"Aus meiner Sicht ist die Problemstellung bei den Panama-Papers und bei uns in den digitalen Geschichtswissenschaften eine ähnliche: Wir haben unheimlich viele digitale Quellen. Wir haben unheimlich viel gedrucktes Material und auch sonst Material. Und überall sind Personen, Orte und Ereignisse versteckt, und die zu identifizieren und zu vernetzen. Das ist die Herausforderung."
Manfred Kloiber: ...sagt Dr. Andreas Kuczera vom Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität in Gießen:
In seiner Arbeitsgemeinschaft Graphentechnologie wird derzeit ein elektronisches Gesamtinventar mittelalterlicher Quellen von den Karolingern bis hin zu Maximilian I erstellt. Das hört sich erst einmal ziemlich fachwissenschaftlich und für viele Zeitgenossen auch sehr weit weg an. Aber mein Kollege Peter Welchering findet, die Arbeit an diesen mittelalterlichen Regesten, also den Urkunden- und Quellenverzeichnissen auch für Journalisten und Politiker unserer Tage sehr spannend. Warum denn?
Peter Welchering: Weil Geisteswissenschaftler wie Andreas Kuczera eine Methode entwickeln, die uns im sogenannten Datenjournalismus völlig neue Recherchemöglichkeiten und Einsichten erlaubt. Grundlage dieser Methode ist die Graphentheorie, also ein Teilgebiet der Mathematik. In der Informatik am bekanntesten sind die Petri-Netze, die auch Graphentheorie sind. Die hat Carl Adam Petri in den 60er-Jahren entwickelt. Ohne Petri-Netze wären heutige Anwendungen wie Software für die Unternehmenssteuerung – Beispiel: SAP – überhaupt nicht denkbar.
Und die Historiker in Gießen, die machen jetzt etwas ganz Spannendes. Die nehmen Methoden aus der Graphentheorie, um damit viele tausend Urkunden und andere Quellen zu erschließen. Und plötzlich ergeben sich für die Betrachtung der mittelalterlichen Geschichte ganz neue Ansätze. Man kann plötzlich bestimmte Entscheidungen Maximilan des I. erklären, von denen man bisher nicht wusste, wie die überhaupt zustande gekommen sind.
Aber damit nicht genug. Diese Methode, Graphentechnologie genannt, die lässt sich auch im Journalismus anwenden. Und damit kann ich dann plötzlich, wie bei den Panama Papers, Zusammenhänge erkennen und aufdecken, die vorher gar nicht zu sehen waren, etwa bestimmte Praktiken der Steuerhinterziehung."
Manfred Kloiber: Hört sich spannend, aber auch kompliziert an. Damit das nicht so kompliziert bleibt, schauen wir uns zunächst mal an, wie diese Methode der Graphentechnologie überhaupt funktioniert, und wie mit ihr gearbeitet wird.
Historiker und Journalisten haben eines gemeinsam: Sie suchen in Quellen nach einer guten Geschichte und die müssen sie sauber recherchieren. Andreas Kuczera beschreibt das so:
"Wir versuchen in unseren Quellen, Personen zu identifizieren, Ereignisse, Orte, Entitäten, sagt man dazu. Und die dann zu vernetzen. Letztendlich stehen Sie im Journalismus genau vor der gleichen Frage. Sie haben verschiedene Quellen. Und in den Quellen kommen auch Personen wieder gemeinsam vor. In welchem Zusammenhang stehen die?"
Peter Welchering: Dabei ist es unerheblich, ob es sich bei diesen Personen um Herrscher des Mittelalters, Politiker des kalten Krieges oder Manager von heute handelt. Auch die Quellen, aus denen Historiker und Journalisten ihre Erkenntnisse ziehen, weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf. Andreas Kuczera hat da ein Lieblingsbeispiel:
"Das ist sehr schön gezeigt bei den Panama-Papers, wo Sie zunächst Unterstützungsstrukturen sehen, die gar nicht klar werden. Plötzlich wird das dann über eine Personenkette doch klar, weil die Schwiegermutter mit dem Schwager von der anderen Seite eben doch irgendwelche Firmenverflechtungen hat. Und so etwas ähnliches machen wir auch. Und das wird auch im Journalismus, glaube ich, immer wichtiger.
"Zusammenhänge können mit Hilfe der Graphentechnologie aufgedeckt werden"
Was da mit den Panama Papers gemacht wurde, haben die Historiker schon bei der Arbeit mit anderen Quellen erfolgreich vorgemacht, beispielsweise in einem Projekt der digitalen Geisteswissenschaften.
In dem Projekt wird erarbeitet, wie Akademiker im Mittelalter ausgebildet wurden. Wo kommen sie her? Wo studieren sie? Und was machen sie hinterher? Und ein solches Projekt wäre natürlich für andere Projekte interessant. Denn stellen Sie sich vor, Sie haben einen Quellenbestand, und da kommen zwei Personen vor, die sich gegenseitig unterstützen. Und Ihnen ist nicht ganz klar, warum die sich gegenseitig unterstützen. Und dann kriegen Sie heraus: die haben zusammen studiert oder kommen aus dem gleichen Ort und so weiter. Diese Ergebnisse in einem großen Maßstab zu bekommen, das wäre eben früher nicht möglich gewesen."
Menschen, die zusammen studiert haben, Manager, die Zugriff auf ein und dasselbe Nummernkonto haben, Politiker, die sich an einem bestimmten Ort getroffen haben, um eine Strategie zu verabreden – solche Zusammenhänge können mit Hilfe der Graphentechnologie aufgedeckt werden. Andreas Kuczera beschreibt die einzelnen Arbeitsschritte, die dafür notwendig sind, so:
"Als erster Schritt steht natürlich die Digitalisierung des Materials, wenn das nicht schon geschehen ist. Der zweite Schritt ist dann, in diesem digitalisierten Volltextmaterial die Entitäten zu identifizieren, also Anknüpfungspunkte, die ihn interessieren, Personen, Orte, Ereignisse, was auch immer. Wenn dies alles vorliegt, dann können Sie mit einigen wenigen Schritten das Material auch in eine Graphdatenbank importieren und dann auf diese neue Weise analysieren."
Jede Person, jeder Ort, jedes Ereignis wird in der Graphdatenbank als Knoten dargestellt. Jede Eigenschaft und jedes Handeln dieser Knoten als Kante. Oder anders gesagt, es geht um Kreise und Pfeile. Daraus wird dann ein Netzwerk. Und die Zusammenhänge in diesen Verknüpfungen sind dann für Journalisten und Geistwissenschaftler das eigentlich Spannende. Der Stoff, aus dem packende Geschichten werden.
"Der Rest wäre klassisches journalistisches Handwerk"
Manfred Kloiber: Bevor daraus eine skandalumwitterte Geschichte werden kann, muss zunächst einmal recherchiert werden. Peter Welchering, wie läuft das genau ab, mit einer Graphdatendank zu recherchieren?
Peter Welchering: Nehmen Sie mal den Haushalt einer Kommune. Das sind mehrere dicke Aktenordner. Viele Konten und Gegenkonten, Unterkonten, zusammengefasste Konten. Also tatsächlich ist da der klassische Lokaljournalismus mit so etwas wie einer Wächterfunktion völlig überfordert. Wer investiert schon ein bis zwei Tage, um solch eine Haushaltssatzung auch wirklich zu lesen. Und wenn man sie regelrecht auswerten will, dauert es noch länger. Mit der Graphentechnologie, mit einer Graphdatenbank wird das handhabbar.
Manfred Kloiber: Was wären in solch einem Fall für unseren Lokalreporter die einzelnen Schritte?
Peter Welchering: Es beginnt mit dem Einscannen, also dem Digitalisieren der Haushaltspläne, die ja aus tausenden von Konten und Gegenkonten bestehen. Sind die eingescannt, kann unser Lokalreporter die in die Graphdatenbank importieren. Jedes Konto ist dabei ein Knoten, also ein ganz simples Datenmodell reicht hier aus. Und dann kann der Lokaljournalist in der Graphdatenbank recherchieren, ob erstens Konten und Gegenkonten immer übereinstimmen.
Und zweitens wenn sie nicht übereinstimmen sollten, könnte er leicht recherchieren, welche Verwaltungsmitarbeiter dafür zuständig oder verantwortlich wären. Der Rest wäre klassisches journalistisches Handwerk. Bei der Verwaltung anklingeln, fragen, was da passiert ist, die mit den Erkenntnissen aus der Recherche mit der Graphdatenbank konfrontieren. Und dann die Geschichte schreiben. Es müssen also nicht immer die großen Geschichten wie die Panama Papers sein. Auch im Lokaljournalismus können Reporter ihre Wächterfunktion mit Graphentechnologie viel besser wahrnehmen.
"Diese Methoden der digitalen Geisteswissenschaften lassen sich direkt anwenden"
Manfred Kloiber: Das klingt ja erst mal danach, als würde in solch einem Fall eine logisch-mathematische Methode bei einer journalistischen Recherche angewendet. Wozu brauchen wir da die Historiker?
Peter Welchering: Für die Durchführung der datenjournalistischen Recherche selbst gar nicht. Aber zum Beispiel Historiker haben uns gezeigt, wie solche mathematische Teildisziplin genommen werden kann und dann bestimmte Methoden dieses Bereichs auf - in dem Fall eine geisteswissenschaftliche Fragestellung, man kann auch sagen, auf Recherchen angewandt werden kann. Und eine solche Anwendung auf Recherchen, die können wir von den Historikern übernehmen.
Manfred Kloiber:Dazu brauche ich unter anderem eine Graphdatenbank. Das klingt ja alles sehr aufwändig. Kann jede Redaktion solch einen Aufwand für datenjournalistische Recherchen überhaupt stemmen?
Peter Welchering: Auch da können wir von den Historikern lernen. Graphdatenbanken gibt es teilweise als Open Source. Da bleiben die Investitionen gering. Man muss sich dann ein wenig einarbeiten. Wenn man da das graphentechnologische Fachwissen von zum Beispiel Historikern wie Andreas Kuczera anzapfen kann, dann geht das sehr viel einfacher.
Diese Methoden der digitalen Geisteswissenschaften lassen sich direkt anwenden. Das sind auch alles Recherchemethoden, da stehen wir in der Entwicklung zwar noch am Anfang. Aber das gewinnt an Fahrt gerade, die werden massiv weiterentwickelt. Und sie werden in wenigen Jahren eines der wichtigsten Hilfsmittel für die Recherche sein.