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Nell Zink: "Nikotin"
Protestraucher und Schuppenmonster

Nell Zinks Roman "Nikotin" ist eine Geschichte über ein besetztes Haus, eine junge Frau mit einer ungewöhnlichen Familiengeschichte und das gespaltene Heimatland der Autorin: die USA. Das Rauchen wird dabei zu einem subversiven Akt.

Von Ralph Gerstenberg |
    Buchcover: Nell Zink: "Nikotin"
    Buchcover: Nell Zink: "Nikotin" (Buchcover: Rowohlt Verlag, Foto: dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Penny hat ihren Vater Norm beim Sterben begleitet. Weder ihre Halbbrüder noch ihre Mutter waren dabei, als in dem christlichen Krankenhaus der "Hospizmodus" eingeleitet und dem Sterbenden Schmerzmittel verwehrt wurden, weil diese seine Leber schädigen und seinen Tod beschleunigen könnten. Nur Penny, die gerade Ihren Collageabschluss gemacht hat, erlebte die Verzweiflung und Ohnmacht ihres nichtchristlichen Vaters, der dazu verdammt war, auf streng christliche und vor allem amerikanisch-gesunde Weise zu sterben: drogenfrei, langsam und qualvoll.
    "Penny ist zutiefst aufgewühlt und verzweifelt. Norm hat eine Welt erschaffen, in der sie einst gelebt hat, hat Wort für Wort definiert. Aber sein Wort, das einst Gesetz war, muss sich nun einem höheren Gesetz beugen. Er ist so schwach, dass schon eine Fliege, die sich auf seiner Nase niederließe, Ausdruck eines höheren Gesetzes wäre. Er könnte sie nicht totschlagen. Er und Penny sind Teil einer Welt, die nicht die ihre ist."
    Polyamourös und asexuell
    Nach Norms Tod muss Penny eine neue Bleibe und einen Job finden. Die Welt, die nicht die ihre ist, fordert ihren Tribut. Um einen Einstieg in die eigene Selbständigkeit zu finden, soll sich die junge Frau zunächst um ein Familienerbstück kümmern, das marode Elternhaus ihres Vaters in Jersey City. Als sie dort zur Besichtigung eintrifft, liest sie den Schriftzug "Nicotine" neben der Eingangstür und lernt eine Gruppe von Hausbesetzern kennen, die sich hier eingenistet hat - politische Aktivisten, die vor allem ein Laster verbindet, das sie für einen subversiven Akt halten: der Tabakkonsum.
    "‘Also die Idee hinter diesem Haus‘, sagt Sorry. ‚Du weißt ja, in dieser Gesellschaft stehen wir Raucher noch eine Stufe tiefer als Meth-User. Sagen wir, du spritzt dir Heroin in einer Flugzeugtoilette. Was passiert?‘
    ‚Nichts?‘, spekuliert Penny.
    ‚Und wenn du eine rauchst?‘
    ‚Luftsheriffs?‘
    ‚Standrechtliche Erschießung!‘, sagt Sorry ‚Die Leute sind am Arsch von illegalen Rauschmitteln oder Drogen auf Rezept – was immer du willst -, und niemand kümmert’s. Aber rauch eine und schon bist du bei allen auf der schwarzen Liste.‘"
    Mit viel Humor und Lust an der Zuspitzung beschreibt Nell Zink in ihrem Roman "Nikotin" das andere Amerika, das der mietfrei wohnenden Konsumverweigerer, der männlichen und weiblichen FeministInnen, der Blogger, Veganer, Kiffer und Protestierer. Penny fühlt sich pudelwohl in der subkulturellen Nikotingemeinschaft, versteht sich mit der latent manischen Jordanierin Sorry ebenso wie mit Jazz, einer polyamourösen Dichterin und Straßenkämpferin. Einziger Wehrmutstropfen: der attraktive Fahrradaktivist Rob, der Pennys Begehren entfacht, ist überzeugt asexuell. Doch Penny spürt eine starke Zugehörigkeit zu diesen abgedrehten Outsidern und Weltverbesserern, sucht sich eine Wohnung in einer Nachbarkommune und ist fest entschlossen, das Nicotine vor den Verkaufsabsichten ihrer Familie zu bewahren. Konflikte mit ihrer geschäftstüchtigen Mutter Amalia sind dadurch vorprogrammiert.
    "‘Du solltest das Haus in meinem Auftrag so weit herrichten, dass man es verkaufen kann (...) Wieviel verliere ich durch deine Wohltätigkeit? Dreitausend Dollar im Monat?‘
    ‚Sei nicht geschmacklos.‘
    ‚O Gott, wie redest du mit deiner Mutter? Ich werde zusehen, dass dein Bruder sich um das Problem kümmert. Geh ja nicht wieder in mein Haus. Halte dich bloß fern davon.‘
    ‚Wieso dein Haus? Es ist Dads Haus. Es ist Teil des Nachlasses. Du hast ihn nur geheiratet, und ich bin seine Tochter. Sein eigen Fleisch und Blut.‘"
    Komplizierte Familienverhältnisse
    Doch die Familienverhältnisse, die Nell Zink hier beschreibt, sind komplizierter als Penny zunächst ahnt. Ihre Mutter Amalia ist eine Kogi, eine kolumbianische Ureinwohnerin, die Pennys Vater, als sie dreizehn Jahre alt war, von einer Müllhalde aufgelesen hat. Sie ist jünger als Pennys Halbbruder Matt, der ebenfalls als Pennys Erzeuger infrage kommt, denn Amalia ist seit ihrem 16. Lebensjahr in Matt verliebt. Matt hingegen, ein profitorientierter Macho, dessen Gefühle sich in aggressivem Sex, Wut- und Gewaltausbrüchen offenbaren, fängt etwas mit der aparten Kommunardin Jazz an. Wie bereits in dem Vorgängerroman "Der Mauerläufer" zeigt sich auch in "Nikotin" Nell Zinks Vorliebe für extravagante und durchaus komische Sexarrangements.
    "Er liegt rücklings auf dem Sofa und trägt seinen blauen Morphsuit, das 3-D-Headset und ein blaues Kondom. Der aufgeklappte Laptop auf dem Beistelltisch ist auf seinen Schritt gerichtet (...) Sie (...) zieht Matt - ohne zu zögern und ohne dass er sich wehrt - das Headset vom Kopf und setzt es sich auf. Sie sieht sich rittlings auf einem schwarzen, schuppigen Monster sitzen. Die seltsame Perspektive bringt sie aus der Balance. Sie steigt kurz ab und legt so die mit grausamen Widerhaken versehene Spitze eines riesigen Penis bloß. ‚Was bist du?‘, fragt sie. ‚Priapus das Schuppentier?‘"
    Nell Zink beschreibt in ihrem Roman auch die Korrumpierbarkeit von Gegenbewegungen, deren Lifestyle und Gedankengut problemlos in Gentrifizierungsprozesse integriert werden können. Nachdem das Nicotine durch die Besetzer unbewohnbar geworden ist, eröffnet Matt es neu: mit alternativem Buchladen und Espressobar. Wer tut also mehr für die Gesellschaft, die Kaputtbesetzer oder der Kapitalist? Zink zeigt die Widersprüchlichkeit des egomanischen Luxussanierers ebenso wie die der Aktivisten, die sich in Scheindebatten und Grabenkämpfen aufreiben und am Ende Cappuccino mit Sojamilch an Touristen verkaufen. Nell Zinks Figuren sind nie eindimensional, ihre Dialoge wirken lebensecht und überraschen durch Gedankensprünge und Assoziationen. Die Vergeblichkeit von Protesten, die selbstzerstörerische Manie der Sinnsuchenden, die bröckelnde Solidarität unter Gleichgesinnten, die Flucht ins kleine Glück, der unaufhaltsame Siegeszug des Kapitals: viele traurige Themen, über die Nell Zink einen sehr guten und ziemlich lustigen Roman geschrieben hat.
    Nell Zink: "Nikotin"
    aus dem amerikanischen Englisch von Michael Kellner
    Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. 400 Seiten, 22,95 Euro.