"Liebstes! Ich muss wissen, wie es Dir gegangen ist, ob das Coupé reserviert war, wie Du gefahren, geschlafen hast und wie es Dir geht. Ich zehre noch immer an Allem und mir ist sehr bang nach Dir! Sehe ich Dich heute Abend einen Moment? Viele herzliche Grüße, Dein G."
Diese Zeilen richtet Gustav Mahler Mitte April 1900 aus Wien an die Koloratur-Sopranistin Selma Kurz, eine Jahrhundertstimme, wie sie sich auch posthum in die Musikgeschichte geschrieben hat. Ein Jahr zuvor engagiert sie Mahler an die Wiener Hofoper und scheint unmittelbar nicht nur von ihren stimmlichen Qualitäten fasziniert, sondern auch dem Charme und Zauber ihrer Persönlichkeit erlegen.
Bereits nach kurzer Zeit, noch vor der schicksalshaften Begegnung mit Alma Schindler, entwickelt sich zwischen beiden eine intensive Liebesbeziehung, wohl eine "kräftezehrende Leidenschaft", wie Selmas Tochter später in ihren Erinnerungen festhält.
25 Briefe und Postkarten aus Mahlers Feder sind zwischen 1898 und 1900 an Selma gerichtet, ehe der von Liebesbekundungen gezeichnete Kontakt abbricht. Als heimliche Geliebte des Hofoperndirektors wäre es für Selma Kurz seinerzeit undenkbar gewesen, ihre Karriere voranzutreiben. Vor allem aber scheint sie sich den maßlosen Besitzansprüchen und Launen ihres Liebhabers nicht gewachsen gefühlt zu haben.
Gründlich edierte Briefsammlung
Selma Kurz ist eine der 35 Adressaten, die der seit kurzem vorliegende Band mit bislang weitgehend unbekannten Briefen Mahlers vereint. Dabei fällt der Blick nicht nur auf den leidenschaftlichen Schürzenjäger, sondern auf Aspekte seines beruflichen Lebens zwischen Machthunger und Zielstrebigkeit, sowie auf langjährig begleitende Freundschaften. Franz Willnauer, Mahler–Forscher und bereits mehrfach Herausgeber von Briefen des Dirigenten und Komponisten, stellt hier über 250 bislang unveröffentlichte Schriftstücke aus unterschiedlichsten, noch nicht berücksichtigten Quellen zusammen und gewährt somit erneut Einblicke in verschiedene Facetten zu Vita, Persönlichkeit und Wirken.
Eine gründlich edierte Sammlung, die vielschichtig informiert und vor allem schillernde Einblicke in ein Leben gewährt, das Mahler selbst als "keine schön geordnete Kommode" bezeichnet. Einige Briefe sind schon mal an anderer Stelle aufgetaucht, aber noch nicht im Rahmen einer kritisch kommentierten Ausgabe.
Statt einer chronologischen Ordnung gruppiert Willnauer die einzelnen Briefempfänger aus verschiedenen Perspektiven. Beim Lesen wird man mit intensiven Begegnungen Mahlers auch abseits seiner künstlerischen Verpflichtungen vertraut und taucht ein in die emotionalen Befindlichkeiten und Lebenswelten eines Künstlers, dessen persönliches Netzwerk äußerst facettenreich gespannt war.
Kontakte zu Dehmel und Hauptmann
So pflegt Mahler, wohl initiiert durch Alma, eine persönliche Verbindung zu dem Dichter Richard Dehmel, dessen Lyrik von einem erotischen Ton gezeichnet ist und seinerzeit die literarische Moderne prägt. Während zahlreiche seiner komponierenden Kollegen dessen Texte verschiedentlich vertonen, zeigt sich Mahler dahingehend zunächst nicht sonderlich interessiert, wenn er ihm im Herbst des Jahres 1898 mitteilt:
"Gewiß fühle ich mich aus Ihren Versen wahlverwandt berührt, und ich könnte mir keine höhere Aufgabe denken, als dieselben in meinen Tönen mitdichtend wieder aufleben zu lassen. Aber: wissen Sie denn nicht, daß ich gegenwärtig Theaterdirektor bin? Das ist ein böses Kapitel in meinem Leben, aber es muss zu Ende geführt werden."
Über nachhaltige Begegnungen mit Hermann Bahr oder Hugo von Hofmannsthal und Gerhard Hauptmann ist ebenfalls zu lesen, und in einzelnen Ausschnitten werden dann deutliche Seelenverwandtschaften spürbar.
"Sie müssen nur wissen wie einsam und stumm ich hier dahinleben muss, um zu ermessen, wie sehr es mir in den wenigen Tagen zur lieben Gewohnheit geworden ist, mit Ihnen zusammenzukommen, und zu reden und zu denken über Alles, was sich im Laufe der Jahre in mir aufgehäuft hat. Und das war alles nur ein Anfang, nur ein erster Anlauf, sich über Empfindungs- und Ausdrucksweise zu verständigen."
So schreibt Mahler an Gerhard Hauptmann im März 1904. Nur ganz wenige Antwortschreiben an Mahler sind in dieser Edition mitgeliefert, so im Falle von Gerhard Hauptmann. Fühlbare Vertrautheit wird erkennbar:
"Es kommt mir so unnatürlich vor, zwischen uns eine konventionelle Schranke bestehen zu lassen. (....) Haben wir leider in unserer Jugendzeit keine Berührung miteinander gehabt, warum soll es das reife Alter entgelten, da doch die inneren Wege die gleichen sind."
Detailreiche Zusatzinformationen
Ebenfalls in den Blick genommen wird Mahler als Direktor, der neben Briefen an Franz von Schuch, den Impressario Siegfried Rosenberg oder den Dirigenten Felix Weingartner schreibt, dem er 1897 u.a. seine zwiespältigen Gefühle bezüglich der Ernennung zum Hofoperndirektor anvertraut:
"In den nächsten Tagen dürfte wohl meine definitive Ernennung erfolgen, und damit hat mein Leben für lange hinaus eine, mir höchst unerwünschte Gestaltung bekommen."
Gustav Mahler, der insgesamt im Laufe seines Lebens etwa 5000 Briefe geschrieben hat, ist immer – der Titel des Bandes verrät es – in Eile, was aus fast allen Briefen in jeder Zeile ablesbar ist. Dennoch lassen sich Ablehnung und Wertschätzung aus allen Textquellen deutlich ableiten.
Was diese Briefedition gut lesbar macht, sind die detailreichen Informationen zu den jeweiligen Adressaten, die der Herausgeber voranstellt. So erschließt sich schnell der entsprechende Kontext, vor dessen Kulisse sich die Briefe leichter einordnen lassen.
Grundlegende Lücken zur Biographie Mahlers im Zeitraum zwischen 1876 und 1910 werden hier nicht geschlossen, wohl aber erneut Facetten seiner Persönlichkeit als Freund, Liebhaber und künstlerisch agierender Mensch erhellt und ergänzt.