Christine Heuer: Nelson Mandela ist 95 Jahre alt geworden, schon lange wurde mit seinem baldigen Ableben gerechnet. Im Sommer sah es schon einmal sehr schlecht aus, Nelson Mandelas Gesundheitszustand hatte sich da massiv verschlechtert. Nun ist es also wirklich passiert: Der Mann, der Südafrika aus der Apartheid geführt hat und den die ganze Welt als Freiheitsikone verehrt, ist gestern Abend in seinem Haus in einem Vorort von Johannesburg gestorben.
Am Telefon ist der Politikwissenschaftler von der Uni Regensburg, Stephan Bierling. Er hat in Südafrika gelebt, als Nelson Mandela dort Präsident war, und er hat eine Biografie über Nelson Mandela geschrieben, die hat den gleichen Namen wie der Freiheitskämpfer. Guten Tag, Herr Bierling.
Stephan Bierling: Ich grüße Sie, Frau Heuer.
Heuer: Sie haben ein ganzes Buch über Nelson Mandela geschrieben. Wenn Sie es deutlich kürzer machen müssen, nämlich jetzt, was für ein Mann war Mandela?
Bierling: Nun, wenn man auf einen Begriff diese Person verdichten kann, dann ist es die Lichtgestalt Afrikas. Er ist der größte Politiker, den dieser Kontinent je produziert hat, und er ist eine der mit Mahatma Gandhi wahrscheinlich zentralen Figuren des 20. Jahrhunderts.
Heuer: Welche Eigenschaften vor allem hatte der Mensch Nelson Mandela?
Bierling: Als Mensch war er durchaus zwiespältig. Er hat sein ganzes Leben diesem Kampf gegen die Apartheid gewidmet und da musste alles zurückstehen. Da musste die Familie zurückstehen, da mussten die Kinder zurückstehen, das hat er immer sehr deutlich gemacht und deshalb hat er es auch mit seiner Familie nie ganz einfach gehabt. Die Kinder sind ihm ziemlich fremd geworden. Als er am Todesbett seines Sohnes stand, hat er nicht mal die Hand nehmen können, und es gibt immer wieder Berichte, dass er mit der Haushälterin und dem Fahrer intimere, persönlichere Gespräche geführt hat als mit den Mitgliedern seiner Familie.
Heuer: Also ein Politiker durch und durch. – Sie haben Mahatma Gandhi als Vergleichsgröße genannt. Was macht denn dann Nelson Mandela weltweit zur Ikone?
Bierling: Es ist, dass er in einer epochalen Situation die richtige Entscheidung trifft und dass er sich dafür im Grunde über viele Jahrzehnte im Gefängnis vorbereitet hat, nämlich die Hand auszustrecken, als seine Stunde kommt, um eine multirassische, friedliche Gesellschaft, eine Regenbogennation in Südafrika zu begründen, und eben nicht das tut, was man von so vielen dieser Freiheitskämpfer erwartet hat und auch gesehen hat, nämlich zu einem neuen Unterdrücker zu werden der herrschenden Minderheit, mit den Weißen. Diese Versöhnungsbotschaft ist das, was sein ganzes Leben auszeichnet und überstrahlt.
Ein Mann mit eiserner Disziplin
Heuer: Wie übersteht ein solcher Mann 27 Jahre in Haft? Das war fast ein Drittel seines Lebens.
Bierling: Durch Disziplin, eiserne Disziplin. Die hat er gelernt in den weißen Missionsschulen Südafrikas, die zum Teil von den Briten noch betrieben wurden. Dort war er schon in ganz jungen Jahren aufgefallen als ein großes Talent, als ein Sprecher, als eine Führungsfigur, als jemand, der intelligent war. Aber er hat sich eiserne Disziplin angewöhnt in seinem Lebensstil, in seinem Tagesablauf, in seinem Rhythmus - beim Sport sieht man das zum Beispiel auch -, und nur so konnte er diesen doch gerade am Anfang in Robben Island völlig zermürbenden Alltag überstehen und innerlich reifen und sich von einem Hitzkopf, so ist er ins Gefängnis gegangen, zu diesem abgeklärten, klugen, strategisch denkenden Politiker entwickeln.
Heuer: Wie ist es ihm gelungen, nach dieser langen Zeit von Robben Island – Sie haben das erwähnt, das ist die berüchtigte Gefängnisinsel -, wie ist es Nelson Mandela gelungen, freizukommen?
Bierling: Nun, die Apartheid-Regierung hat schon in den 80er-Jahren gemerkt, welches Pfund sie in Mandela hätte, wenn sie mit ihm in Verhandlungen treten könnten. Er ist ja 1962/63 eingesperrt worden, weggesperrt worden, vergessen worden, aber in den 70er- und in den 80er-Jahren drohte Südafrika zu explodieren. Der Kampf wurde immer gewalttätiger zwischen Weiß und Schwarz, es gab Terrorattacken, und irgendwann erkannte die weiße Regierung, dass sie vielleicht doch zurückgreifen müsse auf diesen Mann, der ihnen in den 50er-Jahren angeboten hatte einen friedlichen Übergang, eine Demokratie, ein multirassisches Südafrika. Damals hat man es brüsk abgelehnt, jetzt merkte man, vielleicht ist das die einzige Figur, die den Bürgerkrieg verhindern kann.
Heuer: Beide Seiten hatten etwas davon. – Hat denn der Westen, hat Deutschland Mandela in seinem Freiheitskampf genug unterstützt, Herr Bierling?
Bierling: Das kommt auf die Zeit an, auf die Sie eingehen.
Heuer: Reden wir über 70er-, 80er-Jahre, reden wir über Schwarz-Gelb.
Bierling: In den 60er-, 70er-Jahren war Mandela eigentlich kein großes Thema. In den 80er-Jahren führt ihn der ANC dann als seine wichtige Figur in den Kampf gegen die Apartheid ein. Dort wird er auf einmal auch im Westen zur großen Zelebrität. Die schwarz-gelbe Regierung hat dann zwar in den Kalten-Kriegs-Tagen eine gewisse Distanz gehalten, weil Südafrika war im letzten ein Verbündeter gegen kommunistische Infiltration in Afrika und hat sich so immer dargestellt. Aber schon ab, ich würde sagen, der Gorbatschow-Phase gab es eine große Öffnung, und da hat man dann auch in Deutschland, in den USA vor allem auch, Mandela als diese neue Befreiungsfigur im Grunde schon hochstilisiert.
"Die Regenbogennation ist unter Mandelas Nachfolgern in Misskredit geraten"
Heuer: Hat Mandela eigentlich bedauert, dass dann die Unterstützung von uns, sage ich jetzt mal, doch relativ spät gekommen ist?
Bierling: Er hat darüber nie öffentlich gesprochen. Das spielte keine so große Rolle. Er hat sehr schnell sich nicht mehr in der Vergangenheit aufgehalten, auch das eine große Gabe, sondern sofort nach seiner Freilassung große Reisen gemacht, auch nach Großbritannien. Margaret Thatcher war ja eine der Figuren, die dem Apartheid-Regime am längsten die Stange gehalten hat. Aber das hat er sehr schnell hinter sich gelassen. Er wusste, wie wichtig der Westen ökonomisch ist, politisch ist. Vor allem in den USA hat er überaus reüssiert, eine enge Freundschaft zu Clinton entwickelt, der amerikanische Kongress hat ihn als erst zweiten Privatmann in der Geschichte überhaupt vor dem gesamten Haus sprechen lassen. Das heißt, er wurde auch hier hofiert, umgarnt, er wurde schon in den frühen 90er-Jahren als historische, moralische Instanz erkannt, in dessen Licht sich auch jeder westliche Politiker sehr gern sonnen würde.
Heuer: Ist Südafrika heute ein demokratischer, antirassistischer Staat?
Bierling: Nein. So eindeutig würde ich es nicht sagen. Diese Hinterlassenschaft von Mandela hat durchaus Eintrübungen erfahren. Vor allem sein Nachfolger Mbeki hat im Grunde mit Abstrichen Rassismus von der anderen Seite praktiziert, hat sehr stark auf das schwarze Vermächtnis des südafrikanischen Staates gebaut, und das ist es eben nicht. Es ist auch ein weißes Vermächtnis der Buren, es ist auch ein Vermächtnis der Farbigen, der Ureinwohner, die auch vor den Schwarzen dort waren. Das ist sehr stark untergegangen und insofern ist diese Regenbogennation, von der Mandela immer wieder geträumt hat, unter seinen Nachfolgern doch in Misskredit geraten.
Heuer: In der Tat: Wir erleben ja auch immer mal wieder Szenen, dass schwarze Polizisten auf schwarze Mienenarbeiter schießen in Südafrika, der ANC gilt als korrupt. Verspielt Mandelas Partei sein Erbe?
Bierling: Zu einem Gutteil ja. Ohne Mandela ist der ANC im Grunde eine weitere revolutionäre Partei, die aber nach der Machtübernahme durch Misswirtschaft und Korruption aufgefallen ist und auch im letzten durch die Bereicherung der gut ausgebildeten ehemaligen höhergestellten ANC-Mitglieder. Deshalb hat man Mandela ja auch immer wieder zu instrumentalisieren versucht. Erst dieses Frühjahr hat man den todkranken Mandela noch einmal öffentlich zur Schau gestellt, im Grunde wie ein Tier im Zoo, hat ein Kritiker gesagt, wo sich Präsident Zuma noch einmal ablichten lassen wollte, weil natürlich die gesamte ANC-Führung weiß, ohne Mandela sind sie im Grunde nicht mal mehr die Hälfte wert. Aber der ANC war natürlich erfolgreich, das Erbe Mandelas nur auf die eigene Partei zu beziehen, obwohl in Südafrika ja zur Apartheid-Zeit der Widerstand sehr viel breiter war, auch in der schwarzen Gemeinde, und es auch sehr viele weiße Oppositionelle zur Apartheid-Regierung gab.
"Früher glaubten viele, ihn instrumentalisieren zu können"
Heuer: Herr Bierling, jetzt würde mich zum Schluss noch interessieren: Sie haben gesagt, es ist versucht worden, Nelson Mandela zu instrumentalisieren. Wie hat er selbst das denn wahrgenommen? Hat er es noch wahrgenommen?
Bierling: In den letzten Jahren kaum mehr. Ich würde sagen, seit 2006/2007 war er physisch und vor allem geistig nicht mehr in der Lage, dieses strategische Geschick auszuspielen, das ihn ja immer ausgezeichnet hat. Früher glaubten viele, ihn instrumentalisieren zu können, bis hin zur Apartheid-Regierung, aber dort war er einfach immer aufgrund dieses, von mir gerade genannten strategischen Geschicks überlegen und hat im Grunde die andere Seite dazu gebracht, ihm zu folgen, seinem Willen zu folgen. Aber natürlich: diese Instrumentalisierung, die geht bis in die heutigen Tage. Er wird jetzt noch mal groß aufgebahrt in einem Staatsbegräbnis und dann wird der ANC natürlich noch mal versuchen, im Grunde dieses ganze Erbe Mandelas für sich zu reklamieren, was Mandela selbst so nie gewollt hätte.
Heuer: Der Politikwissenschaftler und Nelson-Mandela-Biograf Stephan Bierling war das. Ich danke Ihnen, Herr Bierling.
Bierling: Gerne, Frau Heuer.
Heuer: Schönen Tag.
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