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Neu im Kino
Philippe Claudels Film "Bevor der Winter kommt"

"Bevor der Winter kommt" heißt der neue Film des Franzosen Philippe Claudel. Der Spezialist für das sensible Gefühlskino erzählt die Geschichte einer Midlifekrise und davon, wie sich ein Paar in der Falle des bourgeoisen Eheglücks eingerichtet hat. Die Geheimnisse der Liebe und der Leidenschaft dekliniert er mit vornehmer Zurückhaltung bis zum bitteren Ende durch.

Von Josef Schnelle |
    Leila Bekhti (Mitte) als die attraktive, geheimnisvolle Kellnerin Lou in einer undatierten Szene des Films "Bevor der Winter kommt".
    Leila Bekhti (Mitte) als die attraktive, geheimnisvolle Kellnerin Lou in einer undatierten Szene des Films "Bevor der Winter kommt". (picture alliance / dpa / Fabrizio Maltese)
    "Wissen Sie, ich kenne Sie. Sie haben einmal meinen Blinddarm operiert." - "Nein, nein, mein Spezialgebiet ist die Neurochirurgie." - "Doch, doch, das waren Sie." - "Ich hab schon mal Kollegen vertreten, aber das ist lange her." - "Ja, da war ich ganz klein." - "Tut mir leid, ich erinnere mich nicht." - "Sie waren sehr freundlich. Wenn man Angst hat, erinnert man sich." - "Gut, dann schönen Tag noch." - "Kommen Sie wieder?"
    So passiert es. Der erfolgreiche Gehirnchirurg wird von einer schönen jungen Studentin angesprochen. In einer Bar, in der sie arbeitet. Älterer Mann verliebt sich in eine viel jüngere Frau, und sein Leben wird durcheinander gewirbelt. So würde das bei fast allen Filmemachern weitergehen. Bei Philippe Claudel bekommt die Story jedoch noch ein paar ganz besondere Wendungen. Der Spezialist für das sensible Gefühlskino im französischen Film hat schon mit "So viele Jahre liebe ich dich" mit Kirsten Scott Thomas als Kindsmörderin, die aus dem Gefängnis kommt, bewiesen, dass seine Geschichten ein besonders hintergründiges Kaliber haben. In unserem Nachbarland wird er schon als Nachfolger von Claude Sautet gehandelt, der einige der schönsten Liebesfilme des Autorenfilms abgeliefert hat. Auch Sautets wichtigsten Hauptdarsteller Daniel Auteuil hat Claudel in seinem neuen Film übernommen. Jenen sanften Verführer mit den warmen Augen, dem ganz sicher jede junge Frau auf den Leim gehen würde. Erst nach der Begegnung mit der Studentin merkt der von ihm dargestellte Paul, dass er in seiner Ehe Routine mit Glück verwechselt hat.
    "Lucie, ich hab einen anstrengenden Tag morgen." - "Deine Tage sind immer anstrengend und voller Termine. Meine Tage sind lang, sehr lang und voller Leere. Wir sind seit Ewigkeiten verheiratet, wenn ich die Momente, die wir zusammen verbracht haben, aneinanderreihe. Wie viel Zeit ergibt das tatsächlich?" - "Lucie!"
    In der Falle des bourgeoisen Eheglücks
    In der Falle des bourgeoisen Eheglücks haben sich die beiden äußerst komfortabel eingerichtet. Auch das gewisse Etwas der Streitkultur gehört dazu. Die Frau klagt. Der Mann erträgt es. Lucie wird allerdings ebenfalls umschwärmt vom gemeinsamen Freund des Paares, der nur darauf zu warten scheint, dass die schwelende Krise ins offene Unglück umschlägt. Bis dahin demütigt er Paul beim Tennis und signalisiert Lucie, dass er im Falle eines Falles jederzeit bereitstünde. Das neue Glück von Paul kündigt sich an mit Blumensträußen, mit denen er von zunächst unbekannter Seite traktiert wird.
    "Ein Blumenstrauß?" - "Ein Kurier hat ihn für Sie abgegeben. Von einer Patientin. Ein Dankeschön." - "Nehmen Sie ihn!" - "Und Ihre Frau'" - "Nein, auf keinen Fall."
    Paul weiß, dass seine Frau Lucie Schnittblumen verabscheut, und er will auch nicht, dass sie Verdacht schöpft. Unterdessen gerät er auch beruflich in eine Krise. Mitten in einer schwierigen Operation rutscht ihm der Faden aus der Hand. Sein Chef schlägt ihm eine Auszeit vor.
    "Du bist nicht der erste, dem das passiert. Jedenfalls kannst Du stolz auf Cassar sein. So unvermittelt für Dich einzuspringen. Du hast sie gut ausgebildet. Du nimmst eine kleine Auszeit." - "Nein." - "Ich spreche hier als Direktor, nicht als Freund. Du setzt aus. Ein, zwei Monate, und kommst wieder zu Kräften. In einer Woche kommt Gaberion für ein halbes Jahr zu uns. Das passt doch perfekt. Du schläfst Dich aus."
    Fürchterliches Erwachen
    Nun versucht Paul erst Recht, mit dem geheimnisvollen jungen Mädchen in näheren Kontakt zu kommen. In der Gegenwart von Lou taut er regelrecht auf und probt in langen Spaziergängen ein neues Leben. Doch sein Erwachen aus diesem schönen Traum wird fürchterlich werden. In den Hintergrund dieser Geschichte einer Midlifekrise hat Claudel nämlich eine Pointe eingewoben, die von dem Krimispezialisten Claude Chabrol stammen könnte. Sie enthüllt sich erst ganz zum Schluss, aber im Rückblick wird dann klar, dass daher die ganze tieftraurige Spannung des Films rührte. Dieser schöne kleine Film wirkt vor allem durch seine Stimmung, an der Hauptdarsteller Daniel Auteuil den größten Anteil hat. Die Geheimnisse der Liebe und der Leidenschaft dekliniert er mit vornehmer Zurückhaltung bis zum bitteren Ende durch. Aber auch Pauls Ehe ist noch nicht an ihr Ende gekommen.
    "Willst Du mit mir sprechen?" - "Sprechen? Worüber?"