Friedbert Meurer: Vor dem Landgericht München wird heute ein Urteil erwartet, das weltweit Beachtung finden wird. In einem der spektakulärsten NS-Prozesse auf deutschem Boden könnten die Richter heute wohl entscheiden, ob der 91 Jahre alte mutmaßliche KZ-Aufseher John Demjanjuk verurteilt wird, oder ob er freigesprochen wird. Demjanjuk soll als Hilfswachmann, als sogenannter Trawniki, im Vernichtungslager Sobibor geholfen haben, Tausende von jüdischen Opfern zu ermorden.
Cornelius Nestler ist Kölner Strafrechtsprofessor und Vertreter einer ganzen Reihe von Nebenklägern, überwiegend Hinterbliebene jüdischer Opfer aus den Niederlanden, in dem Prozess vor dem Landgericht München. Ihn begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Nestler.
Cornelius Nestler: Guten Morgen, Herr Meurer.
Meurer: Um mal mit dem Prozessverlauf zu beginnen: Wir kennen die Bilder von einem auf einem Bett im Gerichtssaal liegenden John Demjanjuk, die Mütze über die Augen gezogen, man hat den Eindruck, er kriegt überhaupt nichts mit. Wie haben Sie das erlebt?
Nestler: Herr Demjanjuk hat zwei Verhaltensweisen. Es gibt den Demjanjuk, der im Rollstuhl zum Gerichtssaal gefahren wird, der sich angeregt mit der Dolmetscherin oder mit seinem Verteidiger unterhält. Und dann gibt es den anderen Demjanjuk, das ist der, der in dem Augenblick, wo er im Gerichtssaal sich auf dieses Bett legt, die Augen schließt, die Kappe runterzieht und gegenüber der Öffentlichkeit das Bild eines Halbtoten vermittelt.
Meurer: Warum macht er das?
Nestler: Ich glaube, dass er sich demonstrativ dem Verfahren weitestgehend entziehen will. Andererseits ist es so, dass er bestimmte Rückenbeschwerden hat. Das ist wahrscheinlich seine schlimmste Erkrankung, die er überhaupt hat, dass er eine Verengung der Rückennervenbahn hat, und deswegen hat das Gericht ihm erlaubt, sich hinzulegen.
Meurer: Mit welchem Urteil rechnen Sie heute?
Nestler: Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Angeklagte heute verurteilt werden wird, und das ist das klare Ergebnis nach eineinhalb Jahren Beweisaufnahme – aus zwei Gründen: Die Beweisaufnahme hat erstens ergeben, dass der Angeklagte in dem angeklagten Zeitraum als Wachmann in Sobibor tätig war, und wer als Wachmann tätig war, hat mit dabei geholfen, nämlich dadurch, dass er verhindert hat, zumindest mal, dass die Menschen entkommen konnten, hat dabei geholfen, ...
Meurer: Da gibt es für Sie keinen Zweifel, dass er ein sogenannter Trawniki war?
Nestler: Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Das ist eine Kombination von Hunderten von Dokumenten, die wie ein Puzzle zusammenpassen, und am Ende wird sozusagen der Link zu der Person John Demjanjuk dadurch hergestellt, dass es ja den Zeugen Nagorny gibt – das ist ein anderer Wachmann -, der seit Oktober 43 mit ihm zusammen im Konzentrationslager Flossenbürg war, später mit ihm zusammen noch in Deutschland zwei Jahre gelebt hat. Und dieser Zeuge, der sagt, der John Demjanjuk, den ich kenne, den ich in Flossenbürg kennengelernt habe, mit dem ich nach dem Krieg zusammengelebt habe, das ist der Mann, der genau zu den Dokumenten passt.
Meurer: Nun ist John Demjanjuk angeklagt der Beihilfe beim Mord von 28.000 Juden in Sobibor. War er ein besonders fürchterlicher Wachmann?
Nestler: Das wissen wir nicht. Alles, was wir wissen ist, dass er als Wachmann da war. Wir wissen nicht genau, ob er an einem bestimmten Tag an der Rampe stand, ob er an einem bestimmten Tag etwa, was ja auch Tätigkeit der sogenannten Trawniki, der Wachmänner war, die Menschen in die Gaskammer geschoben hat, oder ob er etwa an der Sicherung des Lagers tätig war an einem bestimmten Tag, wenn einer der Züge aus den Niederlanden ankam. Rechtlich macht das keinen großen Unterschied, weil alle diese Tätigkeiten bedeuten, dass man geholfen hat, dass der Mord durchgeführt werden konnte.
Meurer: Was sagen Sie, Herr Nestler, zu der Argumentation, in den letzten Jahrzehnten hat man X deutsche Täter, die Wachmänner waren, laufen lassen und nicht bestraft und jetzt erwischt es ein kleines Licht aus der Ukraine?
Nestler: Man muss das ein bisschen differenzieren. Man hat erst mal gegen eine Reihe von deutschen Wachmännern nicht ermittelt, als man hätte ermitteln können, und das war sicherlich ein großer Fehler. Das hätte man sehr viel früher machen können. Das ändert aber nichts daran, dass das Verfahren gegen Herrn Demjanjuk ganz legitim ist, und der Grund ist ein ganz einfacher. Wenn jemand an der Ermordung von 28.000 Juden beteiligt war, dann muss er sich dieser Verantwortung stellen, und die Tatsache, dass die deutsche Justiz aus verschiedenen Gründen in der Vergangenheit blind war dafür, dass auch die Wachmänner verantwortlich waren für den Massenmord, ist kein Grund, jetzt, wenn man es besser, wenn man es richtiger sieht, kein Verfahren durchzuführen.
Meurer: Ist John Demjanjuk jemand, der als Trawniki nicht freiwillig Wachmann war, sondern vor der Alternative stand, entweder er macht das, Hilfswachmann in Sobibor, oder er muss als Kriegsgefangener der Deutschen verhungern?
Nestler: Es ist richtig, dass die Ukrainer, die gezielt von der SS aus den Kriegsgefangenenlagern herausgeholt wurden, um dann in unterschiedlichsten Tätigkeiten und unter anderem eben auch als Wachmänner für sie tätig zu sein, dass die im Kriegsgefangenenlager vor der Alternative standen, bleiben wir hier und gehen die Gefahr ein, dass wir einfach verrecken, weil die Deutschen sich um nichts mehr kümmern, oder retten wir unser Leben, indem wir mit den Deutschen kooperieren. Das ist schon richtig so. Aber der Vorwurf ist ja nicht gegenüber Herrn Demjanjuk, dass er sich den Deutschen angeschlossen hat, sondern der Vorwurf ist, dass er, als er dann in Sobibor war, sich nicht entfernt hat, dass er nicht einfach weggegangen ist. Und das haben viele andere gemacht.
Die Alternative war im Prinzip, bleibe ich da, führe ich ein angenehmes Leben – es ist wahr: Man bekommt zu essen, man kann, was ja auch nicht unwichtig war für viele der Ukrainer, sich an den Wertgegenständen der Juden bereichern, und zwar sehr bereichern -, das war die eine Möglichkeit. Und die andere Möglichkeit war, dass man einfach gegangen ist, versucht hat, sich zu den Partisanen durchzuschlagen, nach Hause zu kommen, Ähnliches mehr. Es ist natürlich auch richtig, dass das nicht ganz ungefährlich war. Wenn die Deutschen den geflohenen Trawniki erwischt hätten, dann drohte ihm tatsächlich bis hin zum Tod alles Mögliche. Aber es gab die Möglichkeit, viele haben sie wahrgenommen und ...
Meurer: Aber John Demjanjuk eben nicht.
Nestler: John Demjanjuk eben nicht.
Meurer: Wir werden gespannt sein auf das Urteil heute, das vor dem Landgericht München erwartet wird. Danke schön, Cornelius Nestler, ...
Nestler: Nestler, ja.
Meurer: ... Nestler, pardon, Kölner Strafrechtsprofessor und Vertreter der Nebenklage. Danke schön und auf Wiederhören!
Nestler: Vielen Dank!
Cornelius Nestler ist Kölner Strafrechtsprofessor und Vertreter einer ganzen Reihe von Nebenklägern, überwiegend Hinterbliebene jüdischer Opfer aus den Niederlanden, in dem Prozess vor dem Landgericht München. Ihn begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Nestler.
Cornelius Nestler: Guten Morgen, Herr Meurer.
Meurer: Um mal mit dem Prozessverlauf zu beginnen: Wir kennen die Bilder von einem auf einem Bett im Gerichtssaal liegenden John Demjanjuk, die Mütze über die Augen gezogen, man hat den Eindruck, er kriegt überhaupt nichts mit. Wie haben Sie das erlebt?
Nestler: Herr Demjanjuk hat zwei Verhaltensweisen. Es gibt den Demjanjuk, der im Rollstuhl zum Gerichtssaal gefahren wird, der sich angeregt mit der Dolmetscherin oder mit seinem Verteidiger unterhält. Und dann gibt es den anderen Demjanjuk, das ist der, der in dem Augenblick, wo er im Gerichtssaal sich auf dieses Bett legt, die Augen schließt, die Kappe runterzieht und gegenüber der Öffentlichkeit das Bild eines Halbtoten vermittelt.
Meurer: Warum macht er das?
Nestler: Ich glaube, dass er sich demonstrativ dem Verfahren weitestgehend entziehen will. Andererseits ist es so, dass er bestimmte Rückenbeschwerden hat. Das ist wahrscheinlich seine schlimmste Erkrankung, die er überhaupt hat, dass er eine Verengung der Rückennervenbahn hat, und deswegen hat das Gericht ihm erlaubt, sich hinzulegen.
Meurer: Mit welchem Urteil rechnen Sie heute?
Nestler: Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Angeklagte heute verurteilt werden wird, und das ist das klare Ergebnis nach eineinhalb Jahren Beweisaufnahme – aus zwei Gründen: Die Beweisaufnahme hat erstens ergeben, dass der Angeklagte in dem angeklagten Zeitraum als Wachmann in Sobibor tätig war, und wer als Wachmann tätig war, hat mit dabei geholfen, nämlich dadurch, dass er verhindert hat, zumindest mal, dass die Menschen entkommen konnten, hat dabei geholfen, ...
Meurer: Da gibt es für Sie keinen Zweifel, dass er ein sogenannter Trawniki war?
Nestler: Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Das ist eine Kombination von Hunderten von Dokumenten, die wie ein Puzzle zusammenpassen, und am Ende wird sozusagen der Link zu der Person John Demjanjuk dadurch hergestellt, dass es ja den Zeugen Nagorny gibt – das ist ein anderer Wachmann -, der seit Oktober 43 mit ihm zusammen im Konzentrationslager Flossenbürg war, später mit ihm zusammen noch in Deutschland zwei Jahre gelebt hat. Und dieser Zeuge, der sagt, der John Demjanjuk, den ich kenne, den ich in Flossenbürg kennengelernt habe, mit dem ich nach dem Krieg zusammengelebt habe, das ist der Mann, der genau zu den Dokumenten passt.
Meurer: Nun ist John Demjanjuk angeklagt der Beihilfe beim Mord von 28.000 Juden in Sobibor. War er ein besonders fürchterlicher Wachmann?
Nestler: Das wissen wir nicht. Alles, was wir wissen ist, dass er als Wachmann da war. Wir wissen nicht genau, ob er an einem bestimmten Tag an der Rampe stand, ob er an einem bestimmten Tag etwa, was ja auch Tätigkeit der sogenannten Trawniki, der Wachmänner war, die Menschen in die Gaskammer geschoben hat, oder ob er etwa an der Sicherung des Lagers tätig war an einem bestimmten Tag, wenn einer der Züge aus den Niederlanden ankam. Rechtlich macht das keinen großen Unterschied, weil alle diese Tätigkeiten bedeuten, dass man geholfen hat, dass der Mord durchgeführt werden konnte.
Meurer: Was sagen Sie, Herr Nestler, zu der Argumentation, in den letzten Jahrzehnten hat man X deutsche Täter, die Wachmänner waren, laufen lassen und nicht bestraft und jetzt erwischt es ein kleines Licht aus der Ukraine?
Nestler: Man muss das ein bisschen differenzieren. Man hat erst mal gegen eine Reihe von deutschen Wachmännern nicht ermittelt, als man hätte ermitteln können, und das war sicherlich ein großer Fehler. Das hätte man sehr viel früher machen können. Das ändert aber nichts daran, dass das Verfahren gegen Herrn Demjanjuk ganz legitim ist, und der Grund ist ein ganz einfacher. Wenn jemand an der Ermordung von 28.000 Juden beteiligt war, dann muss er sich dieser Verantwortung stellen, und die Tatsache, dass die deutsche Justiz aus verschiedenen Gründen in der Vergangenheit blind war dafür, dass auch die Wachmänner verantwortlich waren für den Massenmord, ist kein Grund, jetzt, wenn man es besser, wenn man es richtiger sieht, kein Verfahren durchzuführen.
Meurer: Ist John Demjanjuk jemand, der als Trawniki nicht freiwillig Wachmann war, sondern vor der Alternative stand, entweder er macht das, Hilfswachmann in Sobibor, oder er muss als Kriegsgefangener der Deutschen verhungern?
Nestler: Es ist richtig, dass die Ukrainer, die gezielt von der SS aus den Kriegsgefangenenlagern herausgeholt wurden, um dann in unterschiedlichsten Tätigkeiten und unter anderem eben auch als Wachmänner für sie tätig zu sein, dass die im Kriegsgefangenenlager vor der Alternative standen, bleiben wir hier und gehen die Gefahr ein, dass wir einfach verrecken, weil die Deutschen sich um nichts mehr kümmern, oder retten wir unser Leben, indem wir mit den Deutschen kooperieren. Das ist schon richtig so. Aber der Vorwurf ist ja nicht gegenüber Herrn Demjanjuk, dass er sich den Deutschen angeschlossen hat, sondern der Vorwurf ist, dass er, als er dann in Sobibor war, sich nicht entfernt hat, dass er nicht einfach weggegangen ist. Und das haben viele andere gemacht.
Die Alternative war im Prinzip, bleibe ich da, führe ich ein angenehmes Leben – es ist wahr: Man bekommt zu essen, man kann, was ja auch nicht unwichtig war für viele der Ukrainer, sich an den Wertgegenständen der Juden bereichern, und zwar sehr bereichern -, das war die eine Möglichkeit. Und die andere Möglichkeit war, dass man einfach gegangen ist, versucht hat, sich zu den Partisanen durchzuschlagen, nach Hause zu kommen, Ähnliches mehr. Es ist natürlich auch richtig, dass das nicht ganz ungefährlich war. Wenn die Deutschen den geflohenen Trawniki erwischt hätten, dann drohte ihm tatsächlich bis hin zum Tod alles Mögliche. Aber es gab die Möglichkeit, viele haben sie wahrgenommen und ...
Meurer: Aber John Demjanjuk eben nicht.
Nestler: John Demjanjuk eben nicht.
Meurer: Wir werden gespannt sein auf das Urteil heute, das vor dem Landgericht München erwartet wird. Danke schön, Cornelius Nestler, ...
Nestler: Nestler, ja.
Meurer: ... Nestler, pardon, Kölner Strafrechtsprofessor und Vertreter der Nebenklage. Danke schön und auf Wiederhören!
Nestler: Vielen Dank!