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"Neonazitum hat in Bayreuth schon seit Jahrzehnten nichts mehr verloren"

Mit einer Kinder-Version der "Meistersinger" sind die diesjährigen Bayreuther Festspiele eröffnet worden. Doch auf dem Grünen Hügel gibt es diverse Baustellen, meint Christoph Schmitz. Nicht nur wegen der Debatte um die Nazi-Tattoos des abgereisten "Holländer"-Sängers.

Stefan Koldehoff im Gespräch mit Christoph Schmitz |
    Stefan Koldehoff: Ein bisschen Wirbel gibt es im Vorfeld der Wagner-Festspiele in Bayreuth immer. Mal geht es um ein Regiekonzept, mal um die Kartenvergabepraxis, fast immer um die NS-Verstrickung des Grünen Hügels vor vielen Jahren. So auch in diesem Jahr wieder. Diesmal ging ein Tenor kurz vor der Premiere, weil er sich – wie er sagt, als Jugendsünde – NS-Symbole auf die Brust hatte tätowieren lassen. Ersatz war schnell gefunden. Und so beginnen denn heute Abend die Aufführungen – mit dem "Fliegenden Holländer". Mein Kollege Christoph Schmitz ist in Bayreuth und weil er jetzt zu diesem Zeitpunkt schon wieder in den engen Stuhlreihen des Festspielhauses sitzt, habe ich ihn vor der Sendung gesprochen. Da hatte er nämlich bereits sozusagen die Junior-Premiere gesehen: die "Meistersinger" für Kinder. Das aber hoffentlich nicht in voller Schönheit, das würde nämlich bedeuten in Länge von fünf Stunden ...

    Christoph Schmitz: Nein, dann ginge das auf fünf Stunden zu. – Nein, das kann man natürlich keinem Kind zumuten, zumal ja der "Meistersinger" ungeheuer komplex ist. Künstlerdiskussionen werden da geführt, die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Wahn und Eitelkeit des Menschen, nach seinen Vorstellungen, auch die Frage nach deutscher Kunst. Sie erinnern sich vielleicht an den Schlussmonolog von Hans Sachs über die Feinde, die über Deutschland herfallen könnten. Und diese von den Nazis ja dann missbrauchten Worte von Hans Sachs. Die soll man an die Kinder vermitteln? Also, das ist alles vereinfacht worden auf die Liebesgeschichte, auf die Konkurrenz zwischen Sixtus Beckmesser und Walther von Stolzing, die beide Eva als Geliebte, als Braut haben möchten. Eine Liebesgeschichte unter Kindern. Und so ist das Ganze dann auf eine Stunde runtergekürzt worden.

    Koldehoff: Und mit den Sängerinnen und Sängern, die sonst auch auf der großen Bühne stehen?

    Schmitz: Ja. Bayreuth kleckert hier nicht, sondern wirklich die großen Sänger, die auf der Hauptbühne in den nächsten Tagen und Wochen auch sein werden, spielen in der Kinderoper, singen in der Kinderoper. Das Orchester ist ein anderes, das ist die Brandenburgische Staatsoper beziehungsweise das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt an der Oder. Ein ausgezeichnetes Orchester mit einem sehr guten Dirigenten, Hartmut Keil, der auch diese fast fünf Stunden auf eine Stunde 15 Minuten eingekürzt hat.

    Koldehoff: Also ein gelungener Ansatz, auch die Kinder mit einzubeziehen?

    Schmitz: Ein gelungener Ansatz. Das Ganze ist so in eine Schulsituation hineingepasst. Sie wissen: Es geht hier um Fehler machen, nicht Fehler machen, wie kann man korrigieren. So ist die Bühne umstellt mit Tafeln, die Kinder malen alles voll, ein Nürnberg auf der Tafel entsteht, die Figuren werden gezeichnet und hinter der Tafel kommen dann die Figuren hervor, die gezeichneten Figuren, eine Art Comic, würde ich sagen, der das Ganze dann erzählt.

    Koldehoff: Nun geht es ja heute auch richtig "los" und es ist traditionell in Bayreuth so, dass man eine Pressekonferenz zu Beginn der Festspiele gibt. Da war wahrscheinlich auch die große Tattoo-Frage noch mal Thema, oder?

    Schmitz: Ja, sie war noch mal Thema, obwohl hier eigentlich keiner mehr was davon hören wollte, weil das Thema ja kein Bayreuth-Problem ist. Das Neonazitum hat in Bayreuth schon seit Jahrzehnten nichts mehr verloren und der kleinste Ansatz davon hätte hier keine Chance. Insofern war es natürlich richtig, dass Evgeny Nikitin den "Holländer" nicht singt. Die offizielle Version ist, dass er von sich aus gesagt habe, er wolle jetzt unter den Bedingungen mit dem übertätowierten Hakenkreuz-Tattoo hier nicht auftreten. Die Frage wurde in der Pressekonferenz gestellt, was denn die Festspielleitung getan hätte, wenn Nikitin hätte singen wollen. Darauf haben die beiden Leiterinnen, Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, keine Antwort gegeben. Aber sie hätten wirklich antworten können, "nein, dann hätte er auch nicht auftreten dürfen, nicht auftreten können", denn Hakenkreuze hier, Jugendsünden, wie Nikitin es formuliert hat, haben keinen Platz und würden sicher auch keinen Platz haben.

    Koldehoff: Es schwingt ja in so einer Frage immer so ein bisschen der Vorwurf mit, in Bayreuth wird nach wie vor nicht an die NS-Vergangenheit gerührt. Man will das gar nicht aufarbeiten, Archive bleiben verschlossen, unabhängige Forscher bekommen keinen Zugang. Sie sind nun regelmäßig dort, haben auch Kontakt zu den Wagner-Schwestern. Was würden Sie dazu sagen?

    Schmitz: Also, es ist sicher über viele Jahre so gewesen, dass die privaten Unterlagen der verschiedenen Wagner-Stämme nicht rausgerückt wurden. Es wurde viel geforscht, außerhalb Bayreuths, aber vom Grünen Hügel kam da relativ wenig – es sei denn, man würde Nieke Wagner und Gottfried Wagner dazunehmen, die ja beide aus ihrer Perspektive als Wagner-Sprösslinge die Nazi-Geschichte ihrer Familien aufgearbeitet haben in zahlreichen Publikationen. Insofern ist schon was getan worden.

    Aber unter Katharina Wagner hat sich das nun wirklich verändert, sie hat den kompletten Nachlass des Vaters, Wolfgang Wagner, an zwei Historiker, Politologen, Geschichtswissenschaftler gegeben, die jetzt daran sitzen und das in Ruhe und sorgfältig aufarbeiten. Man dachte, 2013 würden nun die Ergebnisse herauskommen, aber das scheint wohl nicht so schnell zu klappen, aber hier muss man sich wirklich Zeit lassen.

    Außerdem muss man sagen, dass ja Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier nicht über alle Archive das Zugriffsrecht haben. Es gibt da gar nicht das Wagner-Archiv hier auf dem Grünen Hügel, das herausgegeben werden könnte, sondern die vier Wagner-Stämme haben alle ihre privaten Archive zuhause in den verschiedenen Städten und Orten, wo sie gerade leben. Und das wichtige Archiv von Siegfried Wagner, dem Sohn von Richard Wagner, das befindet sich, wie es heißt, in einem weißen Schrank einer Urenkelin in München. Und da kommt halt so ohne Weiteres keiner dran. Da kann Katharina nur bitten, geb das doch bitte raus, aber solange das nicht freiwillig geschieht, sind ihr auch da die Hände gebunden.

    Koldehoff: Na vielleicht wird sie ja irgendwann mal Erfolg haben. – Abgesehen von dieser wahrscheinlich noch viele Jahre währenden Diskussion und Frage nach der Vergangenheit, gibt es aber auch ansonsten ja noch eine Reihe von Baustellen in Bayreuth, und das im wahren Sinne des Wortes. Das Haus ist in keinem guten Zustand, es gab im vergangenen Jahr zumal Kritik an der künstlerischen Qualität, die Kartenvergabe ist immer im Fadenkreuz der Kritik. Ist da dieses Jahr drauf angespielt worden?

    Schmitz: Ja, hier und da schon. Die Probleme, die sind allen bekannt. Und wenn man das in den Blick nimmt, könnte man denken, hier ist doch einiges im Argen. Aber wenn man die Punkte mal durchgeht, Punkt für Punkt, dann ist es doch halb so wild. Der Bundesrechnungshof zum Beispiel hat die Kartenvergabe kritisiert, dass nur 40 Prozent der Karten in den freien Verkauf kommen. Das stimmt, aber die anderen werden ja nicht verschleudert, verschenkt, sondern die werden dann an die Wagner-Verbände weitergegeben, an die Sponsoren, und verkauft. Die nicht über das freie Kontingent vergebenen Karten wurden bezahlt. Aber auch das verändert sich: Im Jahr 2013 zum Beispiel kommen 67 Prozent der Karten in den freien Verkauf.

    Noch mal gerade zur Nazi-Aufarbeitung: Es gab jetzt gerade eine Ausstellung, oder die läuft noch, über die verstummten Stimmen, also die Besetzungspolitik während des Dritten Reichs. Das ist also aufgearbeitet worden. Dann gibt es schon mehrere Kongresse, die auch von der Wagner-Stiftung initiiert wurden und veranstaltet wurden, über Bayreuth im Dritten Reich.

    Der Sponsor, der Hauptsponsor Siemens, ist im letzten Jahr abgesprungen, das Public Viewing gibt es nicht mehr. Also das große Projekt von Katharina Wagner, Oper, Wagner für alle anzubieten, war damit erst mal gescheitert. Aber jetzt gibt es eine Live-Übertragung des "Parsifal" am 11. August auf "Arte" und in 100 Kinos deutschlandweit, auch in Österreich und in der Schweiz. Also Oper für alle ist nach wie vor Realität, muss man sagen.

    Was die künstlerische Qualität angeht, vielleicht noch ein paar Worte. Sicher: Der "Tannhäuser" im letzten Jahr war eine Katastrophe. Katharina Wagner hatte da hoch gepokert mit dem Regisseur Sebastian Baumgarten, das ist gründlich daneben gegangen. Aber wenn man künstlerisch etwas wagen will, dann kann auch mal was daneben gehen, denn viele Dinge sind gelungen. Der "Meistersinger" von Katharina Wagner selbst ist sehr beachtet worden, "Parsifal", von Stefan Herheim inszeniert, ist ein Jahrhundert-Parsifal, müsste man sagen, Hans Lohenfels' "Lohengrin" ist außerordentlich gelungen und Mut hat die Leitung auch bewiesen, zum Beispiel indem sie 2015 den "Parsifal" von Jonathan Meese inszenieren lässt.

    Koldehoff: Ausgerechnet! Der hebt ja auch schon mal gern den rechten Arm als Provokation. – Christoph Schmitz berichtete vom Auftakt der Wagner-Festspiele in Bayreuth.