Interessant ist ein Vergleich der Laufzeiten der beiden Aufnahmen. Hier stellt man fest, dass bei der jüngsten Einspielung die einzelnen Teile fast alle immer ein wenig länger dauern, Harnoncourt heute also im Vergleich zu vor 22 Jahren ein etwas gemäßigteres Tempo vorgibt. Das macht für den einleitenden Introitus immerhin einen Unterschied von 40 Sekunden aus: neue Einspielung 4'57 gegenüber der alten von 4'16. Auch von der Gesamteinspielung aller Bach-Kantaten, die Harnoncourt in den 70er Jahren zusammen mit Gustav Leonhardt vorlegte, kannte man seine Vorliebe für teilweise extrem schnelle Tempi, wobei er allerdings auch immer in der Lage war, bei langsamen Stücken mit größter Spiel-Intensität die Spannung aufrecht zu erhalten. Aber auch das Klangbild der neuen Aufnahme ist völlig anders. Das liegt zum einen an einer moderneren, direkteren und damit die Durchhörbarkeit fördernden Aufnahmetechnik, zum anderen ist es aber vor allem die völlig andere Klangfarbe des Chores. Harnoncourt hatte bei seiner Bach-Kantaten-Reihe auf die Klarheit und Gradlinigkeit von Knabenstimmen gesetzt, insofern ist man überrascht, mit wie viel Vibrato und opernhaftem Gestus in der 82er Aufnahme der Wiener Staatsopernchor zur Sache geht. Im Laufe der Zeit hatte sich Harnoncourt zwar auch bei Bach zunehmend von der zunächst fast doktrinär vertretenen Ansicht entfernt, nur Knabenstimmen brächten das richtige Timbre. Auch hier hat er nach und nach die größere Ausdruckstiefe und sicher auch die technischen und musikalischen Vorteile gut geschulter Frauenstimmen schätzen gelernt. Trotzdem war ich in der Rückschau überrascht, dass er 1982 dem Opernchor nicht weniger Vibrato und mehr Natürlichkeit in der Textartikulation abverlangte...
* Musikbeispiel: Wolfgang Amadeus Mozart - 'Introitus' (Ausschnitt) aus: "Requiem"
Bei aller Kraft und Wucht, die diese Opernstimmen bei dramatischen Sätzen wie dem "Dies irae" mit seiner Schilderung der Schrecken des Jüngsten Gerichts darzustellen in der Lage sind, bevorzuge ich insgesamt gesehen doch die Neuaufnahme mit Ortners Arnold Schönberg Chor. Dessen ungekünstelte Singweise passt für mein Empfinden besser zum Stoff. Allzu opernhaftes Auftrumpfen im Angesicht des Todes scheint mir deplaziert, auch wenn das Mozart-Requiem natürlich keine Kirchenmusik im engeren Sinne ist. Hinzu kommt eine sehr viel vielfältigere Ausdifferenzierung in Tempo, Lautstärkegraden und Artikulation, immer in direkter Orientierung am Textinhalt. Es ist geradezu verblüffend, mit welcher Liebe zum Detail der Chor musikalisch die Inhalte ausdeutet und wie quasi selbstverständlich-natürlich dabei der Gesamtfluss der Musik bleibt.
* Musikbeispiel: Wolfgang Amadeus Mozart - 'Lacrimosa' aus: "Requiem"
Das Solistenquartett der Neuaufnahme singt insgesamt auf dem gleichen hohen Niveau wie das der älteren Aufnahme. Es ist mit insgesamt weniger Hall aufgenommen, was die Textverständlichkeit fördert. Sängerinnen wie Christine Schäfer und ihre geradezu ideale Eignung für einen Part wie diesen muss man nicht mehr besonders herausstellen; erwähnenswert ist aber der homogene Ensemble-Klang der Solisten, und der ist hier besonders wichtig, denn die meisten Aufgaben übernehmen die Sänger nicht einzeln, sondern zu viert.
* Musikbeispiel: Wolfgang Amadeus Mozart - 'Recordare' (Ausschnitt) aus: "Requiem"
Das Booklet zur Neuaufnahme von Mozarts Requiem unter Leitung von Nikolaus Harnoncourt bietet zum Glück keine weiteren Anekdoten zur geheimnisumwitterten Entstehungsgeschichte dieses Werkes, sondern einen sehr genauen Beitrag von Benjamin-Gunnar Cohrs, was nach neuestem Forschungsstand bei diesem "Requiem-Fragment" eigentlich aus Mozarts Feder stammt und was von wem anschließend ergänzt, hinzugefügt, weitergeschrieben oder aus welchen Quellen "rekonstruiert" wurde.
Und in einem kurzen Einführungstext sucht Harnoncourt eine Antwort auf die Frage, warum so vielen Menschen während der letzten etwas mehr als 200 Jahre gerade dieses Requiem so unter die Haut geht. Mozarts Musik und seine Biografie seien sonst immer auffallend unabhängig von einander: Der große Künstler schaffe traurige oder heitere Werke, wie immer er sich auch persönlich fühlen mag. Das Requiem scheine davon die einzige Ausnahme zu sein, der Ich-Bezug in den furchterregenden, angstmachenden Teilen der "Sequenz" unüberhörbar. Und diese Identifikation spüre jeder Hörer, sie könne der letzte Grund sein für die unglaubliche Wirkung dieses Werkes.
* Musikbeispiel: Wolfgang Amadeus Mozart - 'Domine Jesu' (Ausschnitt) aus: "Requiem"
Wolfgang Amadeus Mozart: "Requiem"
Solisten: Christine Schäfer, Sopran
Bernarda Fink, Alt
Kurt Streit, Tenor
Gerald Finley, Bass
Chor: Arnold Schönberg Chor
Orchester: Concentus musicus Wien
Leitung: Nikolaus Harnoncourt
Label: Deutsche Harmonia Mundi/BMG
Labelcode: LC 00761
Bestellnr.: 82876 58705 2