Es ist wie ein nicht endender Reigen von Pilgern und Touristen, der sich von früh bis spät rund um den riesigen Stupa von Boudhanath am Rande von Nepals Hauptstadt Kathmandu bewegt. Oben auf der riesigen weißen Halbkugel des Schreins scheint Buddha, dessen Augen in alle vier Himmelsrichtungen blicken, das Geschehen zu überwachen.
Doch es sind vor allem Polizisten, die ihre Augen überall haben. Die großen Häuser und vielen Läden um den Stupa herum zeugen von Fleiß und Erfolg vieler tibetischer Flüchtlinge in Nepal, die sich seit 1959 hier niedergelassen haben. Bis hinauf in die Hügel weiter im Norden stehen prachtvolle buddhistische Klöster. Doch seit einigen Jahren wendet sich das Blatt für die Tibeter in Nepal langsam aber stetig hin zum Schlechteren.
Karma Khangkar ist in Tibet geboren und war noch ein Kind, als er mit seiner Familie nach Nepal kam:
"Als wir 1959 nach Nepal flohen, lebten wir zunächst in den Bergen. Einige von uns gingen nach Indien, um eine Ausbildung zu bekommen. Danach kehrten wir nach Nepal zurück. Bis 2008 gab es keine Einschüchterungen vonseiten der nepalesischen Behörden. Doch nun sind sogar friedliche Versammlungen der Tibeter ein Problem; selbst Neujahr oder den Geburtstag des Dalai Lama sollen wir nicht feiern.
Ich bin sicher, dies geschieht auf Druck Chinas hin. Es werden auch mehr und mehr tibetische Flüchtlinge an der Grenze zurückgeschickt. Selbst Tibeter mit chinesischen Identitätskarten, die bisher erlaubten Handel im Grenzgebiet betrieben, wurden bei ihrer Rückkehr eingesperrt und später deportiert. Die Lage der Tibeter in Nepal und Tibet ist sehr beängstigend."
Das Aufnahmezentrum für tibetische Flüchtlinge in Kathmandu ist abgeriegelt wie ein Hochsicherheitstrakt. Vor 2008 waren Interviews mit Neuankömmlingen kein Problem. Nun weisen Piktogramme darauf hin, dass weder Kameras noch Mikrofone hier erlaubt sind. Früher kamen 2.000 bis 3.000 im Jahr, nun sollen es etwa 50 sein, die es trotz der verschärften Grenzsicherungen hierher schaffen.
Schwer greifbare Einmischung
Die Flüchtlinge werden isoliert und dürfen das Zentrum nicht verlassen. Der Grund: 2013 hat sich einer von ihnen vor dem Stupa in Boudhanath selbst verbrannt. Als Tibeter ihn im Krankenhaus besuchen wollten, wurden sie geschlagen und vorübergehend festgenommen. Tseten Norbu, ein Mann um die 60 und seit 50 Jahren in Nepal, sieht mit Sorge den wachsenden Einfluss Chinas in Nepal.
"Manchmal ist diese zunehmende Einmischung schwer greifbar. Während des Besuchs des Gouverneurs der "Autonomen Region Tibet" in Nepal hat die chinesische Botschaft in Kathmandu die nepalesische Regierung aufgefordert, ihr eine Liste mit Namen aller Tibetaktivisten auszuhändigen, mit ihrem genauen Programm.
Andererseits wurden alle mit der Sicherheit des Landes betrauten Behörden in Nepal zum Training nach China eingeladen, nicht ein oder zwei, sondern zehn, 20, 30 Leute.
In den Grenzgebieten, genauer in 14 oder 15 Distrikten Nepals, verteilt die chinesische Regierung Nahrungsmittel wie Reis, Zucker und Öl an die dortige Bevölkerung, die tibetischen Ursprungs ist. China hat wirklich ein ganz besonderes Programm für die Himalajaregion entwickelt."
"Nur nicht aufmucken"
Etwa 200 Kilometer westlich von Kathmandu verbindet eine Handelsstraße durch das Gebiet Mustang seit Urzeiten den Süden des Himalaja mit Tibet. Seit es hier eine befahrbare Piste gibt, werden Mulis als Transporttiere immer seltener. Am Ufer des Kali Gandaki, der eine tiefe Schlucht zwischen zwei Achttausender gegraben hat, liegt das tibetische Flüchtlingscamp Cairu. Es war Anfang der 1970er-Jahre für 300 Flüchtlinge gebaut worden. Heute leben hier 225 Tibeter. Das Lager liegt etwa 120 Kilometer von der Grenze im Norden entfernt. Norbu Phüntsok ist der Leiter.
"Zurzeit machen wir uns keine Sorgen, dass die Chinesen bis hierher kommen. Zwischen Unter- und Ober-Mustang gibt es zwei große Garnisonen sowie zwei starke Milizeinheiten der Nepalis. Wir hoffen nicht, dass China hier illegal einfallen wird."
Das Königreich Mustang war bis zur Eroberung durch nepalesische Truppen Ende des 18. Jahrhunderts tibetisch. Aus Angst China könnte Ansprüche auf dieses Gebiet erheben, war Mustang bis 1992 für Fremde geschlossen. Mittlerweile machen dort chinesische Waren mit Dumpingpreisen den nepalesischen Konkurrenz. Norbu Phüntsok spürt die Veränderungen. Die Chinesen werden immer präsenter in Nepal, aber unter den meisten Tibetern herrscht die Devise vor: Nur nicht aufmucken.
"Neulich bei einem Treffen hat mir der Distriktgouverneur von Unter-Mustang versichert, dass er uns keine Schwierigkeiten bereiten wird, so lange wir uns an die Gesetze halten. Sonst bekommt Nepal Probleme, meinte er. Die chinesische Regierung verlangt vom Nepal, die Tibeter unter Kontrolle zu halten.
Andererseits erntet Nepal international Kritik, wenn die Polizei gegen die Tibeter vorgeht. Deshalb müssen wir Tibeter Nepalis und Chinesen verstehen und uns zurückhalten."
Fehlende Führungskraft
Mit der Absetzung des letzten nepalesischen Königs 2006 haben die Tibeter einen Fürsprecher verloren. Außerdem gibt es in Nepal schon lange keine arbeitsfähigen Regierungen mehr. Das Land befindet sich in einer Übergangszeit mit großer Instabilität.
China nutzt diesen Zustand und versucht die Politiker in Nepal und die Bevölkerung zu beeinflussen. Ganz so wie auch der andere große Nachbar, Indien. Als Gegenleistung für Wohlverhalten gibt es von beiden Giganten reichlich Hilfe zur Verbesserung der Infrastruktur. Sushil Pyakurel ist Nepali und war lange Jahre Vorsitzender der Nationalen Menschenrechtskommission.
"China weiß genau, was es tut und setzt alles für seine ehrgeizigen Ziele ein. Die Wasserkraftprojekte gehen an Indien, um alles andere, wie zu Beispiel Straßenbau, kümmert sich China. Beide Länder helfen uns nicht aus lauter Freundschaft, sondern weil sie uns misstrauen und sich auch gegenseitig belauern.
Wir leben hier in Nepal in einer gefährlichen Region und müssen uns deshalb äußerst klug verhalten."
Keine Perspektiven
Junge Tibeter sieht man in der Gegend um den Stupa in Boudhanath immer seltener. Die Nachkommen der Flüchtlinge von damals bekommen keine Ausweispapiere mehr von den nepalesischen Behörden. Wer kann, sucht sein Glück anderswo, in den USA oder Australien, etwa.