Internationaler Strafgerichtshof
Haftbefehl gegen Netanjahu - Dilemma für Deutschland?

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat Haftbefehl gegen Israels Ministerpräsident Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Gallant erlassen. Wozu wäre Deutschland jetzt im Fall eines Staatsbesuchs aus Israel verpflichtet?

    Benjamin Netanjahu, Ministerpäsident des Staates Israel, hinter ihm die Flaggen Israels und der Europäischen Union.
    Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Karim Khan, wirft dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. (picture alliance / AA / photothek.de / Kira Hofmann)
    Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat Haftbefehle gegen die beiden Israelis Benjamin Netanjahu und Joaw Gallant, sowie gegen den militärischen Anführer der Terrororganisation Hamas, Mohammad Diab Ibrahim Al-Masri, auch bekannt als Mohammed Deif, erlassen. Der soll jedoch bei einem israelischen Angriff im Gazastreifen im Juli getötet worden sein.
    Die Richter in Den Haag stimmten damit einem Antrag des Chefanklägers Karim Khan vom Mai zu. Netanjahu und Gallant stehen demnach unter dem Verdacht von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit dem 8. Oktober 2023 im Gazastreifen.
    Hier ein Überblick zu den wichtigsten Fragen:

    Inhaltsverzeichnis

    Welche Reaktionen gibt es auf die Haftbefehle?

    Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat die internationalen Haftbefehle gegen sich und Ex-Verteidigungsminister Joaw Gallant als „antisemitische Entscheidungen“ bezeichnet. Sie seien von „voreingenommenen Richtern getrieben von antisemitischem Hass gegen Israel“ getroffen worden.
    Die Terrororganisation Hamas dagegen feiert sie als einen historischen Schritt. Die Entscheidung sei ein „wichtiger historischer Präzedenzfall und eine Korrektur eines langen Wegs historischer Ungerechtigkeit gegen unser Volk“, teilte die Hamas mit.
    Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat alle Mitgliedsländer aufgerufen, den Haftbefehl zu achten. Die Entscheidung des Gerichts in Den Haag sei rechtsverbindlich, sagte Borrell. Alle EU-Staaten seien als Vertragsparteien "verpflichtet, die Gerichtsentscheidung umzusetzen".
    Der ungarische Regierungschef Viktor Orban hatte zuvor bereits den zugrunde liegenden Haftantrag des Chefanklägers Karim Khan vom Mai als "absurd und schändlich" verurteilt. Er hatte damit deutlich gemacht, ihn nicht vollstrecken zu wollen, sollte Netanjahu nach Ungarn reisen. Orban pflegt enge Beziehungen zum israelischen Regierungschef. Neben Ungarn gelten Tschechien und Österreich in der EU als stärkste Unterstützer Israels, noch vor Deutschland.

    Was ist der Internationale Strafgerichtshof?

    Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist ein unabhängiges, internationales Gericht. Es wurde 1998 mit der Unterzeichnung des Römischen Statuts gegründet und ist seit 2002 in der niederländischen Stadt Den Haag tätig. Insgesamt 124 Staaten haben das Statut unterzeichnet, dazu zählen unter anderem Deutschland und alle anderen EU-Länder, alles südamerikanischen Staaten, Kanada, aber auch die palästinensischen Autonomiegebiete. Die USA, Russland, China, Indien und Israel erkennen den IStGH dagegen nicht an.
    Die wichtigste Aufgabe des IStGH ist es, Verbrechen zu verfolgen, die im Auftrag von Staaten verübt wurden. Dazu gehören Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Der IStGH befasst sich mit den Personen, die solche Verbrechen zu verantworten haben. Darin liegt der Unterschied zum Internationalen Gerichtshof (IGH), der Konflikte zwischen Staaten verhandelt.

    Was bedeutet ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs?

    Der IStGH kann Haftbefehle gegen Personen erlassen, wenn aus Sicht der Richterinnen und Richter ausreichend Beweise für schwere Verbrechen vorliegen. Dann sind die 124 Mitgliedsstaaten verpflichtet, die gesuchten Personen festzunehmen und auszuliefern, wenn diese ihr Hoheitsgebiet betreten. Erzwingen kann der IStGH eine Festnahme durch die Mitgliedsstaaten aber nicht. So reiste etwa der frühere sudanesische Diktator Umar al-Baschir, gegen den seit 2009 ein Haftbefehl existiert, durch mehrere Mitgliedsländer, ohne festgenommen zu werden.

    Warum ist der Internationale Strafgerichtshof überhaupt gegen israelische Politiker aktiv geworden?

    Das Mandat des IStGH gilt nur dort, wo das Strafgericht auch anerkannt wird. Das heißt, der Gerichtshof kann nur dann tätig werden, wenn Verbrechen auf dem Territorium eines Mitgliedslandes stattfinden oder die angeklagten Personen Staatsbürger eines Mitgliedslandes sind. Israel erkennt den IStGH zwar nicht an, aber die palästinensischen Gebiete wurden 2015 als Mitglied aufgenommen. Die Vorverfahrenskammer entschied deshalb im Jahr 2021, dass auch der Gazastreifen und das Westjordanland in den Zuständigkeitsbereich des IStGH fallen.

    Was würde passieren, wenn Netanjahu nach Deutschland kommt?

    Für die Bundesregierung ist es ein echtes Dilemma. Wenn Netanjahu nach Deutschland käme, müsste er hier verhaftet werden – ein schwerer Affront gegen Israel und kaum vorstellbar.
    Wenn Deutschland den Haftbefehl hingegen ignoriert, würde dies das Ansehen des Internationalen Strafgerichtshofs beschädigen. Daher ist es am wahrscheinlichsten, dass Netanjahu erst einmal nicht mehr nach Deutschland kommt.

    Was kann Israel tun?

    Der IStGH arbeitet nach dem sogenannten Prinzip der Komplementarität – das bedeutet, er schreitet nur dann ein, wenn die betroffenen Staaten selbst nicht die Absicht oder die Möglichkeit haben, gerichtlich tätig zu werden.
    Als demokratischer Rechtsstaat könnte Israel selbst Ermittlungen gegen die Regierung wegen möglicher Kriegsverbrechen einleiten. Darauf weist auch Chefankläger Karim Khan in seiner Erklärung hin. Ein solcher Schritt würde das Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof aufhalten oder sogar zu einer Einstellung führen.

    Wie geht es weiter?

    Der Chefankläger wird weiter ermitteln, Beweise sammeln und Zeugen befragen. Anklage kann erst erhoben werden, wenn ein Verdächtiger festgenommen wurde. In einem Vorverfahren müssen dann die Richter prüfen, ob die Beweise für die Anklage ausreichen. Erst dann kann das Hauptverfahren eröffnet werden.

    Gegen wen gibt es derzeit Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs?

    Im März 2023 hat der IStGH Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen. Ihnen wird die Deportation von ukrainischen Kindern als Kriegsverbrechen vorgeworfen. Ein Jahr später folgten auch Haftbefehle gegen zwei Befehlshaber der russischen Armee. Ihnen legt der IStGH gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung und weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last.
    Weitere Haftbefehle bestehen unter anderem gegen den früheren sudanesischen Diktator Umar al-Baschir und einen Sohn des ehemaligen lybischen Machthabers Muammar al-Gaddafi  – al-Baschir soll in Khartum von der Polizei überwacht werden, Gaddafi ist auf freiem Fuß. In Gewahrsam des IStGH befinden sich derzeit unter anderem mehrere ehemalige Anführer von Milizen aus der Republik Zentralafrika, der Region Darfur und Mali.