraten kriegen die Lahmen, die Blinden, die Leprakranken und die alleinerziehenden Mütter." / "Wer sollen denn die ‚Leprakranken‘ sein?" Sie schenkte sich Wein nach. / "Das wissen nur die Leprakranken selbst", sagte Bull. "Hillary hat sich sogar an die illegalen Einwanderer rangeschmissen, die mächtigste Wählergruppe von allen, Gott steh uns bei."
Wer solcherlei Schlagabtausch spannend findet, mag auch die übrigen zweihundertfünfzig Seiten noch goutieren. An die erste Romanhälfte kommen sie aber nicht mehr heran, wie auch "Das Hohe Lied" im Ganzen nicht mehr die Intensität besitzt, die man etwa von Zinks Erstling "Der Mauerläufer" kennt. Schade.
Nell Zink: "Das Hohe Lied"
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler
Rowohlt Berlag, Hamburg, 512 Seiten, 25 Euro
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler
Rowohlt Berlag, Hamburg, 512 Seiten, 25 Euro