"Ich glaube, er hat einen großen Körper" sagt Sameer. Sein Vater ist nach Katar gegangen, da war er gerade einmal ein Jahr alt. Höchstens alle drei Jahre kann sich der Vater leisten für einige Tage nach Hause zu kommen. Für den Sohn, heute zwölf Jahre alt, ist der Vater fast ein Fremder. Wer zu Hause das Sagen hat, ist für ihn ganz klar:
"Mami!"
Aber die hat schwere Zeiten durchmachen müssen, seit ihr Ehemann ins Ausland gegangen ist. Von heute auf morgen war Mani Devi Kapali alleine verantwortlich für ihre beiden Töchter, sechs und acht Jahre alt, und für das Baby Sameer:
"Die Nachbarn haben sich das Maul zerrissen, ich würde mich sicher nun mit anderen Männern einlassen, schließlich sei meiner ja weit weg."
Im Dorf Sankhu leben um die 3.000 Menschen, da fällt es schnell auf, wenn der Mann aus dem Haus ist. Auch die heute 19-jährige Resma, sie ist die älteste Tochter, hatte darunter zu leiden, dass ihre Mitschüler und Nachbarn ständig versucht haben, die Familie ohne Vater einzuschüchtern:
"Sie haben uns ausgelacht, uns nicht ernst genommen und ständig schlecht über uns geredet."
"Finanziell geht es und heute besser"
Trotzdem kann sie gut verstehen, warum sich ihre Eltern vor elf Jahren dazu entschieden haben, dass der Vater auswandert:
"Sie haben in einer Ziegelei gearbeitet, meine Schwester und ich waren jeden Tag stundenlang bei Fremden untergebracht, sie hatten nicht genügend Geld, um uns zu guten Schulen zu schicken. Finanziell geht es uns heute schon besser."
Mani Devi Kapali und ihr Mann können kaum lesen und schreiben. Obwohl beide jeden Tag stundenlang geschuftet haben, hat es gerade einmal für die Miete und etwas zu Essen gereicht. Wenigstens ihre Kinder sollten es eines Tages mal besser haben. Die Idee war, dass der Vater nur kurz ins Ausland geht und schnell genug Geld verdienen würde:
"Es tut weh, dass er nun schon so lange weg ist", sagt die älteste Tochter. "Wir hätten nie gedacht, dass es so viele Jahre werden würden. Es war vor allem am Anfang sehr schmerzhaft, irgendwann muss man sich dann daran gewöhnen."
Immerhin kurz nach dem Erdbeben vor über zwei Jahren kam der Vater nach Hause, um die Schäden in der Wohnung auszubessern. Aber er konnte nicht lange bleiben, musste zurück zu seinem Job nach Katar. Er arbeitet in einem Hotel, dort beziehe er Betten und mache den Boden sauber, sagt seine Frau. Alle zwei bis drei Monate schicke er umgerechnet um die 400 Euro nach Hause.
"Aber auch das Geld reicht nicht, um zu sparen. Wir geben sein Gehalt für die privaten Schulen aus und um den Haushalt am Laufen zu halten", erzählt die Mutter. Der Traum vom eigenen kleinen Häuschen hat sich nicht erfüllt. Aber viele andere Menschen, die Nepal verlassen, um im Ausland einem Job nach zugehen, teilen noch diesen Traum.
Ein eigenes Flughafen-Terminal für Gastarbeiter
Im Schnitt sind es 1.700 Nepalesen, am Tag. Einige landen als Wachmänner in Afghanistan, viele Ungebildete laufen Gefahr, in den Golfstaaten ausgebeutet zu werden. Aber es sind die Geschichten der Menschen, die im Ausland Erfolg hatten, die den neuen Gastarbeitern Mut machen, auch ihr Glück außerhalb Nepals zu suchen.
Am Flughafen der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu gibt es ein eigenes Terminal für Gastarbeiter. Die Monitore zeigen die nächsten Flüge an: nach Dubai, in den Oman, nach Saudi Arabien oder Malaysia. Aus mehr als als 35 Ländern schicken die nepalesischen Gastarbeiter rund 20 Milliarden Euro pro Jahr nach Hause – das ist knapp ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung Nepals. Neeraj Thapa schafft es ein Mal im Jahr nach Hause, den Rest des Jahres arbeitet er in Saudi-Arabien als Hotelier:
"Hier kann ich ja kein Geld verdienen, es gibt keine Jobs und wenn, dann zahlen sie schlecht. Ich verdiene dort das Vierfache von dem, was ich in Nepal bekäme." Neeraj Thapa hat noch keine Kinder, er sieht seine Frau ja kaum.
"Es ist sehr schwer, ohne ihn hier leben zu müssen", sagt seine Sangeeta Thapa. Sie arbeitet als Grundschullehrerin in Nepal: "Ich verdiene sehr wenig, ich arbeite von sonntags bis freitags, im Monat bekomme ich 10.000 Rupien dafür." Das sind umgerechnet 80 Euro als Monatslohn. Da habe er doch vergleichsweise Glück gehabt, sagt Neeraj Thapa und zuckt mit den Schultern:
"Wenn du was erreichen willst, musst du eben Opfer bringen."
Die Jugend will auf eigenen Füßen stehen
Auch Resma, die älteste Tochter der Familie Kapali, hat noch keine gute Arbeit finden können in Nepal, obwohl sie einen privaten Schulabschluss hat:
"Oft werden die Jobs hier nur an Familienmitglieder gegeben, die werden bevorzugt. Wir kennen keinen, der mir einen Job geben würde."
Die 19-Jährige ist aber nicht verzweifelt. Mittlerweile gibt es so viele Familien, die ohne einen Elternteil aufwachsen müssen. Gerade als Mädchen habe sie in all den Jahren vor allem eins gelernt:
"Ich will mein eigenes Geld verdienen. Weil mein Vater ja nie da war, weiß ich, wie wichtig es ist, auf eigenen Füßen stehen zu können. Und im Zweifel muss ich eben auch ins Ausland, um einen guten Job zu finden."
In jedem dritten Haushalt in Nepal arbeitet mittlerweile ein Familienmitglied im Ausland. Und es werden jährlich mehr.