Im kleinen Tempeldorf Changu steht Anis Bhatta schwitzend vor den Trümmern seines eingestürzten Hauses.
"Ich sammel die alten Steine, damit es mit dem Wiederaufbau losgehen kann. Wir können dieses Haus wieder aufbauen, und wir werden es mit der Zeit wieder aufbauen. Vielleicht musste das Beben passieren, damit sich die Dinge hier verändern."
Das Dorf mit seinen engen, verwunschenen Gassen liegt auf einem Berg. Von hier oben hat man einen prächtigen Blick auf das Kathmandu-Tal.
"Das Kathmandu-Tal verkommt zum Beton-Dschungel. Egal wo du hingehst, überall gibt es diese großen, hohen Häuser. Aber sie sind schlecht gebaut, und sie werden auch nicht gut gepflegt. Jetzt werden die Leute vielleicht nachdenken und wieder kleiner bauen. Vielleicht nur ein Erdgeschoss und einen ersten Stock."
Auch im Changu-Narayan-Tempel liegen überall Trümmer
Herzstück des Dorfes Changu ist der 1.600 Jahre alte Changu-Narayan-Tempel, der für Hindus und Buddhisten eine wichtige religiöse Stätte ist. Der prächtige Tempel-Komplex oben auf dem Berg gehört zu den sieben Weltkulturerbestätten im Kathmandu-Tal, von denen das Erdbeben vom 25. April sechs zerstört hat. Auch in Changu Narayan liegen überall Trümmer herum. Durch die ganze Anlage ziehen sich gefährliche Risse. Viele Wände stehen schief. Anis ist hier aufgewachsen. Für den schmächtigen, 25-jährigen Mann sind die Tempel ständige Begleiter, sie gehören zu seinem Leben einfach dazu. Anis, ein gläubiger Hindu, stellt sich die Sinn-Frage.
"Nichts auf dieser Welt ist von Dauer. Das Erdbeben sollte uns eine Lehre sein. Es soll uns verändern. Wir Menschen zerstören die Natur. Und die Natur ist Gott. Die Natur ist der einzige Gott, der für alle Menschen sichtbar ist. Die göttliche Kraft der Natur schickt uns Naturkatastrophen, weil wir die Natur zerstören. Unsere Lehre muss sein, die Natur zu schützen."
Wiederaufbau im Blick
Aus dem Dorf führt eine steile Steintreppe zur Tempelanlage hoch. Vor der Treppe hat sich Anis' Familie über die Jahre ein kleines Wirtschaftsimperium aufgebaut. Eine Café, ein Gästehaus mit sechs Zimmern, das der Reiseführer Lonely Planet anpreist, einen Souvenirladen und eine Malereischule für buddhistische Thankga-Kunst. Jetzt ist alles zerstört. Mutter Sarita, die Matriarchin des Bhatta-Imperiums, widerspricht ihrem Sohn.
"Ich will das Erdbeben nicht mit den Göttern erklären. Es hat schon immer Naturkatastrophen gegeben. Sie gehören zum menschlichen Leben", sagt sie bestimmt.
Sarita sitzt neben den Trümmern ihrer Malschule. In ihrem Kopf ist längst ein Plan für den Wiederaufbau gereift. Zuerst soll das Café wieder öffnen, damit wieder Geld reinkommt. Zum Glück hat die nagelneue Espressomaschine aus Edelstahl das Erdbeben unbeschadet überstanden.
"Unser Verlust ist kaum in Worte zu fassen, aber ich glaube fest daran, dass wir das alles wieder aufbauen können", sagt Sarita. "Natürlich tut es weh, alles in Trümmern zu sehen. Aber wir müssen nach vorne blicken. Wir müssen hoffen. Wir haben alle überlebt, und wir haben eine neue Chance."
Tempelstadt Bhaktapur
Unten im Tal steht Ravinda Puri in der zerstörten Tempelstadt Bhaktapur, in der so viele Menschen ihr Leben verloren haben.
"Ich habe noch nie so viel geweint in meinem Leben wie in den letzten 10 Tagen."
Der 45-Jährige ist gelernter Bildhauer und hat in den 90er-Jahren in Bremen Entwicklungspolitik studiert. Dann ging er in seine Heimat zurück. Ravinda Puri hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Nepals Kulturschätze zu retten. Er gibt sich kämpferisch.
"Ich bin mir sicher, dass im Kathmandu-Tal alles in fünf Jahren wieder aufgebaut werden kann. Das hier ist keine tote Kultur, das ist eine lebendige Kultur. Das ist unsere Identität, die wir bewahren müssen. Das ist auch wirtschaftlich wichtig. Die Touristen kommen nach Nepal wegen der Natur und wegen der Kultur. Wir müssen beides bewahren. Und wenn wir das bewahren können, dann bringt das Geld ins Land."
Ravinda Puri regt an, eine unabhängige Kommission zur Rettung der Kulturgüter einzusetzen. Eine Kommission, auf die korrupte Politiker und Bürokraten keinen Zugriff haben sollen.
Oben auf dem Berg in Changu hofft auch Anis, dass Nepals Elite umdenkt.
"Als die Leute hier reicher wurden, haben sie anders gebaut. Höher. Und das nächste Haus musste noch höher sein. Und noch höher. Wir sollten uns nicht von Gier und Ignoranz leiten lassen. Wir sind alle gleich."